Mythen und Legenden
Dem Kampf um die (Sicherstellung der) Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS)
1. Vernichtung mit Zustimmung des Bürgerkomitees
Vieles deutet darauf hin, dass die erste "Besetzung" der Stasi-Zentrale an der Berliner Normannenstraße am 15. Januar 1990 eine von der Staatssicherheit selbst inszenierte Aktion zur Legendierung der weiteren Aktenvernichtung war. Um ungestört Spuren verwischen zu können, wurde ein Bürgerkomitee benötigt. Triumphierend erklärte jüngst der Mielke-Stellvertreter und letzte Chef der Hauptverwaltung Aufklärung, Werner Grossmann: "da ist uns etliches gelungen in dieser Richtung, wo man heute sagen könnte: Wir haben sie übertölpelt."
Noch Ende März 1990 votierte die Mehrheit des Bürgerkomitees für die Vernichtung der Stasi-Akten. Viele meinten nämlich, mit der deutschen Einheit "vom Regen in die Traufe" zu kommen – aus der SED-Diktatur unter die "Knute des Kapitals" und westlicher "Dienste". Prophezeit wurden gar Gewaltakte bei einer Öffnung der Stasi-Akten. So erklärte der Koordinator des Bürgerkomitees, David Gill, Anfang März 1990: "Ich denke, wenn jeder seine Akte einsehen kann[, ... wird] es viele geben, die dann gewalttätig werden. Das könnte bis zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen, wenn die inoffiziellen Mitarbeiter, die aus solchen Akten ja hervorgehen, [...] bekannt werden."
Dankwart Brinksmeier (© Elke Schöps / Bundesarchiv, Bild 183-1990-0421-313)
Dankwart Brinksmeier (© Elke Schöps / Bundesarchiv, Bild 183-1990-0421-313)
Kurz zuvor war die Vernichtung der elektronischen Datenträger beschlossen worden. Wertvolle Quellen gingen unwiederbringlich verloren. Darin waren Angaben zum Persönlichkeitsprofil von sechs Millionen Menschen enthalten. Doch am Zentralen Runden Tisch hieß es, alles liege schriftlich vor. Dankwart Brinksmeier (SPD) versicherte am 19. Februar 1990 wahrheitswidrig: "was auf den elektronischen Datenträgern drauf ist, ist mindestens noch zweimal schriftlich vorhanden."
Alle diese Angaben waren falsch. Darauf hatte ein hauptamtlicher Mitarbeiter der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS das Bürgerkomitee bereits am 15. Februar hingewiesen – vier Tage vor der Sitzung des Runden Tisches und acht Tage vor der entscheidenden Sitzung der AG Sicherheit. In einem entsprechenden Vermerk hieß es zur Zentralen Personen- und Datenbank, "dass es in der ZPDB Informationen gibt, die nicht im Archiv vorhanden sind."
Vier Wochen später zeichnete der Koordinator des Bürgerkomitees sogar einen Antrag auf "sofortige Vernichtung der Sicherheitskopie der Gesamtregistratur der Kartei F16" sowie weiterer Filmduplikate ab.
Das Vorgehen des Koordinators des Bürgerkomitees ist sowohl hinsichtlich der elektronischen Datenträger als auch hinsichtlich der Vernichtung der "Rosenholz"-Dateien sehr fragwürdig. Ein Hinweis an den Zentralen Runden Tisch oder an seine AG Sicherheit hätte genügt, um die Vernichtung der Datenträger zu stoppen. Entsprechendes gilt für die letzte Sicherungskopie der "Rosenholz-Datei", deren Zerstörung zehn Tage nach der Wahl der Volkskammer verfügt wurde. Danach war nämlich ausschließlich das demokratisch legitimierte Parlament befugt, Entscheidungen über Stasi-Unterlagen zu fällen. Zweifellos herrschten damals schwierige Verhältnisse. In den hier genannten Fällen ging es aber um vieldiskutierte Vorgänge, sodass bewusstes Handeln unterstellt werden kann.
Vor diesem Hintergrund wirkt es befremdlich, dass ausgerechnet David Gill noch 1990 zum Sekretär des Volkskammer-Ausschusses für die Stasi-Auflösung und zum engsten Mitarbeiter des ersten Bundesbeauftragten avancieren konnte. Zudem publizierte er mit Oberkonsistorialrat Ulrich Schröter, der Bischof Gottfried Forck bei der Stasi-Auflösung vertrat, darüber 1991 ein Buch. Es gilt als "Standardwerk" und wird kritiklos zitiert. Dabei ist unverkennbar, dass die Autoren ihr Handeln in ein positives Licht setzen und die Stasi-Auflösung unproblematisch erscheinen lassen.
