Die Entscheidung Putins, seine politischen Interessen gegenüber der Ukraine durch den Einsatz militärischer Gewalt in Form eines gegen alle in der UNO und der OSZE geltenden Regeln und Vereinbarungen verletzenden Aggressionskriegs durchzusetzen, hat die Anwendung militärischer Gegengewalt in Form eines Verteidigungskrieges provoziert.
Bleibt nur Gegengewalt? Gesinnungsethischer Verteidigungsbellizismus als Herausforderung für die politische Bildung
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Der Krieg in der Ukraine - und jetzt auch in Nahost - geht einher mit der Forderung, eine Haltungsänderung in der Bevölkerung zugunsten militärischer Konfliktbearbeitung zu bewirken. Davon bleiben die politische Bildung als Ganzes und die Friedensbildung im Besonderen nicht unberührt. Hier wird diskutiert, ob politische Bildung im Sinne von Friedensbildung tatsächlich obsolet zu werden droht. Dazu wird exemplarisch aufgezeigt, dass und mit welchen Argumenten eine Haltungsänderung, eine Relativierung der Friedensbildung und eine Ergänzung durch eine „Pädagogik der militärischen Verteidigung“ gefordert werden. Aus der Sicht des Tübinger Friedensforschers Thomas Nielebock darf Friedensbildung nicht aufgegeben werden.
Dieser Verteidigungskrieg geht einher mit der Renaissance einer fast alle politischen Lager umfassenden Rechtfertigung militärgestützter Sicherheitspolitik, der im Falle des russischen Krieges und des ihn leitenden gesinnungsethischen Eroberungsbellizismus den Charakter eines „gesinnungsethischen Verteidigungsbellizismus“
angenommen hat. Dieser lässt sich vom Prinzip der Verteidigung der Ukraine um jeden Preis leiten, ohne dass die Kosten und Risiken sowie die Aussichten einer solchen Politik angemessen diskutiert werden.
Diese als Zeitenwende deklarierte Politik geht einher mit der Forderung nach und der Beförderung von einer Haltungsänderung in der Gesellschaft in Richtung diskursiver, kognitiver und affektiver Militarisierung
Das Selbstverständnis der Bildungsträger und -institutionen, durch politische Bildung die Mündigkeit von Bürger*innen sowie eine kognitive und affektive Werteausrichtung zu befördern, die ein friedliches Zusammenleben ermöglicht, wird dadurch direkt tangiert. Eine zweite Herausforderung ergibt sich für die politische Bildung durch die neue inhaltliche Vorgabe, die die didaktisch-methodische Offenheit pädagogischer Prozesse im Sinne einer Ermöglichungsdidaktik zugunsten einer Erzeugungsdidaktik
Haltungsänderung und Relativierung
Unter der Kapitelüberschrift „Sicherheit in Bildung – die Verantwortung und Rolle unserer Bundeswehr“ beschloss die CDU-Landtagsfraktion in Baden-Württemberg im Frühjahr 2023, der „schleichenden Entfremdung von Bundeswehr und Gesellschaft“ entgegenzuwirken
Die FDP-Fraktion im baden-württembergischen Landtag brachte im April 2023 die Anfrage „Bündnisorientierte Sicherheitspolitik im Rahmen der Demokratie- und Friedensbildung an Schulen – Arbeit der Jugendoffiziere wertschätzen“ ein (vgl. Drucksache 17/4605 des Landtags Baden-Württemberg vom 17.04.2023). Darin wird neben einer Erhebung über die Besuche von Jugendoffizieren an Schulen [1: Im Schuljahr 2021/22 waren es an den öffentlichen baden-württembergischen Schulen 717 Veranstaltungen, die von Jugendoffizieren durchgeführt wurden (vgl. Stellungnahme der Landesregierung vom 08.05.2023 auf die Anfrage der FDP-Fraktion).] auch gefragt, „ob es denkbar wäre, in Anbetracht der Kriegssituation in der Ukraine, Jugendoffizieren feste Deputatseinheiten an öffentlichen Schulen vorzusehen, wo diese über einen Zeitraum bündnisorientierte sicherheitspolitische Aufklärungsarbeit leisten, um hierdurch etwa auch gezielt Desinformationen entgegenzutreten.