Es ist ein äußerst lehrreicher Brocken, den der russische Philosoph und Publizist Nikolai Epplée jetzt in einer deutschen Fassung herausgegeben hat: „Die unbequeme Vergangenheit – Vom Umgang mit Staatsverbrechen in Russland und anderswo.“ Darin versucht er einerseits, nach allen schrecklichen Prägungen in der Vergangenheit, optimistisch gewaltfreie Wege aufzuzeigen, die ein zukünftiges Russland in Richtung Rechtsstaatlichkeit und Demokratisierung gehen könnte (oder hätte gehen können); doch zugleich ist er ernüchtert, wie gefangen das Land in seiner totalitären Vergangenheit bleibt.
Fast möchte man nach der Lektüre der rund 600 Seiten meinen, Epplée habe mit den besten Absichten und großem Fleiß ein unglaubliches Material angehäuft, das für viele andere Zwecke wertvoll sein kann – dass er sich mit seinen Hoffnungen auch nur für die nähere Zukunft jedoch total verhebt. Spätestens mit ihrem Angriffskrieg auf die Ukraine hat Russlands Regierung dies deutlich unterstrichen.
Aber warum bleibt Russland seiner Vergangenheit so verhaftet? Ohne einen Blick in die Tiefen dieser Vergangenheit kommt Epplée nicht aus.
Frühe Wurzeln der Despotie
Das russische Großreich, welches sich aus mehr als zweihundertjähriger Umklammerung durch die Reiterarmeen der mongolischen Horde löste, erklomm um das Jahr 1530 mit Iwan IV (Iwan Grosny) eine neue Stufe. Als Großfürst von Moskau hatte er sich gegen die Konkurrenz anderer Fürstentümer, vor allem des starken Nowgorod, durchgesetzt. Mit ihm bestieg ein Herrscher den Thron, der sich in ostkirchlich-orthodoxer, byzantinischer Tradition zum Gottkaiser, zur Verkörperung weltlicher und geistlicher Macht in einer Person erklärte. Entscheidend wurde der imperiale Anspruch einer Sammlung „russischer Erde“, von Territorien, die sich auf alle näheren und ferneren Nachbarn erstreckte, große Teile des slawischen Raums umfasste und immer weiter nach Westen ausgriff. Im Süden war Konstantinopel (Byzanz) das Ziel, Russland und die Orthodoxie sahen sich als Verkörperung des dritten Rom.
Diesem Anspruch folgten alle seine Nachfolger, ob sie sich als Bewahrer oder Modernisierer verstanden: Peter der Große, Katharina die Große und die ihnen folgenden Herrscher des zaristischen Imperiums. Der letzte Zar Nikolai II. musste 1917 den Zerfall des Imperiums erleben; er wurde im Juli 1918 mit seiner Familie von den Bolschewiki ermordet. Zum Scheitern verurteilt war der Versuch von Republikanern und Demokraten, in Russland eine konstitutionelle Monarchie oder Republik zu errichten. Der Machtwille von Lenins Bolschewiki setzte sich durch. Auf das weiße, zaristische Imperium folgte ein rotes Imperium, gipfelnd im Terrorregime Stalins und mit bleibenden Folgen.
Dem despotischen, imperialen Russland stand immer wieder das Streben nach einer anderen Form des Staates gegenüber. Toleranz, Milde und Gerechtigkeit sollten herrschen, Aufklärung und Bildung die Verwandlung von Untertanen in freie Bürger*innen befördern. Die russische Geschichte ist voll von Häretikern, Reformern, Aufständischen und Dissidenten, die um dieses andere Russland kämpften, dafür litten, davon träumten. Dabei wurden die aufgeklärten Monarchien, Republiken und späteren Demokratien im Westen Europas immer wieder zum Vorbild.
