„Mein Körper ist hier, aber mein Herz und meine Seele sind immer in Israel“
Israelische Schüler:innen und Lehrer:innen auf Berlin-Besuch als die Hamas Israel überfällt
Nora Ederer
/ 10 Minuten zu lesen
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Vom Angriff der Hamas erfahren sie auf Klassenfahrt an die Spree: 30 israelische Schüler und ihre Lehrer verbringen die ersten Kriegstage weit weg von ihren Familien. Eine Begegnung an einer Berliner Schule, die die Hoffnung auf Frieden und Brückenbau nicht aufgibt. Aber auch hier sitzt der Schock tief.
Als zu Hause in Israel Krieg ausbricht, liegt die 16-jährige Alisa im Bett ihrer deutschen Gastfamilie in Berlin und schläft. Sie erinnert sich, dass ihr Vater gegen sechs oder sieben Uhr am Morgen anruft. „Er sagte: Wir sind in einem Schutzraum. Uns geht es gut. Mach dir keine Sorgen.“ Alisa schläft wieder ein.
Später liest sie in der WhatsApp-Gruppe für den Schüleraustausch in Berlin, dass sich am Abend alle an der Schule in der Wallstraße in Berlin-Mitte treffen wollen, um die Lage in der Heimat zu besprechen. Dann öffnet Alisa Instagram. Sie sieht Bilder mit Blut und Sturmgewehren, von Massakern und Geiselnahmen. „Erst da habe ich verstanden, was passiert: ein echter Krieg“, sagt Alisa am Mittwoch, fünf Tage nach der überraschenden Attacke der Hamas-Terroristen auf Israel mit tausenden Raketen und Kämpfern.
Alisa tuckert über die Spree, ihre Familie sitzt im Bunker
Alisa möchte ihren vollen Namen nicht in deutschen Medien lesen. Auch fotografiert werden will sie nicht. Sie möchte unerkannt bleiben. Doch reden will Alisa schon. So vieles liegt ihr auf dem Herzen. Während sie auf einem Schiff über die Spree tuckert und in Restaurants essen geht, sitzt ihre Familie in Be’er Scheva im Bunker.
Be’er Scheva ist eine Wüstenstadt im Süden Israels, keine 50 Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Die Angreifer vom Wochenende haben es nicht bis dahin geschafft. Aber die Hamas feuert seit Jahren immer wieder Raketen in Richtung ihrer Heimatstadt ab. Alisa hat sich daran gewöhnt, in den Schutzraum zu gehen, zu warten und weiterzuleben. Doch was jetzt passiert, ist anders, intensiver, schlimmer. Das spürt sie auch in 3.000 Kilometern Entfernung.
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Ihr Schock sitzt tief. Den ganzen Samstag über kann die 16-Jährige mit den dicken, dunklen Haaren und dem Mittelscheitel nicht weinen. Erst als sie abends ihre israelischen Mitschüler:innen und Lehrer:innen an der Evangelischen Schule Berlin Zentrum (ESBZ) trifft, kullern die Tränen. Ihre Gastfamilie habe sich gut gekümmert, sagt Alisa. Sie habe auf Englisch nachgefragt, wie es ihr geht, ihr sogar angeboten, länger in Deutschland zu bleiben. Aber: „Du willst in so einem Moment Hebräisch hören“, sagt sie.
Alisa ist eine von 30 israelischen Schüler:innen der Rager High School in Be’er Scheva, die zusammen mit vier Lehrkräften – Anat Baibich, Roni Ben David, Nir Suess und Ziv Hinik – am 5. Oktober 2023 nach Berlin reisten, um die Evangelische Schule zu besuchen. Das war zwei Tage vor dem Angriff auf ihre Heimat. Einige Tage später stand die Gruppe am Brandenburger Tor, sie wollte sich die bunten Fassaden beim „Festival of Lights“ anschauen. Da leuchtete auf dem Handy einer Lehrerin eine Nachricht auf: Der Sohn der Sekretärin an der israelischen Schule ist tot. Die Lehrkräfte brachen den Ausflug ab; die Jugendlichen fuhren zurück in ihre Gastfamilien.
Was geht in Alisa, ihren Mitschüler:innen und den Lehrkräften vor? Können sie die monatelang geplante Reise nach Deutschland noch genießen? Empfinden sie es als Fluch oder Segen, jetzt nicht in Israel zu sein? Und mit welchem Gefühl fliegen sie zurück? Die Gräuel in der Heimat sind weit weg und doch immer da – auf dem Smartphone, am Küchentisch der Gastfamilien, in der deutschen Schule. Dort hat jemand eine Palästinaflagge an eine Wand gemalt. Auf dem Jungenklo tauchten am Donnerstag israelfeindliche Parolen auf.