“ Zudem erbittet die Fraktion Berichte, ob Schulen beziwhungweise Lehrkräfte sich explizit gegen den Besuch von Jugendoffizieren ausgesprochen haben“ und was die Landesregierung „explizit unternimmt, um Vorurteilen vorzubeugen, Barrieren abzubauen und den Einsatz von Jugendoffizieren (…) flächendeckend zu ermöglichen.“ Schließlich wird die Landesregierung gefragt, „ob sie die Arbeit der Jugendoffiziere an Schulen (…) als Teil der Friedensbildung ansieht.“
Geht es der baden-württembergischen CDU-Fraktion darum, das Ansehen der Bundeswehr umfassend zu verbessern, so zielt die FDP-Anfrage offenkundig darauf ab, massiv in den Bildungsauftrag der Schulen einzuwirken, einhergehend zum Ersten mit einer Misstrauensvermutung und einer Kompetenzabsprache gegenüber Lehrer*innen, die offensichtlich nicht in der Lage zu sein scheinen, Desinformationen als solche zu entlarven, zum Zweiten mit einer versteckten Denunziations- und möglicherweise Repressionsabsicht und zum Dritten mit der impliziten Aufforderung, militärgestützte Sicherheitspolitik als Friedensbildung anzuerkennen und damit den Friedensbegriff zu entgrenzen und beliebig werden zu lassen.
Begleitet werden diese politischen Bemühungen einer Haltungsänderung und Relativierung der Friedensbildung aus der Fachwissenschaft durch die Forderung nach einer „Pädagogik der militärischen Verteidigung“. Der Bildungswissenschaftler
„Zu leicht wird davon ausgegangen, Kontrahenten könnten sich auf Augenhöhe begegnen, wo dies faktisch aufgrund der Positionierung einer Seite nicht gegeben ist. Es stellt sich also die Frage, wie Friedens- und Demokratiepädagogik sich neu aufstellen müssen, wenn sie nicht zynisch angesichts von machtvollen Vernichtungskriegen wahrgenommen werden wollen (…). Es wird eine neue Aufgabe der Friedens- und Demokratiepädagogik sein, Lehrkräfte darauf vorzubereiten, dass sie das Recht auf Selbstverteidigung (…) auch als Inhalt lehren. Es ist eine Aufgabe von Lehrkräften selbst dann, wenn diese als Privatpersonen Pazifisten sein mögen. Lehrkräfte haben nicht das Recht, mit einem Verweis auf das Primat gewaltfreier Konfliktaushandlung Aggressoren und Angegriffene auf eine Stufe zu stellen und so den moralischen Standpunkt der Verteidiger zu schwächen. In diesem Sinne muss Friedenspädagogik auch eine Pädagogik der militärischen Verteidigung einschließen (…) Eine Pädagogik der Verteidigung muss sich zudem mit dem Bild des Soldaten beschäftigen. (…) Schule (darf) das Bild des Soldaten nicht an einem einzigen Kontext festmachen, sondern muss auch Beispiele integrieren, in denen der Tod des Soldaten Dankbarkeit verdient.“
So richtig es ist, das Recht auf Selbstverteidigung laut UN-Satzung zu kennen und über die Möglichkeiten dazu im Unterricht nachzudenken, so problematisch ist eine Vorabfestlegung, dass es eben nur militärische Verteidigung ist, die vor machtvollen Invasoren oder gar Vernichtungskriegen schützt.
Das Thema vor allem Jugendoffizieren zu überlassen, wie insbesondere aus dem zitierten CDU-Papier und der FDP-Anfrage deutlich wird, missachtet, dass sich diese nicht systematisch und professionell mit nicht-militärischen oder politischen Alternativen befassen und aufgrund ihrer Rollen- und Interessengebundenheit nicht die pädagogisch geforderte Multiperspektivität bei kontroversen Themen garantieren können.