Ohne die Wurzeln der Despotie, des Staatsterrors und die damit verbundenen ungeheuren Verbrechen zu beseitigen, musste jeder Versuch einer Umwandlung in neuen Terror, neue Unterdrückung führen. Die Situation in der Sowjetunion nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist das beste Beispiel dafür. Phasen der Lockerung des Terrors nach dem Tode Stalins oder die Perestroika mit Gorbatschow erleichterten die Bemühungen um Aufklärung. Mitunter wurde die Verurteilung der schlimmsten Terrorexzesse aber auch zum Instrument der Machtsicherung von Nachfolgern, so etwa die Entstalinisierung unter Nikita Chruschtschow und die damit verbundene sogenannte Tauwetterperiode.
Chruschtschow machte in seiner Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 Teile der Wahrheit sichtbar und löste bereits damit ein Erdbeben aus. Von seiner eigenen Mitbeteiligung und Mitverantwortung am Terrorsystem war keine Rede. Auch die Rehabilitierungen blieben halbherzig. Teile des Gulag-Systems überdauerten. Von unten, aus dem Boden der traumatisierten und gelähmten Gesellschaft, kamen Signale, die weiter drängten.
Diesen Signalen und den mit ihnen verbundenen gesellschaftlichen Initiativen folgt der Autor Epplée als Historiker und engagierter Publizist. Von 2013 bis 2017 war Epplée Redakteur bei Wedomosti, einer der letzten unabhängigen Tageszeitungen in Russland. Heute arbeitet er als freier Übersetzer und Publizist. Sein zwischen 2014 und 2020 entstandenes Buch „An inconvenient past: the memory of state crimes in Russia and other countries“ zum Umgang mit ebendieser unbequemen Vergangenheit wurde schnell zu einem internationalen Bestseller.
Dabei trifft der Titel die aktuelle Situation Russlands nur sehr unvollkommen. Mit einer unbequemen Vergangenheit sind zahlreiche Länder konfrontiert, mit Verbrechen, an denen der eigene Staat schuld ist, und Versuchen, sich ihr zu stellen. Russlands Bürde ist hier unvergleichlich schwerer. Das Ziel, zu Wahrheit und Versöhnung zu gelangen, stellt Epplée vor eine unlösbare Aufgabe. Die im Massenmord mündende Terrorenergie des gegenwärtigen russischen Systems, die sich nach Tschetschenien nun auf die Ukraine richtet und weitere Nachbarn ins Visier nimmt, hat die staatsterroristische Vergangenheit in ungeheuerlicher Weise überholt. Jeden Umgang mit der ferneren Vergangenheit, der sich ihr in wirklicher Weise stellt, rückt er in unabsehbare Ferne.
Epplée ist von der russischen Realität umgeben und muss dies wissen. Dennoch entwirft er Szenarien, die eigentlich nur für eine aufklärungsbereite, selbstkritische, mündige Gesellschaft taugen. Darin besteht sein Dilemma. Denn diese Gesellschaft ist nicht in Sicht.
Anamnese
In einem ersten Teil, Anamnese, schreitet Epplée die historische Entwicklung ab, angefangen bei der Phase der Formierung des sowjetischen Terrors und des nachfolgenden Umgangs damit. Es sind Versuche, sich von dieser Erblast zu befreien, aber auch immer wieder Reinkarnationen davon. Zu ihnen gehört der von Wladimir Putin und seinen Geschichtspolitikern beförderte Eklektizismus: „Sie verbinden Elemente der sowjetischen Ideologie mit Versatzstücken des Monarchismus, Orthodoxie mit Faschismus, Kommunismus mit Kapitalismus, Moderne mit Postmoderne. In den allgemeinen ‚weltanschaulichen Rahmen‘ werden Phänomene sehr unterschiedlicher Herkunft untergebracht und zusammen mit Angst und Traumata nach Bedarf zusammengesetzt“ (Epplée S. 40).