Der ältere Bruder musste zurück zum Militär
Am Mittwochvormittag sitzt Alisa auf dem Deck eines Spreedampfers, neben ihr und um sie herum: Shoam Ifergan, die ebenfalls auf die Rager High School geht, sowie Mathis Riggert, Elisabeth Wettach, Alois Klotz und Camilla Hochhäusler aus Berlin. Die Jugendlichen sind zwischen 16 und 18 Jahre alt, kauen Kaugummi und essen Chips. Links und rechts ziehen die Gebäude vorbei, aus einem Lautsprecher erklärt eine deutsche Stimme, was zu sehen ist: das ARD-Hauptstadtstudio, der Deutsche Bundestag, das Pergamonmuseum, der Berliner Dom.
„Bist du noch müde?“, fragt Elisabeth Alisa auf Englisch. „Es geht. Meine Beine sind nicht so schlapp wie gestern.“ „Ich bin so müde. Gestern haben wir bei einer Freundin übernachtet und bis eins gequatscht.“ Stille. „Hast du Geschwister?“, fragt Elisabeth. „Ja, einen älteren Bruder.“ „Ist er in der Armee?“ „Ja, muss er. Er war eigentlich fertig mit dem Militärdienst. Aber jetzt ist er zurückgekehrt.“ „Hast du Angst?“ „Ja, ich sorge mich um ihm.“ „Das tut mir leid.“ „Es ist okay.“
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Stille.
„Gehen bei uns eigentlich viele zur Bundeswehr?“, fragt Elisabeth die anderen Deutschen in der Runde. „Die machen Werbung, weil sie zu wenig Leute haben“, sagt Camilla mit den blauen Haaren. „Ich hab‘ ‘nen Brief von denen bekommen. Die wollten mich anwerben“, sagt Elisabeth. Es wirkt nicht so, als würde sie einen Wehrdienst ernsthaft in Betracht ziehen.
Bei Shoam Ifergan ist das anders. Sie sitzt schräg hinter Elisabeth. Wenn sie in anderthalb Jahren 18 wird, will sie unbedingt zum Militär. „Natürlich gehe ich“, sagt die Israelin. „Es ist eine bedeutende Sache. Wir sind ein kleines Land mit vielen Feinden. Ich möchte etwas Sinnvolles tun.“ Shoam ist Jüdin. Deshalb hat sie gar keine andere Wahl, als in Israel Wehrdienst zu leisten, selbst als Frau. Rund zwei Jahre wird sie dienen müssen, ihre männlichen, jüdischen Mitschüler sogar fast drei Jahre. Elisabeth und Camilla aus Berlin reisen dann vielleicht um die Welt. Auch Shoam träumt davon. Aber vorher muss sie zum Militär.
Morgens betet Shoam für die israelische Armee
Shoam erzählt, dass sie sich seit dem Wochenende „horrible“ fühle – schrecklich. Sie hat angefangen morgens nach dem Aufstehen Tehillim zu beten, jüdische Psalmen, obwohl sie eigentlich gar nicht so religiös ist. „Ich tue es für die Menschen in der Armee“, sagt sie. „Gott soll sie beschützen und uns helfen.“ Außerdem telefoniert sie zweimal täglich mit ihren Eltern. Ihre Mutter arbeitet als Krankenschwester. Sie hat ihr erzählt, dass sie nun viele Soldat:innen verarztet. Shoams Vater ist Busfahrer. „Ich verstehe nicht, wieso er noch fährt“, sagt sie. „Ich habe Angst um ihn.“ Er könnte leicht in ein Gefecht geraten oder gekidnappt werden.
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Am Vortag hatte Shoam eine Panikattacke. Deshalb hat sie sich vorgenommen, weniger auf ihr Handy zu schauen. Aber es fällt ihr schwer. Sie will wissen, wie es ihrer Familie geht; sich vergewissern, dass alle gesund sind. Wenn es auf den Ausflügen irgendwo kostenloses WLAN gibt, loggt sie sich sofort ein und checkt ihre Nachrichten. „Es ist schwierig, jetzt nicht zu Hause zu sein“, sagt sie.
Shoam ist Mitglied einer Telegramgruppe, in der seit dem Wochenende Fotos von vermissten Menschen geteilt werden. „Da kann ich mich schneller informieren als in den Nachrichten“, sagt sie. Manche Bilder, die in der Gruppe geteilt werden, beängstigen sie. „Es ist entsetzlich“, sagt sie.