Die von Abs geforderte „Pädagogik der militärischen Verteidigung“ wäre daraufhin zu befragen, wie sie konkret ausgestaltet werden sollte, ohne in den Verdacht zu kommen eine diskursive, kognitive und affektive Militarisierung zu befördern. Zudem klingt im Text von Abs mit dem Lehren von Dankbarkeit gegenüber den Soldaten eine Opfer- oder Heldentod-Verehrung an, deren Heldentum auch die gesellschaftliche Funktion hat, dem Krieg einen Sinn zu geben. Diese Funktion muss politische Bildung in einer Demokratie offenlegen, selbst wenn dies „den moralischen Standpunkt der Verteidiger zu schwächen“ (Abs 2023, S. 13) scheint – die Imperative der Demokratie müssen Vorrang vor der Kriegslogik und den Imperativen des Verteidigungsbellizismus haben.
Krieg als Herausforderung für die Friedensbildung?
Es ist verständlich, dass die russische Invasion vom 24. Februar 2022 Entsetzen über den skrupellosen Einsatz militärischer Gewalt hervorruft und damit die große Herausforderung für das Nachdenken über Kriegsbeendigung, -vermeidung und -überwindung sowie Frieden unterstreicht.
Dies ist zum einen deshalb irreführend, weil damit der Friedenspädagogik (und auch der Friedensforschung) eine Wirkkraft zugesprochen wird, die sie angesichts ihrer Rezeption in der Politik und ihrer Repräsentation in der Bildungsarbeit nicht beanspruchen kann. Die Kritik an der Unzulänglichkeit ist zum Zweiten unlauter, weil der Krieg aufgrund ganz anderer vorherrschender Paradigmen und gerade unter Missachtung der Empfehlungen der Friedensforschung und den Programmen zur Friedensbildung entstanden ist. Letztlich im klassischen Sicherheitsdenken und deren Logik verhaftet, wurden friedenspolitische Ansätze seitens der Politik weitgehend ignoriert und Friedensbildung als internationaler Auftrag der UNESCO allenfalls stiefmütterlich behandelt.
Deshalb ist vielmehr zu fragen, ob dieser Krieg Putins nicht als das Versagen der traditionellen Diplomatie-, Abschreckungs- und Globalisierungspolitik gewertet werden muss. In ihm kulminiert erneut eine in der (internationalen) Politik schon längere Zeit zu beobachtende Regression auf das Nationale unter dem Motto „Rette sich wer kann!“ (Nielebock 2019), dessen immense humane und materielle Kosten erst bei genauerem Hinsehen offensichtlich werden.
Zum Dritten ist zu fragen, warum angesichts von Kriegen im Globalen Süden gerade in Folge des Krieges in der Ukraine Friedensbildung obsolet erscheinen soll. Die Kriege im Globalen Süden (Irak, Syrien, Jemen, Sudan, Afghanistan) sowie das Vorhandensein von struktureller Gewalt, verweisen Zeitpunkt und Inhalt der Infragestellung der Friedensbildung auf ein eurozentristisches Friedensverständnis, das erst dann den Frieden gefährdet sieht, wenn das Kriegsgeschehen an EU-Europa heranrückt.
Gehen wir von Galtungs Friedensverständnis als der Abwesenheit von direkter und struktureller Gewalt aus
Zum Vierten ist einzuwenden, dass Frieden als normativer Zielwert wohl kaum als überholt angesehen werden kann.
Frieden ist als Norm in vielen internationalen und nationalen Dokumenten kodifiziert und begründet sich angesichts auch der Gräuel des Krieges in der Ukraine täglich neu, wenn man sich die Opferzahlen sowie die humanitären, materiellen, gesellschaftlichen und ökologischen Kriegsfolgen, Zerstörungen und Verwundungen vor Augen hält. Zudem ist eine auf Abschreckung und militärische Verteidigung bauende Sicherheitspolitik friedenspolitisch perspektivlos, da sie den Nicht-Krieg durch „die Waffe an der Schläfe des anderen“ zu sichern trachtet und jede Abweichung von einer solchen Politik als Schwäche ausgelegt wird. Das damit entstehende Sicherheitsdilemma mit Aufrüstungszwang wird perpetuiert.
