Als die Piloten des Jagdfliegergeschwaders 8 im brandenburgischen Marxwalde, dem heutigen Neuhardenberg, am Morgen nach dem Angriff der Araber auf Israel das „Neue Deutschland“ aufschlugen, ahnten sie nicht, dass dieser Krieg im Nahen Osten sehr bald auch sie erreichen würde. Es sollte eine der geheimsten Operationen der Nationalen Volksarmee außerhalb der DDR werden. Kurz darauf fanden sich die NVA-Flieger in Syrien wieder, als Waffenbrüder gegen den jüdischen Klassenfeind.
In geheimer Mission: Die DDR-NVA gegen den „jüdischen Klassenfeind“ Vor 50 Jahren: Wie die Nationale Volksarmee im Yom-Kippur-Krieg Syrien gegen Israel unterstützte.
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Vor 50 Jahren: Wie die Nationale Volksarmee im Yom-Kippur-Krieg Syrien mit Kampfflugzeugen aus Marxwalde gegen Israel unterstützte. Eine Rekonstruktion von ARD-Journalist Werner Sonne, der damals aus Israel berichtete.
Wie dieser Krieg einzuordnen war, der am 6. Oktober 1973, dem Yom-Kippur-Feiertag, begann, das machte die DDR-Führung nicht nur ihren Soldaten, sondern der gesamten Bevölkerung sofort eindeutig klar. Sie war gut vorbereitet. Während der Westen, dessen Geheimdienste ebenso wie der israelische Mossad die arabischen Kriegsvorbereitungen nicht ernst nahmen, überrascht wurde, war man in Ost-Berlin über den Tag des Angriffs auf Israel vorab informiert worden.
Die Redaktionen wurden entsprechend angewiesen, gegen die offensichtlichen Fakten, die völlig auf den Kopf gestellt wurden. Als Syrien und Ägypten über die Israelis herfielen, las man das im SED-Organ „Neues Deutschland“ so: „Schwerer Angriff Israels auf Ägypten, Syrien und Libanon“. Und weiter: „Um 13.30 Uhr Ortszeit hatten israelische Truppen am Sueskanal, am Golf von Sues und gleichzeitig an der gesamten Feuereinstellungslinie zu Syrien die Kampfhandlungen begonnen.“
Tatsächlich rückten die ägyptischen und syrischen Truppen in den ersten Tagen weit vor, der Staat der Juden kämpfte um sein Überleben. Verteidigungsminister Moshe Dayan, der Held des erfolgreichen Sechs-Tage-Krieges 1967, geriet in Panik und sprach düster von der Gefahr der dritten Zerstörung des Tempels. In einer geheimen Sitzung brachte er den Einsatz der israelischen Atomwaffen ins Gespräch, doch Premierministerin Golda Meir lehnte ab. Es waren Tage des Chaos und der tiefen Verunsicherung, die siegesgewohnte israelische Bevölkerung ins Mark getroffen.
Hilferuf des syrischen Diktators nach Ost-Berlin
Israels Stärke liegt in seinem Reservistensystem, jahrzehntelang müssen die Bürger, bis auf die streng Religiösen, regelmäßig zum Militär und sind jederzeit abrufbar. Das geschah auch damals, und innerhalb weniger Tage wendete sich das Kriegsglück. Die israelischen Truppen gingen zum Gegenangriff über und stießen schnell voran, vor allem auf den Golanhöhen. Die Luftwaffe bombardierte auch Damaskus. Wir erlebten den zunehmend verzweifelten Abwehrkampf der Syrer auf den Golanhöhen. Eine syrische MiG-17 kam im Tiefflug angerast und warf ihre Bomben auf die israelischen Stellungen gleich neben uns. Wir blieben unverletzt, anders als der britische Korrespondent Nicholas Tomalin, der in der Nähe in einem Auto von einer syrischen Rakete tödlich getroffen wurde. Anfangs von dem arabischen Angriff am Yom-Kippur-Feiertag völlig überrumpelt, standen die Israelis an diesem 17. Oktober 1973 auf den Golanhöhen bereits rund 35 Kilometer vor Damaskus.
