Pressefreiheit
Der zunehmende Zerfall der DDR im Herbst 1989 wirkte sich schnell auch auf die Medien aus. Seit Oktober forderten die unterschiedlichen etablierten Parteien bzw. die neuen Bürgerbewegungen immer stärker einen stabilen rechtsstaatlich-demokratischen Rahmen für eine von Anleitung und Zensur befreite Presse.
Als der langjährige Staats- und Parteichef Erich Honecker und sein Mediensekretär Joachim Herrmann am 18. Oktober zurücktraten, begann die Auflösung des traditionellen Gefüges der Tagespresse. Sollte sich die Erneuerung nach Vorstellung der alten Parteien zunächst noch im Rahmen einer reformierten sozialistischen Gesellschaftsordnung bewegen, so setzten sich in der Folgezeit die aus dem Westen bekannten liberal-demokratischen Vorstellungen von Medienfunktion und -organisation durch.
Damit endete eine 45 Jahre währende Gängelung und Kontrolle der Medien durch die ostdeutsche Staats- und Parteiführung. Instanzen wie die Agitationskommission beim Politbüro der SED, die Abteilung Agitation des SED-Zentralkomitees oder das Presseamt beim Vorsitzenden des Ministerrats hatten bis dahin tief in die Tagespresse eingegriffen. Faktisch hatten die Zeitungen eine PR-Funktion für den Sozialismus gehabt und nicht die kontrollierende öffentliche Aufgabe einer Demokratie.
Mitte Dezember 1989 setzte die neue Regierung Modrow einen "Runden Medientisch" ein, der einen "Beschluß der Volkskammer über die Gewährung der Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit" erarbeitete (am 5. Februar 1990 angenommen).
Damit waren die wesentlichen Schritte zur Aufhebung der politisch motivierten publizistischen und technisch-materiellen Beschränkungen der Pressefreiheit erfolgt. In der Folge entwickelte sich in der DDR ein Pressesystem nach westdeutschem Vorbild.
In dem Maße, wie die Journalisten ihre Rolle als parteiliche Weiterleiter
Gründungsboom mit Pressefreiheit
Obwohl vor dem Volkskammer-Beschluss vom 5. Februar 1990 ein verlegerisches Engagement von Ausländern und damit Westdeutschen nicht möglich war und auch danach Eigentumsbeteiligungen jeder Art der Genehmigung durch den Medienkontrollrat bedurften, engagierten sich westdeutsche Verleger zunehmend mit Tageszeitungsgründungen und Kooperationen mit DDR-Zeitungen. Bereits im Januar und damit vor der offiziellen Aufhebung der Lizenzpflicht erschienen in der DDR von westdeutschen Verlagen herausgegebene neue Anzeigenblätter und Wochenzeitungen. Bis Mitte des Jahres kam es zu einem wahren Gründungsboom und zu einer Vielzahl von Kooperationen westdeutscher Verlage mit alten DDR-Zeitungen – nach der Regel: "Großverlage kaufen, mittlere und kleine Verlage gründen."
In der untergehenden DDR entstand eine Pressevielfalt, wie sie die Bundesrepublik zuletzt in den frühen 1950er-Jahren gekannt hatte. In Städten wie Magdeburg konkurrierten zeitweise vier Abo- und zwei Boulevardblätter um die Leser, und selbst Städtchen wie Nordhausen, Wernigerode oder Heiligenstadt kamen auf drei bis vier Tageszeitungen. Diese konkurrierten nicht nur mit den bestehenden ehemaligen Organen von SED und Blockparteien, sondern zumeist auch untereinander. Treibende Kräfte waren häufig Mitglieder der Bürgerbewegungen, die sich mit westdeutschen Verlegern verbündeten, um den demokratischen Wandel durch eine neue Presse zu untermauern.
Für die Verlage aus der Bundesrepublik bot die Eroberung der DDR eine attraktive Erweiterung der heimischen Märkte: "Westdeutsche Medienunternehmen drückten mit brutaler Gewalt in den überaus attraktiven DDR-Markt. Sie alle, Glücksritter wie vorgeblich seriöse Unternehmer, versuchten hektisch, ihren Teil vom Kuchen abzubekommen", resümierte der medienpolitischer Sprecher des Runden Tisches, Konrad Weiß, die Goldgräberstimmung.