Schließlich ist noch die Vorhaltung von Abs zu diskutieren, „Friedens- und Demokratiepädagogik scheinen Ansätze für Friedenszeiten vorzulegen. Sie funktionieren, solange gewaltfreie Konfliktlösungen eingefordert werden können. Aber für Kontexte, in denen es einer Partei nicht mehr rational erscheint, gewaltfreie Konfliktlösungen anzustreben, hält diese Pädagogik weniger Angebote bereit.“ (Abs 2023, S. 12) Den Bemühungen, Sicherheitspolitik und militärische Verteidigungsbereitschaft verstärkt in die politische Bildung zu integrieren und die Friedensbildung im besten Fall darum zu ergänzen, im schlechtesten Fall zu ersetzen, liegt die Annahme zugrunde, dass es Situationen gibt, in denen der Rückgriff auf das Militär als „last resort“ oder „ultima ratio“ gerechtfertigt zu sein scheint. Dies wird insbesondere für den Fall angenommen, dass ein „antagonistischer Konflikt“ (ebd., S. 11) vorliegt, in dem der Gegner einen Vernichtungskrieg führt und nur die „Sprache der Gewalt“ versteht. Dies ist in der Tat eine Herausforderung, der sich auch die Friedensbildung widmen muss. Die Feststellung eines naturgegeben gewaltträchtigen Konflikttyps und die Unzulänglichkeit der Friedenspädagogik wirft verschiedene Fragen auf.
Zunächst ist zu fragen, ob es einen solchen essentialistisch definierten Konflikttyp tatsächlich gibt oder ob diese Charakterisierung nicht Folge des gewaltsam ausgetragenen Konflikts ist
Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Debatte um die Charakterisierung des Verhältnisses zwischen den USA und der VR China. In der Tat macht jeder gewaltsam ausgetragene Konflikt deutlich, dass die jeweils praktizierten Politiken der Konfliktparteien versagt und eben keine Friedens-Bedingungen für die Konfliktparteien befördert haben, „die zum einen nicht ihre Existenz gefährden und zum anderen nicht das Gerechtigkeitsempfinden oder die Lebensinteressen einzelner und mehrerer von ihnen so schwerwiegend verletzten, dass diese nach Erschöpfung aller friedlichen Abhilfeverfahren Gewalt anwenden zu müssen glauben.“
Zur Charakterisierung von Konflikten durch intensive Analyse und zur Kontextgestaltung können Friedensforschung und Friedenspädagogik wichtige Beiträge leisten und haben dies in der Vergangenheit immer wieder getan. Wenn jedoch die friedenswissenschaftlichen und -pädagogischen Beiträge (vgl. die jährlich erscheinenden Friedensgutachten unter Externer Link: https://friedensgutachten.de) von der Politik nicht beachtet werden, entwertet dies nicht deren friedensfördernden Gehalt, sondern fällt eher auf jene zurück, die es besser zu wissen glauben.
Schließlich wäre zu klären, ob die scheinbare Hilflosigkeit gegen militärische Invasoren ein struktureller blinder Fleck der Friedenspädagogik ist, weil sie für den Umgang mit solchen Konflikten konzeptionell ungeeignet ist, oder doch eher ein situativer blinder Fleck, der aus der Vernachlässigung von Ideen und Konzepten des nicht-militärischen Behauptungswillens einer Gesellschaft resultiert.
Die implizit behauptete Unzeitgemäßheit von Friedensforschung und -pädagogik ist folglich in mehrfacher Hinsicht unzutreffend und muss deshalb auf ihre politische Funktion hin befragt werden. So besteht zumindest der Verdacht, Friedensforschung und -bildung als unzureichend vorführen zu können, um sich unhinterfragt dem einseitigen Sicherheitsstreben zuwenden zu können.
Zum Verständnis von Frieden und Sicherheit
All dem liegt die Annahme zugrunde, dass Frieden und Sicherheit nicht synonym zu verwenden sind. Es muss deshalb erläutert werden, welchem Friedensverständnis die Überlegungen zur Friedensbildung verpflichtet sind und damit deren Themenfindung auch in Kriegszeiten anleitet.