Ein Komiker postet nun Videos mit Maschinengewehr
Shoam klickt auf eine Instagram-Kachel. Sie zeigt ein Foto von US-Präsident Joe Biden, neben seinem Kopf steht auf Hebräisch „Wir stehen an der Seite Israels.“ Posts wie dieser geben Shoam Kraft. Sie ruft den Account von Guy Hochman auf, einem israelischen Komiker. Er bringt sie zum Lachen. Seit Sonntag postet er Videos in olivgrüner Uniform und mit Maschinengewehr über der Schulter.
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Wir erleben jeden Tag zwei, drei Horrormomente. Uli Marienfeld, Lehrer an der Evangelischen Schule Berlin Zentrum
Weiter im Touri-Programm auf dem Spreedampfer: Shoam macht Fotos von einem Haus mit roter Sandsteinfassade und Schnörkeln über den Fenstern. Ein paar Augenblicke Ablenkung. „Wir erleben jeden Tag zwei, drei Horrormomente“, sagt Uli Marienfeld, Lehrer an der Evangelischen Schule. „Es ist völlig surreal, aber wir müssen stark sein.“
Die Kinder der Lehrerinnen kämpfen in der Armee
Die Söhne von Anat Baibich und Roni Ben David, den beiden israelischen Lehrerinnen, sind am Wochenende zum Militär zurückgekehrt. Die Söhne von Ziv Hinik, ebenfalls Lehrer an der Rager High School, arbeiten bei der Polizei Am Samstag mussten sie ein Gebiet sichern, obwohl das eigentlich die Aufgabe der Armee ist. Doch die Hamas griff so überraschend an, dass plötzlich Hiniks Söhne an vorderster Front standen.
Er zeigt ein Foto von ihnen. Zu sehen sind zwei junge Männer in schwarzen Uniformen, mit Schusswesten und Gewehren. „Sehen Sie, wo sie kämpfen“, fragt Hinik, seine Stimme wird schrill. „Auf offener Fläche. Natürlich wäre ich jetzt lieber zu Hause als hier.“ Auch Schulleiterin Anat Baibich sagt: „Mein Körper ist in Berlin, aber mein Herz und meine Seele sind immer in Israel.“
Der Mann einer Kollegin war wie Hiniks Söhne Polizist. Er starb am Wochenende beim Versuch, Zivilist:innen zu schützen. Und ein langjähriger Musiklehrer der Rager High School wurde in seinem Haus ermordet.
Die Jugendlichen sollen ihre Handys weglegen
Für Uli Marienfeld gleicht es einem Wunder, dass bisher niemand aus der engeren Familie der israelischen Schüler:innen zu Schaden gekommen ist. Er findet: „Es nützt nichts, wenn die Kinder den ganzen Tag am Handy hängen.“ Deshalb fährt er mit der Gruppe zum Schloss Sanssouci nach Potsdam und ins ehemalige Konzentrationslager Sachsenhausen. Er geht mit ihr in Museen und zu einem Konzert der Berliner Philharmoniker.
Der Deutschlandfunk lud die Jugendlichen in sein Landesstudio ein, auch das ZDF-Morgenmagazin wollte berichten. So viel Trubel hat Marienfeld nicht erwartet, aber wer konnte wissen, dass in Israel Krieg ausbricht, während er seine Gäste in Berlin empfängt?
In der Schulturnhalle schlafen nun Soldaten
Der Lehrer erinnert sich, wie er im März 2023 mit seiner Kollegin Amélie Frank und 40 deutschen Schüer:innen nach Be’er Scheva reiste. Die israelische Schulleiterin Anat Baibich hatte ihn spontan zu sich an die Rager High School eingeladen. Weil sie keine Unterkunft fanden, quartierte Baibich die Gäste in ihrer Schulturnhalle ein. „Die Israelis können auf jeden Fall Probleme lösen“, sagt Marienfeld. Nun schlafen in der Turnhalle Soldaten.
Am Mittwochnachmittag besuchen die Israelis und ihre deutschen Gastgeber:innen das Jüdische Museum in Kreuzberg. Vor dem Gebäude steht eine Polizeistreife, drinnen ist es ruhig. Die Gruppe teilt sich auf, gut zwei Stunden verbringen die Jugendlichen in den schwarz-grau-weißen Ausstellungsräumen. Bei der Installation „Schalechet“, gefallenes Laub, muss die 16-jährige Eden Sahar weinen. Mitschüler:innen umarmen sie.