Der Bürgerrechtler Konrad Weiss am Zentralen Runden Tisch der DDR, 24. Januar 1990. (© Rainer Mittelstädt/Bundesarchiv, Bild 183-1990-0124-308)
Der Bürgerrechtler Konrad Weiss am Zentralen Runden Tisch der DDR, 24. Januar 1990. (© Rainer Mittelstädt/Bundesarchiv, Bild 183-1990-0124-308)
Die Zahl der damals neu gegründeten Zeitungen entzieht sich einer exakten Aufnahme; sie schwankt zwischen 70 und 120 Neugründungen. Doch bereits nach wenigen Monaten kehrte Ernüchterung ein, und die ersten neuen Blätter wurden wieder eingestellt.
Nicht nur die Neugründungen stützten sich auf das Know-how und die Technik westlicher Verlage, auch die alteingesessenen DDR-Blätter suchten die Zusammenarbeit mit Unternehmen aus der Bundesrepublik. Bereits seit Dezember 1989, als die "Westfalenpost" (Hagen) und die "Thüringische Landeszeitung" eine Kooperationsvereinbarung unterzeichneten, kam es zu unterschiedlichen Formen des Engagements von westdeutschen Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen. Diese Beziehungen verfestigten sich im Frühjahr 1990. Der vordem auf dem Tagespressemarkt nicht aktive Bauer Verlag kooperierte gleich mit vier ehemaligen SED-Bezirksorganen, die "Westdeutsche Allgemeine" schnappte sich die früheren Thüringer SED-Blätter aus Erfurt und Gera, die "Lübecker Nachrichten" engagierten sich im Rostocker Nachbarbezirk bei der "Ostsee-Zeitung". Die eher kleine "Nordwest-Zeitung" aus Oldenburg sicherte sich das Potsdamer SED-Nachfolgeblatt als Partner, bis schließlich jede ostdeutsche Zeitung vergeben war.
Neuordnung des Zeitungsmarktes durch die Treuhand
Während einige Westverlage die Attraktivität des neuen Marktes schnell erkannten, verschliefen andere die Entwicklung. Die "Frankfurter Allgemeine" etwa konnte nur bei den kleinen früheren CDU-Zeitungen einsteigen, die sich nicht zufriedenstellend entwickelten. Auch der Springer Verlag musste sich mit einigen kleinen Regionalzeitungen der Liberal- und der Nationaldemokratischen Partei begnügen.
Da wichtige große westdeutsche Zeitungsverlage zu kurz gekommen waren, entschied die Treuhandanstalt ungeachtet bestehender Kooperationen, die Zusammenarbeit mit den wirtschaftlich besonders attraktiven vormaligen SED-Bezirksorganen neu zu organisieren: Die Zeitungen wurden öffentlich ausgeschrieben, da "für diese Objekte ein sehr großes und ständig wachsendes Interesse gegeben war".
Die westdeutschen Kooperationspartner hatten zwar größtenteils schon beträchtliche Summen investiert, doch hatten sie es "versäumt, rechtzeitig und rechtsgültig Anteile an den Pressebetrieben zu erwerben".
Jeder der DDR-Verlage wurde bei der Treuhand-Ausschreibung im Durchschnitt von fünf Westunternehmen bedrängt, attraktive Zeitungshäuser kamen gar auf ein Mehrfaches an Interessenten. So erhielt die Treuhand für die Magdeburger "Volksstimme" gleich 13 Gebote. Da möglichst viele der westdeutschen Großverlage zum Zuge kommen sollten, war für jeden Interessenten die Beteiligung an nur einer der Bezirkszeitungen vorgesehen.