Den gesteuerten Versuchen „von oben“ setzt Epplée immer wieder die Bemühungen „von unten“ entgegen, auf denen seine Hoffnung ruht. So der Beginn der sowjetischen Dissidentenbewegung (1968-1985), mit den Werken von Alexander Solschenizyn, Wladimir Wojnowitsch und Alexander Sinwowjew, den Romanen von Boris Pasternak und anderen. In Untergrundpublikationen des Samisdat spielte die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eine zentrale Rolle. Der Kampf um das Gedächtnis erreichte in den Jahren der Perestroika (1985-1991) einen Höhepunkt, einer Zeit, die von Vielen als zweites Tauwetter gesehen wurde, an die sich auch international große Hoffnungen knüpften – vor allem bei den unmittelbaren Nachbarn wie etwa Polen, die sich mit langer Widerstandstradition als Gefangene des Imperiums sahen. Der polnische Russizist Andrzej Drawicz meinte, ein Wunder zu erleben:
„Güte, Solidarität, Menschlichkeit, Aufrichtigkeit, Toleranz, Vergebung…. Russland versucht, sich zu vermenschlichen. Russland kehrt endlich nach Europa zurück, in einem Sinne, den wir – so glaube ich – instinktiv alle teilen. Es kehrt zurück zu einem Kontinent der Werte, Prinzipien, Traditionen, die sich auf einen breit geteilten Konsens stützen.“
Gorbatschows Öffnungsbereitschaft hatte jedoch ihre Grenzen. Er war bereit, die im Ostblock zusammengeschmiedeten westlichen Nachbarn Russlands in die Freiheit zu entlassen und der deutschen Wiedervereinigung zuzustimmen, zögerte jedoch bereits, wenn es um die Unabhängigkeit der Länder des Baltikums und Georgiens ging. Die Ukraine sollte fest an der Seite Russlands bleiben.
Boris Jelzin ging hier einen Schritt weiter und wurde als siegreicher Konkurrent Gorbatschows zum ersten Präsidenten Russlands. Durchgreifende Reformen, Liberalisierung und ein anderer Umgang mit der Vergangenheit schienen in greifbare Nähe zu rücken. Wie eng sich hier Gegenwart und Vergangenheit verbanden, wie sehr die Inkonsequenzen und das Scheitern Jelzins den Weg für eine Erneuerung des Imperiums unter Wladimir Putin freimachten, verfolgten russische Publizisten wie Nikolai Kabakow mit ohnmächtiger Verzweiflung. Sie sahen in Russland nicht mehr das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wie die USA, sondern das Land der verlorenen Möglichkeiten. Kabakow beschrieb die verpassten Chancen Jelzins nach dem Augustputsch von 1991 zehn Jahre später in der polnischen Gazeta Wyborcza:
„Wenn der durch höhere Kräfte der Augusttage gesegnete Jelzin, vergöttert von seinem Volk und Favorit der freien Welt, nur das getan hätte, was zu tun war! Wenn er den Ausnahmezustand ausgerufen und die Kommunistische Partei de-legalisiert hätte. Sich zum Favoriten und Garanten demokratischer Präsidentschaftswahlen im November ausgerufen hätte – alles wäre anders gekommen. Er hätte neunzig Prozent der Stimmen bekommen und die Macht nicht den Händen Gorbatschows entwinden müssen. Das russische Imperium hätte noch einige Zeit überdauert, um sich allmählich in so etwas wie ein Commonwealth zu verwandeln. Der Banditenkapitalismus hätte sich etwas weniger brutal entwickelt und wäre etwas zivilisiert worden. Wir hätten weder Tschetschenien, noch die Schlächterei in Tadshikistan, noch die mittelalterlich feudalen Reste, die wir statt des großen Russlands haben. Und bestimmt läge im Zentrum Moskaus nicht mehr diese verfluchte Leiche, die Mumie Lenins, das Symbol einer toten, aber auf ihre Weise teuflisch lebendigen Idee.“
Wladimir Putin, die mit ihm verbundenen Kräfte des Geheimdienstes, der Silowiki und zivile Teile der Eliten sorgten dafür, dass die Ideen des Leninismus, mit Versatzstücken anderer sowjetischer Epochen und Symbolen der Zarenzeit verbunden, den neoimperialen Drang Großrusslands befeuerten. Den Zugriff auf alle unbotmäßigen Nachbarn eingeschlossen.