Wände aus Beton ragen in die Höhe, dazwischen ein schmaler Gang. Am Boden liegt ein Meer aus Gesichtern, geschnitten aus grauem, schwerem Metall. Sie bedecken den Boden wie Herbstlaub. Ihre Münder sind weit aufgerissen, die Augen zusammengekniffen. Die Gesichter sollen an all die Opfer von Krieg und Gewalt erinnern, so wünschte es sich der israelische Künstler Menashe Kadishman. Wenn man über das Metall am Boden geht, klirrt und hallt es. Die Atmosphäre ist gespenstisch, als würden kahle Knochen aneinander wetzten.
Das Metall klingt wie schreiende Menschen
Später sitzt Eden Sahar abseits der Gruppe auf einem lilafarbenen Sofa in einem überdachten Innenhof des Museums. Man kann auf den Garten blicken, draußen scheint die Sonne. Edens Augen sind gerötet. „Ich konnte nicht auf die Gesichter steigen“, sagt sie. „Das Geräusch, wenn sich das Metall bewegt ...“ Ihre Stimme bricht.
Geschichte und Gegenwart vermischen sich. „Ich musste an den Holocaust denken und an das Festival am Wochenende, an die Videos von schreienden Menschen, die ich gesehen habe.“ Sie beginnt zu weinen. Ihr Lehrer Ziv Hinik kommt zu ihr, legt ihr einen Arm um die Schulter. Auf Hebräisch redet er sanft auf sie ein. Eden nickt und schluckt. Am Morgen des 7. Oktober hatten Hamas-Terroristen ein Trance-Festival in der Negevwüste angegriffen. Sie blockierten die Zufahrtsstraße und feuerten auf fliehende Partygäste. Die Mutter einer von Edens Freundinnen war auf dem Festival. Nun wird sie vermisst. „Ich denke, sie wurde gekidnappt“, befürchtet Eden.
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Um halb sechs trommelt Lehrer Uli Marienfeld die Schüler:innen zusammen. Sie gehen zur Bushaltestelle, um zum Jugendkeller der Sophienkirche in Mitte zu fahren. Dort steigt am Abend die Abschlussfeier. Noch während die Gruppe auf den Bus wartet, erhält Anat Baibich die Nachricht, dass ein ehemaliger Schüler der Rager High School gestorben ist.
Dieses Gedankenmosaik wurde zunächst am 14. Oktober 2023 im Berliner Tagesspiegel veröffentlicht, mit Erlaubnis aus der Schule nun auch hier im Deutschland Archiv.
Die "ESBZ", wie sich die Evangelische Schule Berlin Zentrum abkürzt, organisiert seit Jahren Schülerfahrten nach Israel und in die Palästinensergebiete. Auch um beide Seiten des Konflikts kennenzulernen und Wege zu eruieren, Brücken zueinander zu bauen. Wann solche Fahrten nun wieder möglich sind? Möglichst bald hofft die Schulleitung, die ein außergewöhnliches Schulmodell praktiziert, zu dem auch viele Zeitzeug:innengespräche gehören. Erst im Spätsommer 2023 war der 93jährige Bibliothekar Kurt Salomon Maier an der Schule zu Gast, aufgewachsen im badischen Kippenheim und von dort 1940 mit seinen Eltern zunächst in ein französisches Lager deportiert. Er überlebte und zog in die USA. Dort erhielt er am 12. Juli 2023, also fast 82 Jahre, nachdem die Nazis ihn seiner deutschen Staatsbürgerschaft beraubt hatten, die deutsche Staatsangehörigkeit im Rahmen einer Zeremonie in der deutschen Botschaft in Washington zurück. Der Projektleiter für solche Schüler:innengespräche und für die Fahrten nach Nahost, Uli Marienfeld, hat die Schulphilosophie der "ESBZ" 2022 in einem Videovortrag auf Youtube eindrücklich erläutert: Externer Link: "Anyone, who does not believe in miracles is not a realist".
Zitierweise: Nora Ederer, "Mein Körper ist hier, aber mein Herz und meine Seele sind immer in Israel“, in: Deutschland Archiv, 17.10.2023, Link: www.bpb.de/541740. Die Erstveröffentlichung erfolgte am 14. Oktober 2023 im Berliner Tagesspiegel unter www.tagesspiegel.de/berlin/israelische-schuler-zu-besuch-in-berlin-mein-korper-ist-hier-aber-mein-herz-und-meine-seele-sind-immer-in-israel-10609468.html. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autor:innen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. (hk)
Die Journalistin Nora Ederer schreibt am liebsten über Umwelt, Klima und Gesellschaft. Sie war freie Autorin für das Ressort Wissen der Süddeutschen Zeitung und arbeitet seit 2023 für den Tagesspiegel.
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