Neben dem Geld spielten auch politische Aspekte eine Rolle. Zwar waren die Verträge zwischen den Westpartnern sowie der "Mitteldeutschen Zeitung" und der Chemnitzer "Freien Presse" zum Zeitpunkt der Neuausschreibung noch nicht unterzeichnet, doch schrieb die Treuhand diese Blätter nicht zum Verkauf an den Meistbietenden aus, sondern vergab die Verlage auf Druck der christlich-liberalen Regierung Kohl/Genscher freihändig: So gingen der Chemnitzer Verlag der "Freien Presse" an die CDU-nahe Medien Union ("Rheinpfalz") aus Helmut Kohls Heimat Ludwigshafen und die "Mitteldeutsche Zeitung" aus Hans-Dietrich Genschers Heimatstadt an den FDP-nahen Verleger Alfred Neven DuMont.
Abseits parteilicher Gefälligkeiten spielten medienpolitische Vorstellungen bei der Privatisierung keine Rolle; die Treuhand achtete beim Verkauf vor allem auf wirtschaftliche Merkmale wie hohe Verkaufserlöse, Arbeitsplatzgarantien, Investitionszusagen und die vermutete Finanzkraft der Kaufinteressenten.
Kaufinteressenten wurden dann abgelehnt, wenn sie zu klein waren. So unterlag der Verlag der "Nordwest-Zeitung", der schon längere Zeit mit der "Märkischen Allgemeinen" in Potsdam kooperiert hatte, der im Kooperationswettlauf zu spät gekommenen "Frankfurter Allgemeinen". In der Vergabebegründung hieß es: "Die Möglichkeiten und Erfahrungen der FAZ, den relativ großen Akzidenzbereich zu sanieren, sind besser. Die Investitionsplanung liegt höhe[r], da noch zusätzliche Druckkapazität für die FAZ selbst geschaffen werden soll."
Die Regionalzeitungen der Blockparteien wurden nicht neu ausgeschrieben, sodass der Springer Verlag und die "FAZ", nunmehr mit deutlich größeren Blättern versehen, die Lust an den Kleinzeitungen verloren und diese einstellten.
Im Ergebnis verkaufte die Treuhand die ehemaligen SED-Bezirkszeitungen, deren Auflagen mit durchschnittlich 350.000 Exemplaren die Größe ihrer westdeutschen Käufer um das Zwei- bis Dreifache überstiegen, an die zehn zuvor schon marktführenden westdeutschen Pressehäuser. Dabei wurde die frühere SED-Bezirkspresse unzerteilt im Stück veräußert, und ihre in hohen Auflagen manifestierte Marktmacht blieb unangetastet.
Kritik an der Treuhand
Medienpolitische Kriterien wie die Entflechtung und Zerschlagung der starken Bezirksverlage wurden beim Verkauf nicht beachtet. Die Bundesregierung freute sich, dass die Käufer der Großverlage eine "wirtschaftlich solide Grundlage für die Behauptung der Marktposition" bekamen, musste jedoch zugleich einräumen: "Die von der SED geschaffene Pressestruktur blieb im Kern erhalten."
Gut 20 Jahre nach dem politischen Umbruch ist der Marktanteil der früheren sozialistischen Regionalpresse noch etwas höher als davor. Bei den Regional- bzw. Lokalblättern der fünf neuen Länder stehen im Jahr 2010 die ehemaligen SED-Bezirkszeitungen mit einer Auflage von 2,1 Millionen jenen 190.000 Exemplaren gegenüber, die täglich von den Nachfolgern ehemaliger Blockparteizeitungen und von neu gegründeten Titeln verkauft werden (Tabelle 1).
Auflagenanteile Bezirkspresse in den fünf neuen Bundesländern 1988, 1992 und 2010 | ||||||
1988 | 1992 | 2010 | ||||
in 1.000 | in % | in 1.000 | in % | in 1.000 | in % | |
(ehemalige) SED-Bezirkspresse | 5.105 | 90,0 | 3.895 | 91,3 | 2.133 | 91,9 |
(ehemalige) Blockpartei-Bezirkspresse | 510 | 10,0 | 122 | 2,9 | 99 | 4,3 |
Neugründungen | - | - | 250 | 5,9 | 89 | 3,8 |
Summe | 5.615 | 100 | 4.268 | 100 | 2.321 | 100 |
Quelle: Eigene Berechnungen nach: Horst Röper, Zeitungen 2010: Rangverschiebungen unter den größten Verlagen, in: Media Perspektiven, 5/2010, S. 218–234; IVW II/2010; Beate Schneider u. a., Wettbewerb auf dem Zeitungsmarkt in den neuen Bundesländern. Gutachten im Auftrag des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (Ms.), Hannover 1993, S. 52; Stefan Matysiak, Die Entwicklung der DDR-Presse. Zur ostdeutschen historischen Pressestatistik, in: DA 42 (2009) 1, S. 59–73. |
Zugleich nahm in Ostdeutschland – befeuert durch den deutlichen Bevölkerungsrückgang – die Gesamtauflage seit 1988 um 59 bzw. seit 1992 um 46 Prozent ab.