Analyse
Im zweiten Teil von Epplées Suche, unter dem Titel Analyse, geht es um die Erfahrung mit der Vergangenheitsaufarbeitung von Ländern, die den Weg von der Diktatur in die Demokratie zurückgelegt haben.
Eine beeindruckende Suche nach europäischen Erinnerungswegen hatte die italienische Publizistin Barbara Spinelli bereits am Anfang unseres Jahrhunderts, in ihrem Werk „Erinnerung als Fundament europäischer Politik“, unternommen. Bei Epplée zeigt die Auswahl von sechs Ländern – Argentinien, Spanien, Südafrika, Polen, Deutschland, Japan – bereits den prinzipiellen Unterschied zu Russland: In all diesen Ländern, die in verschiedenster Weise von Staatsterrorismus bestimmt waren, gab es, mit allen Phasen späterer Verweigerung und Blockaden, die Chancen, welche nun einmal nur Demokratien oder Phasen der Demokratisierung bieten.
Mutige Richter*innen und Staatsanwält*innen, Journalist*innen und Intellektuelle, Parlamentarier*innen und Politiker*innen, die sie unterstützten, Angehörige der Opfer und Nachfahren von Tätern, konnten die Mauern des Schweigens und Verdrängens durchbrechen, Aufklärung durchsetzen, die Identifizierung und Bestrafung von Schuldigen in Angriff nehmen, Gerechtigkeit und Genugtuung für die Opfer einklagen. Rückschläge und das Bewusstsein der Unvollkommenheit aller Bemühungen eingeschlossen.
Sie wurden angefeindet und behindert, waren aber nicht der permanenten Todesgefahr ausgesetzt und der Ermordung ausgeliefert, wie es russischen Menschenrechtler*innen und Politiker*innen geschah, die sich dem zurückliegenden und aktuellen Staatsterrorismus stellten. Anna Politkowskaja und Boris Nemzow sind hier nur die bekanntesten Beispiele.
Auf seiner Suche macht sich Epplée wenig Illusionen und setzt sie dennoch fort. Für Südafrika lässt er Bischof Desmond Tutu zu Wort kommen, der sich direkt auf Russland bezieht. Am Ende der Präsidentschaft von Thabo Mbeki sah der die Demokratisierung in Südafrika als wichtigen Sieg im Vergleich zu Ländern wie Ruanda, Sri Lanka, Burundi oder Sudan, die in Blutvergießen und innere Unruhen abgeglitten seien und die Spaltungen der Vergangenheit nicht überwunden hätten. Noch mehr gelte das für Russland:
„Im Vergleich zu dem, was heute in Russland geschieht, wirkt die südafrikanische Demokratisierung wie ein Sonntagsspaziergang. Weil die Russen sich der Wahrheit über die sowjetische Vergangenheit nicht stellen wollten, haben sie Probleme für die Zukunft angehäuft“ (Epplée, S. 270).
Deutschland hat es für Epplée vermocht, die richtigen Konsequenzen aus der eigenen kriminellen Vergangenheit zu ziehen und sich dadurch neu zu konstituieren. In deutscher Sprache seien die maßgeblichen Kategorien für den weltweiten Diskurs über die Vergangenheitsbearbeitung formuliert worden. All dies sei für ihn die „Quelle einer fast schon überirdischen Hoffnung“ (Epplée, S. 7).
Leider hält dieses schwärmerische Lob dem nüchternen Blick auf den aktuellen Umgang mit der Vergangenheit und den Zustand der Demokratie in Deutschland derzeit nicht vollumfänglich stand. Nicht wenige deutsche Politiker*innen, Journalist*innen und Akteur*innen der Zivilgesellschaft gehen von einer der größten Krisen der Demokratie seit 1945 aus. Die Ursachen dafür sind vielfältig und umstritten, doch die Situation ist alarmierend. Die rechtspopulistische und in Teilen ihrer Gruppierungen und ihres Personals offen rechtsextreme AfD erfreut sich seit Monaten wachsender Beliebtheitswerte. Sie liegt in gesamtdeutschen Wahlumfragen zwischen fünfzehn und über zwanzig Prozent, während die Werte aller Beteiligten an der Regierungskoalition immer weiter einbrechen. Wohl auch, weil die Demokratie ihren großen Wert der mühsamen gesellschaftlichen Kompromissfindung derzeit nicht mehr vermitteln kann. Streit hat Streitkultur ersetzt.