Die oben genannte Anfrage der FDP, ob die Arbeit der Jugendoffiziere als Teil der Friedensbildung anzusehen sei, erscheint als Aufforderung, Friedens- und Sicherheitspolitik gleichzusetzen. Auch Passagen aus der Antwort des von den Grünen geführten Ministeriums in Baden-Württemberg befördern diese Sichtweise, wenn es resümierend heißt: „Eine Trennung von sicherheitspolitischer Bildung und Friedensbildung ist deshalb aus Sicht des Kultusministeriums weder sinnvoll noch zielführend.“ (Drucksache 17/4605 des Landtags Baden-Württemberg vom 17.04.2023)
Dem steht jedoch eine Debatte in der Wissenschaft entgegen, die zwischen Frieden und Sicherheit und den ihnen zugrundeliegenden Logiken zu unterscheiden versucht (vgl. Birckenbach 2023; Jaberg 2017). Kernpunkt der Differenz zwischen Frieden und Sicherheit ist, dass Frieden als die Charakterisierung eines Beziehungsverhältnisses betrachtet wird, während Sicherheit als eine zumeist sehr subjektive Empfindung über das eigene Bedrohtsein bzw. über Gefahren für eigene ideelle und materielle Werte verstanden wird. Sicherheitspolitik ist dann diejenige Politik, die einseitig (oder in Allianzen) Abhilfe gegen Bedrohungen und Gefahren zu schaffen verspricht. Dass dies auch unter Rückgriff auf Militär und die Konzepte von Abschreckung und militärischer Verteidigungsbereitschaft erfolgt, ist allgegenwärtig und vorherrschende Politik zwischen Staaten
Friedenspolitik dagegen versucht, Sicherheit zwischen den Konfliktparteien, seien es Staaten oder große gesellschaftliche Gruppen in einem Staat, durch Konfliktregelungsmechanismen und -institutionen, Verhaltensnormen und Beschränkung von Gewaltmitteln herzustellen, also genau jenen Kontext zu schaffen, der einen Rückgriff auf militärische Gewalt ausschließen soll. Ziel der Friedensbildung ist die Gewaltminderung und -vermeidung. Frieden ist deshalb mehr als kein Krieg, sondern als ein Zustand zwischen sozialen Akteuren zu definieren, „der gekennzeichnet ist durch die Abwesenheit direkter, verletzender physischer Gewalt und in dem deren möglicher Gebrauch gegeneinander in den Diskursen der Kollektive keinen Platz hat.“
Darüber hinaus ist Frieden seit Galtung zusätzlich als Abwesenheit struktureller Gewalt zu verstehen, was er mit Gerechtigkeit gleichsetzt. So lassen sich vier Beziehungsmuster zwischen Konfliktparteien identifizieren:
1. Krieg,
2. Nicht-Krieg (auch: Kalter Krieg),
3. Frieden (enges Verständnis)
und 4. positiver Frieden, der strukturelle Gewalt aus- und Gerechtigkeit einschließt.
Ein Zustand des Nicht-Krieges, der auf militärischer Abschreckung und Verteidigungsbereitschaft gründet, kann deshalb nicht als Frieden qualifiziert werden, da er eben nicht davon ausgeht, dass im kollektiven Bewusstsein Gewalt in dieser Beziehung – wie beispielweise heute zwischen Deutschland und Frankreich – ausgeschlossen ist. Friedensbildung bleibt aufgrund ihres Selbstverständnisses als Friedensbildung darauf verpflichtet, einen Beitrag zur Gewaltvermeidung und Gewaltüberwindung durch Friedenssicherung, -stiftung und -bewahrung und damit letztlich auch zur Kriegsüberwindung zu leisten. Sie muss antizipierendes Denken und Fühlen befördern, weil sich in unserer Epoche angesichts der schon existierenden und in Planung befindlichen militärischen Zerstörungspotenziale sowie der strukturell angelegten Ausbeutung von Mensch und Natur ein „Lernen durch Katastrophen“ verbietet.
Daraus folgen nun zwei bedeutsame Unterschiede zwischen der Friedenspädagogik und einer „Pädagogik der Sicherheit. Da die Gewaltvermeidung und -überwindung die Zielsetzung der Friedensbildung ist, sucht sie die kognitiven, affektiven und handlungsorientierten Möglichkeiten eines gewaltfreien Konfliktaustrags auszuloten und plausibel zu machen. Dies schließt ein, Alternativen zum gewaltsamen Konfliktaustrag zu entwickeln. Sie sollte sich dabei von den drei friedensliebenden Regeln der Weltbetrachtung leiten lassen, die Olaf L. Müller wie folgt formuliert hat:
1. Wehre dich gegen Dämonisierungen der Gegenseite; versuche immer den Fall aus der Sicht der Gegenseite zu verstehen. Und: Sei skeptisch gegenüber der Selbstgerechtigkeit der Eigenen,
2. Schärfe deinen Blick für unkontrollierbare, irreversible Nebenfolgen eines militärischen Einsatzes (insb. Gefahr eines neuen Weltkrieges),
3. Suche immer nach friedfertigen Alternativen zu einem geplanten Militäreinsatz
.