Einher gehend mit dem prozentualen Auflagenzuwachs der früheren SED-Presse reduzierte sich die Zeitungsvielfalt. Konnte 1991 noch in 54 Prozent der Landkreise bzw. kreisfreien Städte bzw. von rund 63 Prozent der Bevölkerung unter mehr als einer lokalen Zeitung gewählt werden, war dies 15 Jahre später nur noch in 29 Prozent der Landkreise einem knappen Drittel der Einwohner möglich (Tabelle 2). Die Wahlfreiheit zwischen mehreren Zeitungen, die 1991 noch dem Bundesdurchschnitt entsprach, ist damit heute im Osten deutlich geringer als in ganz Deutschland.
Konkurrenz und Zeitungsvielfalt in Ostdeutschland | ||||||
Kreise/kreisfreie Städte mit mehr als einer Zeitung | Wohnbevölkerung mit mehr als einer Zeitung | |||||
1991 | 2008 | 1991 | 2008 | |||
absolut | in % | absolut | in % | in % | ||
Brandenburg | 14 | 31,8 | 5 | 38,1 | 38,1 | 25,5 |
Mecklenburg-Vorpommern | 11 | 29,7 | 1 | 5,6 | 34,1 | 12,0 |
Sachsen | 32 | 59,3 | 4 | 30,8 | 69,3 | 36,0 |
Sachsen-Anhalt | 21 | 52,5 | 4 | 28,6 | 62,6 | 28,4 |
Thüringen | 38 | 95,0 | 11 | 47,8 | 97,5 | 53,0 |
Ostdeutschland gesamt | 116 | 54,0 | 25 | 29,1 | 63,0 | 32,5 |
Deutschland gesamt | 284 | 52,3 | 174 | 42,1 | 64,4 | 57,6 |
Quelle: Eigene Berechnungen nach: Walter J. Schütz, Deutsche Tagespresse 2008, in: Media Perspektiven, 9/2009, S. 454–497; Beate Schneider u. a., Wettbewerb auf dem Zeitungsmarkt in den neuen Bundesländern. Gutachten im Auftrag des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (Ms.), Hannover 1993, S. 36. |
Das Vorgehen der Treuhand stieß auf umfangreiche Kritik. Einige Regeln, die die Anstalt eigentlich beim Verkauf hatte beachten wollen, wurden nicht in die Praxis umgesetzt. So wurden etwa die Verlage Gruner & Jahr, Springer und WAZ mit mehr als einer Zeitung versehen. Kritisiert wurde vor allem, dass die Treuhand die frühere SED-Bezirkspresse unzerteilt abgab, "also mitsamt ihrer im Vergleich zu Westdeutschland ungewöhnlich hohen Auflagen, ihrer riesigen Verbreitungsgebiete sowie mitsamt aller Druckereien und Liegenschaften".
Generell gelten Zeitungen in nachrangiger Wettbewerbsposition wegen ihrer vergleichsweise höheren Kosten und geringerer Erträge als wirtschaftlich schlecht zu führen. Der Verkauf der marktbeherrschenden SED-Presse "an die größten westdeutschen Zeitungs- und Zeitschriftenverleger [...] hatte zwangsläufig zur Folge, daß alle Neugründungen und die immer schon benachteiligten Zeitungen der ehemaligen Blockparteien keine Chance hatten, je über eine nachrangige Anbieterposition hinauszukommen".