Syriens damaliger Machthaber Hafiz al-Assad fürchtete um die Existenz seines Regimes. Er schickte einen dringlichen Hilferuf nach Ost-Berlin, und Erich Honecker reagierte. Er befahl dem DDR-Verteidigungsminister Heinz Hoffmann zu prüfen, wie man helfen könne. Die Wahl fiel auf die NVA-Flieger im nördlichen Brandenburg.
Am 18. Oktober startete auf dem Fliegerhorst Marxwalde die erste sowjetische An-12-Transportmaschine. Mit dieser Luftbrücke wurden insgesamt zwölf MiG-21 M und ihre Besatzungen verlegt. „Wir wussten beim Start in den Transportern nicht, wohin es ging“, erinnert sich der damalige Pilot Hauptmann Peter Ziegert. Alles war ganz anders als sonst, die Tarnung total.
„Wir mussten rechts raustreten und Abmarsch zum Bus und dann auf den Flughafen. Dort wurde befohlen: umziehen, alles in einen großen Seesack und neu einkleiden mit im Prinzip Zivilklamotten.“ Zur Erklärung gab es für sie nur so viel: „In Marxwalde verabschiedete uns der damalige Chef der LSK/LV der DDR, Generalleutnant Reinhold, mit den Worten: Genossen, Sie kommen in ein arabisches Land und wenn Sie auf den Gegner treffen, dann zeigen Sie Ihren Ausbildungsstand.“
Der Gegner, das wussten die Piloten und Techniker offenbar noch nicht, das waren die Israelis. 28 Jahre nach Ende des Holocaust, so die Botschaft des Generals, sollten deutsche Soldaten gegen den Staat der Juden antreten.
Erst in Ungarn erfuhren die NVA-Soldaten ihr Ziel: Aleppo
Zuerst kam es zu einer Zwischenlandung in Ungarn, dann erst erfuhren die NVA-Soldaten, wohin es ging: Nach Aleppo in Syrien. Bei diesem Zwischenstopp wurden die DDR-Flieger vor die Wahl gestellt, ob sie tatsächlich dorthin wollten. Eine Interflug-Maschine stand für den Rückflug bereit.
„Niemand ist zurückgeflogen. Alle standen hinter dem Befehl“, berichtet Peter Ziegert. „Armeeangehörige unterstehen dem Befehl, und wenn es ein geheimer Einsatz war, war uns klar, hier an dieser Stelle muss ich einfach meinem Vorgesetzten vertrauen. So waren wir auch erzogen.“
Und zur Erziehung gehörte damals auch ein klares Weltbild, das die DDR-Führung ihrer Bevölkerung und auch den Soldaten mitten in diesem Kalten Krieg vermittelte: Die Kriegshetzer, das war der Westen, dazu gehörte auch Israel, die Staaten des Warschauer Paktes unter der Führung der friedliebenden Sowjetunion waren die Friedensbewahrer, auch für die arabischen Bruderstaaten.
„Nie wieder Krieg, ich habe den Krieg noch teilweise als Kind mitbekommen und Schuld am Krieg sind die Weltherrschaftspläne des Imperialismus unter der Führung der USA“, beschreibt Ziegert den damaligen Zeitgeist. Das bestätigt auch Thomas Seifert. Er kam 1982 als junger Technikoffizier zur NVA-Luftwaffe, wurde nach der Wende von der Bundeswehr übernommen und ist heute Brigadegeneral.