2. Volkskammer-Wahlen und Stasi-Biotop Normannenstraße
Volkskammer-Tagung. (© Bundesarchiv, Bild 183-1990-0618-405, Fotograf: Karl-Heinz Schindler)
Volkskammer-Tagung. (© Bundesarchiv, Bild 183-1990-0618-405, Fotograf: Karl-Heinz Schindler)
DDR-Innenminister Dr. Peter-Michael Diestel (r.) im Gespräch mit Konrad Weiß vom Bündnis 90/Grüne am 17.6.1990 während der 15. Volkskammer-Tagung.
Den ersten freien Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990 kam auch für den Umgang mit den Stasi-Unterlagen entscheidende Bedeutung zu. Nachdem die Spitzenkandidaten des Demokratischen Aufbruchs und der SPD, Wolfgang Schnur und Ibrahim Böhme, als inoffizielle Mitarbeiter des MfS enttarnt worden waren, vollzog sich in der DDR ein grundsätzlicher Meinungsumschwung. Die Tätigkeit dieser Intensiv-IM machte nämlich deutlich, welche Dimensionen die Spitzelei der Staatssicherheit angenommen hatte. Nun setzte sich die Forderung nach Öffnung der Akten durch. Eine Initiative der SPD-Fraktion zur Überprüfung der Volkskammerabgeordneten gab der Entwicklung nun eine neue Richtung.
Dann aber geschah nichts mehr. Denn Vorsitzender des Überprüfungsausschusses wurde just Dankwart Brinksmeier (SPD), der am Runden Tisch wahrheitswidrig erklärt hatte, alle Angaben auf den elektronischen Datenträgern seien mindestens zweimal schriftlich vorhanden. Möglicherweise spielte Brinksmeier auf Zeit, die genutzt wurde, um in den Archiven belastende Unterlagen verschwinden zu lassen. Rolf Schwanitz (SPD), damals Mitglied des Volkskammer-Überprüfungsausschusses, spricht heute sogar von einem "Ping-Pong-Spiel", bei dem Brinksmeier und Innenminister Peter-Michael Diestel sich Vorwände lieferten, um die Überprüfung zu hintertreiben.
In der Stasi-Zentrale herrschten damals schier unglaubliche Zustände. So konnten aus dem Zentralarchiv jederzeit Akten verschwinden. Dort waren 86 Personen tätig: 78 hauptamtliche Stasi-Kader und acht Angehörige der Staatlichen Archivverwaltung, der vor allem treue SED-Genossen angehörten.
Der Leiter des Staatlichen Komitees, Günter Eichhorn, seit 1970 IM, beriet sich täglich mit den Stasi-Generälen und arbeitete nach deren Weisungen.
In der Öffentlichkeit avancierte Innenminister Peter-Michael Diestel zum Buhmann. Das war nicht unberechtigt, denn der Jurist verfügte weder über politische noch über administrative Erfahrung. Als Diestel in die Kritik geriet, agierte er ungeschickt und scharte Stasi- und SED-Kader um sich, die ihm nach dem Mund redeten. Zwar sicherlich kein "Taugenichts"
3. Schutz der Bürger vor ihren Akten und Stasi-Amnestie
Der Schriftsteller Stefan Heym bei der Vorstellung seiner Biografie "Nachruf" in der Berliner Karl-Marx-Buchhandlung. (© Thomas Uhlemann / Bundesarchiv, Bild 183-1990-0621-042)
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Der Schriftsteller Stefan Heym bei der Vorstellung seiner Biografie "Nachruf" in der Berliner Karl-Marx-Buchhandlung. (© Thomas Uhlemann / Bundesarchiv, Bild 183-1990-0621-042)
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Im April 1990 wurde eine Regierungskommission gebildet, um Diestel in Stasi-Angelegenheiten zu beraten. Ihr gehörten Persönlichkeiten wie Stefan Heym und Walter Janka an, aber auch Juristen aus dem DDR-Staatsapparat. Letztere erwiesen sich bald als inkompetent. So führten in der Kommission Kirchenvertreter wie Ulrich Schröter das Wort. Für das Stasi-Unterlagen-Gesetz griff die Kommission bezeichnenderweise auf einen Entwurf des von der Stasi dominierten staatlichen Komitees zurück. Diese "Grundorientierung" sah die Beseitigung praktisch aller personenbezogenen Unterlagen innerhalb von sechs Monaten vor. Das hätte die Vernichtung fast aller Akten im Laufe des Jahres 1991 bedeutet.
Schröter forderte am 5. Juli 1990, "bald ein Gremium aus parteiunabhängigen integren Persönlichkeiten zu schaffen, dem möglichst auch kompetente Vertreter beider großer Kirchen angehören sollten, das die Stürme der Zeit übersteht und ein höchstmögliches Maß an Sicherheit bezüglich des verantwortungsbewussten Umgang mit personenbezogenem Schriftgut des ehemaligen MfS garantiert."