Die früheren SED-Bezirkszeitungen nutzten ihre starke Wettbewerbsposition oft rücksichtslos dazu, die kleineren Anbieter zu verdrängen. So betrieb ein großer Teil der Verlage in Konkurrenzgebieten mit gesplitteten Abonnement- und niedrigen Anzeigengebühren Preisdumping, während in Monopolgebieten hohe Bezugs- und Insertionspreise verlangt wurden. In den Druckhäusern der Bezirkszeitungen erhielten Kleinzeitungen nur frühe Produktionstermine, was zu geringerer Aktualität führte. Zudem waren die verlangten Druckkosten sehr hoch. Die großen Bezirkszeitungen schwächten zudem die kleine Konkurrenz, indem sie Zusteller abwarben, die Kleinverlage mit juristischen Händeln überzogen, Konkurrenzzeitungen aus den Briefkästen nehmen und vorgefertigte Abbestellformulare verteilen ließen oder Informationsquellen monopolisierten.
Zwar hatte die Treuhandanstalt in die Verkaufsverträge sogenannte Wohlverhaltensklauseln geschrieben, nach denen sich die Käufer der früheren SED-Bezirkspresse verpflichteten, "in wirtschaftlich vertretbarem Umfang im Wege der Kooperation oder auf andere geeignete Weise nach Möglichkeiten zu suchen, die Entfaltung verlegerischer Aktivitäten von derzeit oder zukünftig im Verbreitungsgebiet der Gesellschaft erscheinenden kleineren Lokalzeitungen nicht zu behindern, sondern nach Möglichkeit zu erleichtern".
Standespolitische Perspektive
Zwar wird beklagt, dass die Aufteilung der früheren SED-Bezirksorgane in kleinere Verlagseinheiten beim Verkauf gar nicht zur Debatte gestanden hätte,
Pressevielfalt war allerdings kaum mehr als ein Randaspekt der Kritik an der Verkaufspolitik der Treuhand. Die Anstalt wurde insbesondere für die Mittelstandsfeindlichkeit ihrer Verkaufsentscheidungen angegriffen. Bei der Reflexion des Privatisierungsgeschehens wurden weniger die Auswirkungen auf die publizistische Konkurrenzsituation thematisiert als die Klagen kleinerer Verlage aufgegriffen, die in Ostdeutschland erfahren mussten, dass sie nicht in der Lage waren, die aus Westdeutschland bekannten wirtschaftlichen Konzentrationsprozesse aufzuhalten oder umzukehren. Kleinen Zeitungshäuser wie denen der Nienburger "Harke", der "Sindelfinger Zeitung" oder der "Münsterländischen Tageszeitung" aus Cloppenburg war auf diese Weise bestätigt worden, dass sie kapitalstarken Großverlagen nicht gewachsen waren. Die Debatte um die Treuhandpolitik hatte einen ständischen Blickwinkel.
Solche Standesfragen fokussierte die Medienwissenschaftlerin Beate Schneider in einem Gutachten für die Bundesregierung, indem sie explizit ausführte: "In der Gesamtbetrachtung wird deutlich, welche Wachstumsmöglichkeiten sich für einen ostdeutschen Mittelstand ergeben hätten, wenn das zentralistische Pressesystem vor dem Verkauf durch die Treuhand entflochten worden wäre."
Dass der VDL eine Mittelstandsförderung vermisste, dürfte vor allem damit zusammenhängen, dass die hier organisierten Mittelständler zumeist nur über Zeitungsauflagen geboten, die im – von der Treuhand gar nicht wahrgenommenen – unteren fünfstelligen Bereich lagen. Tatsächlich dürften bereits die benötigten dreistelligen Millionenbeträge zum Kauf der Ost-Zeitungen für viele dieser Häuser ein unüberwindbares Hindernis beim Einstieg in einen ostdeutschen Großverlag gewesen sein. Billiger waren die vor der Ausschreibung üblichen Kooperationen gewesen, da diese zwar auch mit finanziellen Modernisierungsaufwendungen verbunden waren, hierfür aber kein Kaufpreis aufgebracht werden musste.