Die DDR sah Israel und USA als Gefahr für den Weltfrieden
„Wie ich es erlebte, das war keine Position gegen Israel, es war mehr eine Position für Palästina. Die Unterdrückten, wenn man so will. Und es war letzten Endes auch dem geschuldet, dass man das auch als Teil des Systemkrieges sah, als Teil des Ost-West-Konflikts“, beschreibt General Seifert die damalige DDR-Sicht „Die Israelis, mit Unterstützung der Amerikaner, auch der Bundesrepublik, standen auf der einen Seite, die Staaten des Warschauer Paktes auf der Seite der Palästinenser und auch der arabischen Staaten, die wie Syrien und Ägypten so eine Art Sozialismus anstrebten. Wir waren geprägt von dem Lagerdenken. Wir sahen uns eher als die Verbündeten, die eine andere Gesellschaft wollten.“
Diese Haltung verfolgte die DDR-Führung konsequent und ohne Rücksicht auf die durch die Ermordung von sechs Millionen Juden belastete deutsche Vergangenheit. Anders als die Bundesrepublik lehnte sie jegliche Wiedergutmachung ab, zynisch schrieb das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ zur Begründung, diese bundesdeutsche Wiedergutmachung sei ein abgekartetes Spiel „zwischen westdeutschen und israelischen Großkapitalisten“, diene nur dem Brückenkopf der USA im Nahen Osten, also lehne die DDR ab, zur „Verwirklichung dieses den Weltfrieden gefährdenden Ziels beizutragen“.
So erging der Befehl an das JG 8 in Marxwalde.
Die zwölf MiG-21 M Jagdflugzeuge wurden zerlegt, alle deutschen Schriftzeichen wurden beseitigt. Die Geheimhaltung war absolut. Zwischen dem 18. und 21. Oktober startete die Luftbrücke, deren eigentliches Ziel die NVA-Flieger eben erst auf dem Weg nach Syrien erfuhren.
Dort wurden die MiG-21 wieder zusammengebaut und mit syrischen Hoheitsabzeichen versehen. „Fast jeden Tag wurde eine Maschine fertig und wurde durch uns eingeflogen“, erinnert sich Ex-Pilot Ziegert. Die NVA-Piloten unternahmen diese Testflüge, um die Einsatzbereitschaft der Maschinen zu prüfen. Noch war der Krieg nicht vorbei, aber es war klar, dass Israel den Angriff nicht nur abgewehrt, sondern weit über die ursprünglichen Positionen vorgerückt war, im Süden hatten ihre Truppen den Suezkanal überquert und bedrohten nun Kairo, im Norden standen sie bereit, weiter auf Damaskus vorzustoßen.
Die zwölf DDR-Jagdflieger aus Marxwalde blieben als Geschenk in Syrien
Längst liefen, auch im Zusammenspiel zwischen Moskau und Washington, Verhandlungen über einen Waffenstillstand. Der erste, am 22. Oktober, kam nicht zustande, weil die Israelis ihre Kriegsziele noch durchsetzen wollten, dann jedoch, drei Tage später, am 25. Oktober, schwiegen die Waffen, der Yom-Kippur-Krieg war vorbei. Und damit blieb auch der NVA-Einsatz für die beteiligten Soldaten ohne weitere Folgen, vor allem eine direkte Konfrontation mit der israelischen Luftwaffe etwa bei den Testflügen gab es nicht.
War damals ebenfalls ein MiG-Kampfpilot. Der spätere Kosmonaut und erste Deutsche im All, Sigmund Jähn, hier aufgenommen am 28.8.1978 bei einem Übungsflug. (© picture-alliance/akg)
War damals ebenfalls ein MiG-Kampfpilot. Der spätere Kosmonaut und erste Deutsche im All, Sigmund Jähn, hier aufgenommen am 28.8.1978 bei einem Übungsflug. (© picture-alliance/akg)
„Wir wurden nicht zu Kampfhandlungen zugelassen beziehungsweise eingesetzt“, berichtet Ex-Pilot Peter Ziegert. „Der kommandierende General dort in Aleppo war ein sowjetischer General vom vereinten Oberkommando der Warschauer Staaten. Nach meinen nicht zertifizierten Infos von damals hatte die syrische Regierung einen Antrag an das Außenministerium gestellt, dass wir nach Eintritt des Waffenstillstandes in Aleppo bleiben sollten, um die syrische Armee zu unterstützen. Das wurde damals Erich Honecker vorgelegt, er hat befohlen, so schnell wie möglich zurück.“ Die Flugzeuge blieben jedoch in Syrien. „Die MiG-21 war das Solidaritätsgeschenk der DDR an die syrische Armee“, bewertet Ziegert diesen Transfer der NVA-Maschinen.