Zumindest erstere Regel ist mit Sicherheitspolitik nicht kompatibel, da sie gerade für den schlimmsten Fall plant. Die zweite Regel formuliert für Sicherheitspolitiker*innen unerwünschte Bedenken, die der diskursiven Homogenisierung der eigenen Gesellschaft sowie der Legitimation der eigenen (Gegen-)Gewalt entgegenstehen.
Da Konflikte zudem auf allen Ebenen des Zusammenlebens auftreten, sind gruppeninterne, innergesellschaftliche, zwischenstaatliche und globale Konflikte das Bewährungsfeld der Friedenspädagogik. Dies umfasst eine Auseinandersetzung mit Konflikt- und Gewaltpotenzialen im sozialen Nahraum und den Möglichkeiten von deren gewaltfreier Bearbeitung sowie mit Konflikten im internationalen und globalen Rahmen unter der Verpflichtung, Lernprozesse zum gewaltfreien Umgang auch mit diesen Konflikten anzustoßen. Das schließt die kritische Betrachtung des Militärs und dessen Rechtfertigung mit ein.
Militärgestützte Sicherheitspolitik dagegen konzentriert sich auf die Abwehr von Gefahren, die von anderen Staaten oder Gewaltakteuren ausgeht – eben auch unter Einschluss von Gewaltmitteln. Sie ist deshalb keine Ergänzung zur Friedensbildung, sondern selbst deren Gegenstand. Da Friedensbildung deshalb kritische Rückfragen an die vorherrschende Politik stellt, könnte sie politisch unbequem werden. Sie stünde dann im Kreuzfeuer politischer Auseinandersetzungen und muss sich mit den Dilemmata auseinandersetzen, die sich faktisch und in der normativen Bewertung von Politik ergeben. Wie die heutige Debatte über den Krieg in der Ukraine aber deutlich macht, werden kritischen Rückfragen sowie eher friedenslogische und deeskalierende Standpunkte marginalisiert, wenn nicht gar diffamiert und diszipliniert.
Friedensbildung heute
Der russische Krieg gegen die Ukraine stellt dennoch, aber in ganz anderer Hinsicht, eine Herausforderung für die politische Bildung dar. Dieser Krieg macht deutlich, dass es sowohl in der Friedensforschung als auch in der Friedensbildung vernachlässigte und verschüttete Themen sowie bedeutende Leerstellen gibt. Diese müssen angegangen werden.
Was „Friedenspädagogik in Zeiten des Krieges“ bedeuten kann, wird in den 11 Empfehlungen der Berghof Foundation (2022) deutlich gemacht. Hier soll der Fokus aber auf der Frage liegen, was wegen des Krieges neu oder erneut verstärkt Thema der Friedensbildung sein müsste: die derzeitige Sicherheitspolitik, ihre Prämissen, Folgen und Alternativen.
Im kognitiven Bereich besteht das zentrale Defizit darin, sich über die (Un-)Wirksamkeit militärischer Gewalt nicht zu informieren. So wäre zu verdeutlichen, dass es zumindest offen ist, ob militärische Gewalt den Gegner von seinem unerwünschten Verhalten abbringt
Diese Umstrittenheit könnte auch dazu beitragen, das Nachdenken von Alternativen zur militärgestützten Sicherheitspolitik auf die Tagesordnung zu setzen, das heißt daran zu arbeiten, friedenspolitische Ansätze aufzugreifen, weiterzuentwickeln und zu befördern, die es Staaten und Gesellschaften erlauben, externen und internen Aggressoren so zu begegnen, dass dies verantwortungsethisch zu rechtfertigen ist, also nicht zerstört wird, was verteidigt werden soll, und zudem eine künftige Friedensperspektive nicht völlig verschüttet wird. Hier wären Konzepte des zivilen Widerstandes, der sozialen Verteidigung und der defensiven Verteidigung, wie sie in den 1970er und 1980er Jahren bereits diskutiert und im Kampf gegen autoritäre Herrschaftsstrukturen in den letzten Jahrzehnten auch erfolgreich praktiziert wurden, weiterzuentwickeln.