Neue Zeitungen nicht grundsätzlich chancenlos
Als Folge der Treuhandentscheidungen werden in der Medienwissenschaft für die ostdeutsche Presselandschaft "fast unüberwindbare Marktzutrittsbarrieren"
Doch diese grundsätzliche Chancenlosigkeit entspricht der Realität nicht in Gänze. Zum einen ist es fraglich, ob Neugründungen sich eher hätten am Markt halten können, wenn sie mit einer vormaligen SED-Presse konkurriert hätten, die in kleineren Portionen an Mittelständler verkauft worden wäre. Vor allem aber konnte der Verkauf der DDR-Verlage durch die Treuhand fähige mittelständische Verleger nicht an der Etablierung neuer Zeitungen hindern: Das erfolgreiche Engagement einzelner Kleinverlage belegt, dass die im Westen seit langem bestehenden Marktzutrittsbarrieren im Osten zumindest zeitweise nicht so hoch waren, dass Neugründungen zwingend scheitern mussten.
Die Behauptung, der Verkauf "an die größten westdeutschen Zeitungs- und Zeitschriftenverleger hatte zwangsläufig zur Folge, dass alle Neugründungen und die immer schon benachteiligten Zeitungen der ehemaligen Blockparteien keine Chance hatten, je über eine nachrangige Anbieterposition hinauszukommen",
Zeitungsneugründungen und konkurrierende Lokalausgaben von früheren SED-Bezirkszeitungen 2010 (verkaufte Auflage: IVW III/2010) | ||
Neugründung (Auflage) | Lokalausgabe(n) der Bezirksleitung (Auflage) | Marktanteil Neugründung |
Gransee-Zeitung (4.700) | Neues Granseer Tageblatt (2.800) | 63 % |
Oranienburger Generalanzeiger (11.800) | Neue Oranienburger Zeitung (9.600) | 55 % |
Döbelner Anzeiger (10.200) | Döbelner Allgemeine Zeitung (8.700) | 54 % |
Ruppiner Anzeiger (6.600) | Ruppiner Tageblatt (6.700) | 50 % |
Altmark-Zeitung (2 Ausgaben; 17.600) | Volksstimme (4 Altmark-Ausgaben; 42.700) | 29 % |
Vogtland-Anzeiger (7.700) | Freie Presse (3 Vogtland-Ausgaben; 42.700) | 15 % |
Der Verleger Dirk Ippen in seinem Münchener Büro, 2005. In der Hand hält Ippen die zwei erfolgreichsten Titel seines Hauses, den "Münchner Merkur" und die "tz". (© dpa)
Der Verleger Dirk Ippen in seinem Münchener Büro, 2005. In der Hand hält Ippen die zwei erfolgreichsten Titel seines Hauses, den "Münchner Merkur" und die "tz". (© dpa)
Erfolgreichster Neugründer war der Verleger Dirk Ippen, zu dessen ostdeutschem Medienbesitz neben der "Altmark-Zeitung" die drei miteinander verbundenen Blätter "Oranienburger Generalanzeiger", "Gransee-Zeitung" und "Ruppiner Anzeiger" gehören: "Ich bin der einzige deutsche Verleger, der nach der Wende in den neuen Bundesländern zwei Zeitungen gegründet hat, die heute noch erfolgreich laufen", sagt Ippen.
Zu den Erfolgsfaktoren für das Etablieren von Zeitungen zählen neben einem niedrigen Abo-Preis Anzeigenkooperationen sowie vor allem die lokale Verankerung der Redakteure bzw. eine besondere lokale Ausrichtung der Zeitungen, was mit einem hohen personellen Aufwand einher geht.
Versagen der Westverleger
Wie der Erfolg der Ippen-Blätter nahe legt, trugen weniger die Treuhandentscheidungen, sondern fehlende verlegerische Fähigkeiten entscheidend zum Niedergang der Pressevielfalt bei. Der neue Pressemarkt erwies sich als 'so weit entfernt wie China'
Zwar verfügten die Neugründungen gegenüber den ehemaligen SED-Blätter über schlechtere Ausgangsbedingungen. Doch waren viele Probleme der Neugründungen hausgemacht, etwa wenn es an der notwendigen lokalen Verankerung fehlte. Ein großer Teil der neuen Lokalzeitungen schrieb an der Leserschaft vorbei. Auch verlegerische Schwächen brachten Probleme mit sich. "Die Wirtschaftlichkeit einer Tageszeitung hängt nicht allein von der Höhe der Auflage und ihrer Marktstellung, sondern wesentlich von einem günstigen Kooperationsumfeld ab".