NVA-Führung lobte Soldaten für ihre „klare Klassenhaltung“
Zum Einsatz gegen Israel während des Krieges kamen also angesichts des schnellen Endes weder die Soldaten noch die Flugzeuge. Auch uns Korrespondenten, die wir die syrische Luftwaffe noch im Angriff unmittelbar erlebt hatten, blieb es so erspart, von aus Ostdeutschland gelieferten Maschinen beschossen zu werden.
Nach ihrer Rückkehr nach Marxwalde bescheinigte die NVA-Führung ihren Soldaten dann aber eine klare Haltung: „Besonders hervorzuheben war eine feste Position zum proletarischen Internationalismus und eine klare Klassenhaltung zur Aggression Israels im Oktober 1973 im Nahen Osten.“ Im Flugplatzmuseum in Cottbus hängt die DDR-Gedenktafel für diesen geheimen Einsatz mit den Namen der beteiligten NVA-Soldaten. Insgesamt lieferte die DDR an Syrien 62 Kampfpanzer des Typ T-54, 300 Panzerabwehrraketen RPG-7, 74.500 Granaten und 30.000 Panzerminen.
Palästinensische Terroristen übten in Briesen und Massow
Und es blieb nach dem Krieg keineswegs dabei. Die DDR war der Schutzengel der Palästinenser in ihrem Kampf zur Vernichtung des Staates Israel. Besonders entwickelt waren die Beziehungen zu dem Top-Terroristen und schärfsten Israel-Hasser, der als Abu Nidal rund 90 Anschläge mit etwa 900 Toten organisierte. Im internationalen Handelszentrum an der Friedrichstraße in Ost-Berlin eröffnete er ein Büro und betrieb von dort in Kooperation mit der DDR-eigenen IMES-Gmbh einen schwunghaften Waffenhandel mit den arabischen Bruderstaaten.
Und die Staatssicherheit war der lange Arm der DDR auch bei der Unterstützung der palästinensischen Terroristen. So übten die Mitglieder der Abu-Nidal-Gruppe im brandenburgischen Briesen, dem sogenannten Objekt 74, und im größten Stasi-Ausbildungszentrum in Massow nahe Teupitz (Landkreis Dahme-Spreewald) waren die Waffenbrüder aus dem Nahen Osten willkommene Dauergäste. Auch als Dauerkunden für heimliche Waffendeals - sogar noch im Revolutionsherbst 1989:
Ausschnitt aus einem (damals streng geheimen) Blitztelegramm aus der syrischen Hauptstadt Damaskus an den SED-Devisenbeschaffer und Stasi-Oberst Alexander Schalck-Golodkowski vom 28.9.1989. Angefragt wurde u.a. die Bereitschaft für eine Waffenlieferung mit außergewöhnlichem Lieferweg: "airport budapest über österr firma cbs - cooperation an nordkorea". (© BArch, MfS, AG BKK 63, Bl. 96)
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Madlen Schäfer,
Interner Link: Verdeckte Waffendeals der DDR mit Syrien. Mit Dokumenten. Deutschland Archiv vom 14.9.2023.
Zitierweise: Werner Sonne, „In geheimer Mission: Die DDR-NVA gegen den „jüdischen Klassenfeind“, in: Deutschland Archiv, 28.10.2023, Link: www.bpb.de/542198. Erstveröffentlichung im Berliner Tagesspiegel vom 18. Oktober 2023, Online-Link https://www.tagesspiegel.de/potsdam/brandenburg/streng-geheime-luftbrucke-aus-brandenburg-einsatz-gegen-den-judischen-klassenfeind-10643233.html. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autor:innen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. (hk)
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Werner Sonne war 1973 im Yom-Kippur-Krieg in Israel als WDR/ARD-Hörfunkreporter dabei. Er arbeitete als Korrespondent für die ARD unter anderem in Bonn, Berlin, Washington und Warschau, zuletzt als Studioleiter für das ARD-Morgenmagazin im Berliner Hauptstadtstudio. Er ist der Autor von Sachbüchern zur Außen- und Sicherheitspolitik sowie Geschichtsromanen, unter anderem „Staatsräson? Wie Deutschland für Israels Sicherheit haftet“.
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