In allen ostdeutschen Bundesländern ist die AfD nach diesen Umfragen bereits stärkste Kraft oder ist kurz davor, es zu werden. Mit einem durch und durch populistischen, fremdenfeindlichen, gegen die Grundwerte der liberalen Demokratie gerichteten Programm scheint sie für jeden dritten ostdeutschen Wähler akzeptabel zu sein. Die offenkundig rechtsextreme und teilweise faschistoide Gesinnung führender Vertreter*innen wie Björn Höcke wird dabei verdrängt oder billigend in Kauf genommen. Bei den Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern droht der parlamentarische Durchbruch der Partei als stärkste Kraft. Anders als noch vor einigen Jahren sind die Kader der AfD gut vorbereitet und breit aufgestellt, um alle Kleinerfolge auf kommunaler Ebene zur Unterwanderung staatlicher Strukturen zu nutzen. Dem Generalangriff auf die Demokratie von außen wird ihre Eroberung von innen entgegengesetzt. Ob das nun neu auf den Plan tretende linkspopulistische „Bündnis Sahra Wagenfeld“ hieran etwas zu ändern vermag, wird abzuwarten bleiben.
Was den für Deutschland so vorbildlich beschworenen Umgang mit der Vergangenheit beider deutscher Diktaturen betrifft, ist in Sachen politischer Bildung und Auseinandersetzung tatsächlich eine Menge passiert. Dennoch sind die AfD und die ihr in Sachen Vergangenheitsverdrängung sekundierenden linksextreme Kräfte auch hier in der Offensive. Die nostalgische Sehnsucht nach heilen, überschaubaren Verhältnissen, nach den Wärmestuben der Diktatur, nach Politikern, die endlich wieder mit starker Hand regieren, flammt auf.
In Sachsen wurde auf großen Kundgebungen die Altkanzlerin Angelika Merkel mit NS-Vokabular als „Volksverräterin“ verteufelt und Wladimir Putin als Erretter ausgerufen. Darunter mischten sich antikapitalistische und antiamerikanische Slogans. Olaf Scholz erlebt es im Osten inzwischen nicht anders.
Die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller sagte dazu kurz vor ihrem 70. Geburtstag in einem Interview für die Deutsche Presse Agentur:
„Rechtsradikale faseln von einem ‚nationalsozialen Staat‘ und meinen natürlich Nationalsozialismus und halten sich für schlau, weil sie es nicht aussprechen. Das völkische Denken träumt von einem anderen Deutschland, in dem millionenfache Vertreibung im Namen der Heimat wieder zum Alltag wird. Dafür wünschen sie sich einen Starken Führer, der die NATO verlässt und sich vom Kriegsverbrecher Putin schützen lässt. Dagegen müssen wir uns wehren.“
All das sind Bedrohungen, denen die noch stabile deutsche Demokratie hoffentlich nicht erliegen wird, die aber entschiedenes Handeln erfordern, nicht nur Appelle an eine bessere Diskurskultur. Ein Handeln, das zum Thema und Anspruch des Historikers Nikolai Epplée gehört.
Wenn man in Deutschland in der jüngeren Vergangenheit – in der Politik, den Eliten und auf der Ebene der Gesellschaft – die richtigen Konsequenzen aus der eigenen Verantwortung für ungeheure Verbrechen gezogen hätte, stünde man heute wohl nicht so hilflos und überfordert vor den populistischen und extremistischen Bedrohungen im eigenen Land, wäre der Begriff der wehrhaften, verteidigungsbereiten Demokratie zur akzeptierten und mitgetragenen Realität geworden. Die drohende internationale Kooperation totalitärer Regime würde Deutschland als vollgültigen Partner an der Seite liberaler Demokratien sehen, die diese Gefahr erkennen und sich dagegen wehren. Hoffentlich sind wir auf dem Weg dahin.