Dazu gehörte, dass jedes Blatt versuchte, neben der lokalen auch noch die überregionale Berichterstattung zu stemmen. Die dabei notwendige Anpassung der aus Westdeutschland gelieferten überregionalen Seiten an die ostdeutschen Erfordernisse geschah "mit zum Teil erheblichem personellen und damit finanziellen Aufwand".
Auch zu regionalen Anzeigenkooperationen waren die kleineren Blätter weitgehend unfähig. In Sachsen-Anhalt kam es (im Gegensatz zu einigen sächsischen Kleinverlagen) zwischen den benachbarten Titeln "Der Neue Weg", "Altmark-Zeitung", "Bernburger Zeitung", "Wernigeröder Zeitung", "Quedlinburger Zeitung", "Ascherslebener Zeitung" sowie den Ausgaben Haldensleben, Halberstadt und Oschersleben der "Braunschweiger Zeitung" nicht zu einem Anzeigenring oder anderen Kooperationen.
Auch Druckkooperationen wurden nicht eingegangen. Die "FAZ"-Tochter "Der Neue Weg" litt zwar unter schlechten Andruckterminen beim ehemaligen SED-Bezirksblatt "Mitteldeutsche Zeitung", doch verzichtete man auf die Herstellung in der für alle vier Lokalausgaben des "Neuen Wegs" zentral gelegenen Druckerei der "Bernburger Zeitung", deren Auslastung "lange nicht so erfolgversprechend wie ursprünglich geplant" war
Ebenfalls nicht von der Treuhand zu verantworten ist die Tendenz der deutschen Verlage, Konkurrenzsituationen möglichst zu beseitigen. So litt die Pressevielfalt in Ostdeutschland auch am Unwillen der Verlage, den lokalen Wettbewerb auszuhalten. Während sich etwa Dirk Ippen bei der "Altmark-Zeitung" noch heute mit einem Marktanteil von knapp 30 Prozent begnügt, kam es andernorts immer wieder zu Agreements, als deren Ergebnis nur eine einzige Zeitung bestehen blieb. Derlei stillschweigende Marktbereinigungen beseitigten die lokale Pressevielfalt selbst dort, wo sich neu gegründete Titel oder alte Blockparteizeitungen schon weitgehend hatten durchsetzen können: Die junge Torgauer Verlagsgesellschaft, die 1990 das "Neue Torgauer Kreisblatt" gegründet hatte, einigte sich beispielsweise im Jahr 2000 mit der alteingesessenen "Leipziger Volkszeitung" auf das Ende der Konkurrenzsituation. Danach erschien in der sächsischen Kleinstadt nur noch die gemeinsam produzierte "Torgauer Zeitung". Und selbst dort, wo die Kräfteverhältnisse zweier potenter Verlage in etwa ausgeglichen waren, einigte man sich gütlich, um die Konkurrenzsituation zu entschärfen. So legte die "Leipziger Volkszeitung", die im Kreis Naumburg das dort führende "Naumburger Tageblatt" besaß, diese ehemalige liberal-demokratische Blockparteizeitung mit der Lokalausgabe des ehemaligen SED-Blattes "Mitteldeutsche Zeitung" zusammen.
Insgesamt schienen viele westdeutsche Verlage mit der Gründung von Zeitungen schlicht überfordert. "Manche Verleger, vor allem in der Provinz, hielten es geradezu für gottgegeben, dass ihre Familie in einem bestimmten Gebiet die einzige Zeitung herausgibt", analysierte Dirk Ippen 2002 auf einer Tagung des Zeitungsverlegerverbandes die Probleme der Branche. Die Zeitungsverleger wussten demnach einfach nicht mehr, was es heißt, sich gegen Konkurrenz zu behaupten. Anders als bei Ippen in Oranienburg genügte etwa bei der "Bernburger Zeitung" 1995 eine Auflage von 10.000 Exemplaren nicht zum Weiterleben, die "Wernigeröder Zeitung" musste im selben Jahr bei einer Auflage von immerhin 6.000 Exemplaren aufgeben.