Diese Konzepte
Dazu gehört aber auch, sich Gedanken über eine Neuorganisation der Welt zu machen: weg von einem das Sicherheitsdilemma verstärkenden und einem die Ungleichheit vertiefenden staatlichen Egozentrismus, hin zu neuen Formen des Weltregierens zur Bewältigung der Erderhitzung, des Artensterbens und des Menschensterbens wegen Hunger und Krieg. Zu fragen wäre beispielsweise, wie sich die Vereinten Nationen, die OSZE oder die G20 verändern müssten, um diesen Souveränitätsnationalismus der Staaten und die Dominanzbestrebungen der Großmächte zu Gunsten einer solidarischen Eine-Welt-Vorstellung zurückzudrängen. Dazu sind fundierte historische Kenntnisse und Phantasie notwendig – Ideen sind nicht alles, aber ohne Ideen ist alles nichts!
Diese Aufgabenstellung folgt aus einer kritischen Bewertung der derzeitigen Sicherheitspolitik, die angesichts eines möglichen Scheiterns und angesichts der Kosten, die eine Kriegsführung und die weltweit geplante Aufrüstung der Armeen verursachen, als höchst risikoreich einzuschätzen ist. Insbesondere wäre zu diskutieren, inwieweit eine militärgestützte Sicherheitspolitik im Kriegsfall das zu schützen vermag, was als schützenswert deklariert wurde.
Die sogenannte Weizsäcker-Studie stellte schon 1970 fest: „1. Die Bundesrepublik ist mit konventionellen Waffen nicht zu verteidigen. 2. Der Einsatz nuklearer Waffen in der Absicht der Verteidigung der Bundesrepublik würde zur nuklearen Selbstvernichtung führen.“
Die Studien zum nuklearen Winter aus den 1980er Jahren machen die Kriegsfolgen für den gesamten Planeten deutlich. Dazu gehört auch, die hohen Erwartungen an militärische Gewalt als sogenannte „ultima ratio“ kritisch zu hinterfragen. Wie Putins Krieg oder auch die Kriege in Vietnam, Irak und Afghanistan sowie der Erste Weltkrieg zeigen, sind alle Versprechen eines kurzen Krieges einer Selbstüberschätzung des eigenen Militärs und der Ignoranz gegenüber dem Chaos des Krieges und dessen wirklichen Kosten geschuldet.
Auch müssten die vielfältigen Eskalationsgefahren, die beispielhaft auch das Kriegsgeschehen in der Ukraine mit sich bringt, betrachtet und bewertet werden. Noch ist die Gefahr einer Eskalation nicht ausgeschlossen. Sie ist vielmehr derzeit sehr groß, da beide Kriegsparteien weiterhin die militärische Siegoption verfolgen und darauf hoffen, mit der nächsten Offensive den Gegner zum Einlenken zu bewegen. Da jedoch beide Seiten dies erhoffen, wird diese Strategie des „Eskalierens um zu deeskalieren“
Schließlich sind auch die Nebenfolgen einer militärgestützten Sicherheitspolitik für die gesellschaftliche Entwicklung zu diskutieren. Eine diskursive, kognitive und affektive Militarisierung wirft Fragen auf zur Normverschiebung in unserer Gesellschaft und auf der globalen Ebene, zur Demokratieverträglichkeit der Institution Militär, zur Gewöhnung an die Zulässigkeit von Gewalt bei Konflikten, zur Formierung der Öffentlichkeit durch Medien und politische Bildung, zur Reetablierung traditioneller Geschlechterrollen sowie zur Förderung von kriegerischen Heldenbildern.