Was dabei nicht hilft, sind Analysen wie jene des Historikers Herfried Münkler, der Teile dieser Gefahr erkennt und benennt, dann aber in geopolitischen Fatalismus verfällt.
In seinem neuesten Buch „Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert“, das von seinem Berliner Verlag als „gedankenfunkelnde geopolitische Analyse“ gepriesen wird, zieht er Ordnungsmuster aus dem 19. Jahrhundert zu Rate. Er beschreibt eine künftige multipolare Pentarchie aus den Großmächten USA, Russland, Indien, China und (vielleicht) Deutschland, welche versucht, die Welt in Balance und Ordnung zu halten. Ausgerechnet Russland, das längst mit der grauenhaftesten Diktatur weltweit, dem Regime in Nordkorea, kooperiert und an einer Achse mit weiteren Schurkenstaaten schmiedet, soll als Teil dieser neuen Multipolarität gelten. Wenn Münkler dabei Russland als autoritär-autokratisch charakterisiert, hat er einen Zwischenstand vor Augen, den das mittlerweile totalitäre Regime seit einigen Jahren überschritten hat.
Synthese
Der letzte Teil der Suche von Nikolai Epplée, die Synthese, zeigt sein Dilemma voll auf. Er nennt es den Versuch, „eine Art Periodentafel der Mechanismen und Strategien zur Vergangenheitsbewältigung zu skizzieren – ein universelles Koordinatensystem zu entwerfen und die Grundelemente aufzulisten, ohne die sich die Bewältigung der Vergangenheit nicht projektieren lässt“ (Epplée, S. 355).
Dabei ist der Historiker wieder so ehrlich, dass er sich in einer Reihe von Kapiteln des dritten Teils immer wieder auf Menschen bezieht, die diesen Anspruch für das aktuelle Russland als unmöglich aufzeigen. So den slowenischen Maler und Künstler Zoran Music, der als Dachau-Überlebender eine intensive Beziehung zu seiner persönlich schwierigen Vergangenheit aufbaute. Den Sinn seines Tuns beschreibt Epplée:
„…in diesem Sinne ist das Abschließen mit der Vergangenheit eine unabdingbare Voraussetzung, um weiter zu kommen. Die Vergangenheit ist eine äußerst wichtige Ressource für die Zukunft, ein unschätzbarer Fundus an historischen Lehren, positiven und negativen Beispielen, Vorbildern und Grundlagen für das individuelle und kollektive Selbstverständnis. Doch solange die Vergangenheit noch als Ressource für kriminelle Praktiken dient, ist sie wie ein unbegrabener Leichnam, der sein Leichengift an die Lebenden abgibt“ (Epplée, S. 383).
Diesen Zustand will Epplée überwinden, er sucht nach einer „Infrastruktur des Erinnerungsdurchbruchs“ und hat den Aufbau einer „Metakommission für Wahrheit und Versöhnung“ für Russland vor Augen. Von wem soll sie getragen sein? „Es geht darum, die gesamte Gesellschaft in diesen Prozess einzubeziehen, diesen schmerzhaften Weg für ein möglichst breites Spektrum von Kräften nachvollziehbar und tragbar zu gestalten und in diesem Prozess eine Grundlage für ein positives Selbstverständnis zu finden“ (Epplée S. 384). Der Historiker ist auf der Suche nach den letzten Gerechten. Es mag sie ja geben. Die Frage aber ist, was sie gegenwärtig ausrichten können und was ihnen entgegensteht.
Man kann sich eine einfache Stufenfolge für den Prozess, um den Epplée die ganz Zeit kreist, vor Augen führen und dann den Blick nicht in die fernste Zukunft, sondern auf die Gegenwart richten. Bodenlose Ernüchterung tritt ein. Diese Stufenfolge heißt: Ein verbreitetes Interesse für die Vergangenheit; die offene Auseinandersetzung damit; Reflektion darüber; die Bereitschaft, eigene Verantwortung zu übernehmen; die Anerkenntnis von Schuld, Reue und die Bitte um Vergebung; Bereitschaft zur Wiedergutmachung und Bestrafung der Schuldigen.
Wo steht die russische Gesellschaft, wenn es um eine solche Stufenfolge geht, die einzig zu Wahrheit und Versöhnung führen kann? Kaum am Anfang des Weges, wie realistische Stimmen aus Russland bezeugen. Lev Gudkow, der mittlerweile sechsundsiebzigjährige Mitbegründer des unabhängigen Meinungsforschungsinstitutes Levada, das hohe internationale Anerkennung genießt, sieht sich bei seinen aktuellen Umfragen von der eigenen Skepsis überrollt. In einem aktuellen Interview für das deutsche Nachrichtenportal t-online vom 21.10.23 muss er eine andauernd hohe Unterstützung der russischen Bevölkerung für den Terrorkrieg gegen die Ukraine konstatieren. Die meisten Russen, so Gudkow, würden den Ukrainekrieg aus Furcht vor dem Verlust kollektiver Identität unterstützen. Auf die Frage, ob sie persönliche Verantwortung für die Angriffe auf die Ukraine empfänden, hätten nur zehn Prozent der Befragten mit „Ja“ geantwortet. Die absolute Mehrheit hätte die Frage wahrscheinlich nicht einmal verstanden.
Noch entschiedener äußert sich der seit langem in der Schweiz lebende russisch-schweizerische Schriftsteller Michail Schischkin in einem Beitrag für das in Frankreich erscheinende Nachrichtenportal „Russia Desk“ vom 14.10.23:
„Auf der russischen Landkarte wird es kein Nürnberg geben. Es wird keine russische Reue geben. Diejenigen, die nach Putin kommen, werden nicht in Butscha, Mariupol, Prag, Budapest, Vilnius oder Tiflis niederknien, so etwas macht ein Zar nicht. Darum wird es auch keinen Marshallplan geben. Aber ein Handschlag mit dem ersten Kremlchef, der dem Westen verspricht, das rostige Atomwaffenarsenal Russlands zu kontrollieren.“
Epplée hofft auf die Zukunft eines nichtimperialen, menschlichen Russlands, das sich seiner Vergangenheit stellt, kann diesen Weg aber nicht vorwegnehmen. Seine Ratschläge und Empfehlungen müssen Zukunftsmusik bleiben. Vielleicht helfen hier nur die Einsichten von Salman Rushdie, der durch die härtesten Lebensprüfungen ging und jüngst mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt wurde. Über den Krieg Putins sagt er:
"...ein der Tyrannei eines einzelnen Mannes und seiner Gier nach Macht und Eroberung geschuldeter Krieg, ein trauriges Narrativ, dem deutschen Publikum nicht unbekannt".
Sinngemäß verdeutlicht Rushdies literarische Philosophie:
Imperien vergehen, aber Bücher bleiben und halten die Erinnerungen an sie fest. Worte sind am Ende die einzigen wirklichen Sieger.
In Epplées „Die unbequeme Vergangenheit“ drücken die Worte eine aufrichtige Hoffnung auf Veränderung aus. Die allerdings droht, an der neuen alten russischen Wirklichkeit zu zerschellen. Warum, seziert Epplée auf ernüchternde Weise. Man kann seinem Buch nur viele Leserinnen und Leser wünschen.
Literatur:
Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München 2013
Nikolaj Epplée, Die unbequeme Vergangenheit, Berlin 2023
Herfried Münkler, Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21.Jahrhundert. Berlin 2023
Barbara Spinelli, Der Gebrauch der Erinnerung. Europa und das Erbe des Totalitarismus. München 2002
Wolfgang Templin, Farbenspiele. Die Ukraine nach der Revolution in Orange. Osnabrück 2008
Zitierweise: Wolfgang Templin, "Bodenlose Ernüchterung“, in: Deutschland Archiv, 27.10.2023, Link: www.bpb.de/542162. Alle Beiträge sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen AutorInnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. (hk)