Gerade in Zeiten eines Krieges, an dem sich die eigene Gesellschaft – wenn auch indirekt – beteiligt, ist es wichtig in Form einer diskursiven Intervention die moralische Legitimation von Gewalt sowie die beanspruchte eigene moralische Überlegenheit auf den Prüfstand zu stellen. Darüber hinaus ist aufzudecken, wie gerade in Kriegszeiten das staatszentrierte Narrativ des „Gut gegen Böse“, „Fortschritt gegen Rückschritt“, „Moderne gegen Barbarei“ eigene Unzulänglichkeiten verdeckt und die Unterschiede, die in einer Gesellschaft hinsichtlich dieser existentiellen Frage von Krieg oder Nicht-Krieg bestehen, überdeckt.
Krieg erzeugt Angst und Ohnmachtsgefühle. Friedensbildung kommt also auch die Aufgabe zu, diese zu thematisieren und zuzulassen sowie dabei zu helfen, Unsicherheiten zu erkennen, Widersprüche auszuhalten und sich selbst zu schützen, indem Schönes erlebt werden darf und kann
Bedrohungserleben, wie es ein Krieg darstellt, erzeugt verschiedene Auswegstrategien. Die palliative davon ist der Rückzug ins Private, ins Esoterische oder in Verschwörungstheorien, die konstruktive ist die Veränderung der Bedürfnislagen sowie eine Veränderung der Zustände, was umso leichter und emotional befriedigender angegangen werden kann, wenn das eigene Handeln als Teil eines gesellschaftlichen Handelns wahrgenommen wird. Hierdurch gewinnt das eigene Handeln an politischer Macht im Sinne von Hannah Arendt
Neben einem Engagement für Kriegsbeendigung und für eine Friedenspolitik kann dazu auf der persönlichen, lokalen und regionalen Ebene gehören, Austauschmöglichkeiten zu organisieren, Kriegsflüchtlinge und auch Deserteure bzw. Kriegsdienstverweigerer zu begleiten und zu unterstützen, Solidarität zu zeigen und zu leben sowie Kontakte zu den Zivilgesellschaften der Kriegsparteien zu halten, die allesamt die Opfer des Krieges sind (vgl. die Empfehlungen 1, 2, 3, 7, und 10 aus „Friedenspädagogik in Zeiten des Krieges“, Berghof Foundation 2022).
Friedensbildung muss aber auch vermitteln, dass Friedenshandeln im hier skizzierten Sinne zu höchst kontroversen politischen Debatten führen wird, die es notwendig machen, inhaltliche Differenzen zu ertragen, Dilemmata auszuhalten und dennoch die Empathie für das Gegenüber nicht zu verlieren, kurz: damit eine Ambiguitätstoleranz auszubilden, die eben nicht den großen Krieg im Kleinen reproduziert. Sie bleibt also nötiger denn je.
Zitierweise: Thomas Nielebock, "Bleibt nur Gegengewalt?“, in: Deutschland Archiv, 13.10.2023, Link: www.bpb.de/541571. Die Erstveröffentlichung erfolgte in der Fachzeitschrift "Externer Link: Außerschulische Bildung, Heft 3/2023. Link: https://fachzeitschrift.adb.de/ausgabe/frieden_sicherheit/. Alle Beiträge sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen AutorInnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. (hk)
Literatur
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Hermann J. Abs,
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Und eine Reflexion von Eva Quistorp:
sowie (zweiteilig) von Marina Fischer:
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Dr. Thomas Nielebock war bis 2019 an der Universität Tübingen am Institut für Politikwissenschaft im Bereich Internationale Beziehungen, Friedens- und Konfliktforschung tätig. 2019 erhielt er zusammen mit fünf Kolleg:innen aus Tübingen und Freiburg den Landeslehrpreis Baden-Württemberg. Schwerpunkte: Europäische Sicherheit, Konfliktanalyse und Mediation, Rüstung und Abrüstung sowie Ethik der internationalen Beziehungen. Seit 2015 ist er Mitglied der Steuerungsgruppe der Servicestelle Friedensbildung Baden-Württemberg und in diesem Zusammenhang in der Lehrer*innen-Fortbildung tätig. Sein Beitrag "Bleibt nur Gegengewalt?" entstand zunächst für die Fachzeitschrift "Außerschulische Bildung" 3/2023 im Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten e. V. (https://fachzeitschrift.adb.de/).
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