An den Beratungen der Regierungskommission nahmen bald bekannte Akteure wie David Gill und Günter Eichhorn teil. Hinzu kam als Vertreter der Bundesregierung Eckart Werthebach aus dem Innenministerium. Am 2. August 1990 erläuterte er laut Protokoll "den Standpunkt der Regierung der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich der Akten von Bundesbürgern. Er betonte, dass diese vom ehemaligen MfS rechts- und menschenrechtswidrig erarbeitet worden sind, folglich keine Rechtsgültigkeit besitzen und daher zu vernichten seien, um betroffene Bundesbürger von dieser Last zu befreien."
Dieses Ansinnen hatte allerdings keine Chance, umgesetzt zu werden. Es dokumentierte nur jenen "clash of cultures", der die weiteren Auseinandersetzungen um die Stasi-Akten prägte. Denn in Bonn war daran zunächst niemand interessiert. Das änderte sich erst, als durch Überläufer bekannt wurde, dass die Stasi außerordentlich viel über die bundesdeutsche Politik wusste. So war die Kommunikation der Bundesregierung mit den wichtigsten Bundesbehörden ebenso belauscht worden wie 25.000 Telefonanschlüsse von Politikern, Managern und Geheimnisträgern.
Eckart Werthebach hat jetzt erklärt, dass er für die Bundesregierung intensive Verhandlungen mit der Generalität der Staatssicherheit führte. Er wollte damit angeblich die Friedliche Revolution absichern.
Die SPD-Fraktion in der Volkskammer jedoch lehnte eine Amnestie für Mitarbeiter der Staatssicherheit rundweg ab. Für die Sozialdemokraten war die Geheimpolizei der SED kein legitimer Verhandlungspartner. Die SPD-Fraktion im Bonner Bundestag folgte dieser Vorgabe ihrer Parteifreunde in (Ost–)Berlin.
4. Auseinandersetzungen um ein Stasi-Unterlagen-Gesetz
Walter Janka (2.v.l.) mit seiner Frau und seinen Kindern bei einer Lesung im Deutschen Theater im Oktober 89. (© Rainer Mittelstädt / Bundesarchiv, Bild 183-1990-0105-018)
Walter Janka (2.v.l.) mit seiner Frau und seinen Kindern bei einer Lesung im Deutschen Theater im Oktober 89. (© Rainer Mittelstädt / Bundesarchiv, Bild 183-1990-0105-018)
Die Diestel-Kommission beriet weiter über ein Stasi-Unterlagen-Gesetz. Stefan Heym und Walter Janka setzten durch, dass Aktenvernichtungen nicht mehr vorgesehen wurden. Der überarbeitete Entwurf sah allerdings vor, die Stasi-Unterlagen ausschließlich für Zwecke der Strafverfolgung, Rehabilitierung und Abgeordneten-Überprüfung zu nutzen. Wissenschaft, Forschung und Medien sollten keinen Zugriff erhalten. Bürgern sollte nur dann Auskunft erteilt werden, wenn sie Verfolgungsmaßnahmen durch Inhaftierungen oder Verurteilungen bereits nachweisen konnten. Eine Überprüfung, ob die Staatssicherheit sie unterhalb dieser Ebene bespitzelt, verfolgt oder drangsaliert hatte, war ebenso ausgeschlossen wie jede Akteneinsicht.
Die Regierung de Maizière brachte diesen Entwurf am 19. Juli 1990 in die Volkskammer ein. Vier Wochen zuvor war ein Sonderausschuss zur Auflösung des MfS konstituiert worden, dessen Vorsitzender Joachim Gauck wurde. Ende Juli leitete der Ausschuss die Beendigung der unhaltbaren Zustände in der Stasi-Zentrale ein. Die Aktenvernichtungen endeten aber erst im September.
Für die Bundesregierung widersprach Eckart Werthebach dieser Gesetzesvorlage am 21. August 1990 per Telefax "nachdrücklich" und forderte erneut eine "differenzierte Vernichtungsregelung".
Damit war die Entscheidung gefallen. Die am 18. September 1990 unterzeichnete Zusatzvereinbarung zum Einigungsvertrag enthielt den ausgehandelten Kompromiss. In einem Telefax vom folgenden Tag bestätigte der westdeutsche SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel, dass hinsichtlich der Stasi-Akten zusätzlich nur festgelegt worden war, "die Nutzung und Übermittlung von Daten für nachrichtendienstliche Zwecke" auszuschließen.
Ingrid Köppe und Reinhard Schult auf dem Weg in das Büro des Neuen Forums in der Rosa-Luxemburg-Straße. (© Hartmut Reiche / Bundesarchiv, Bild 183-1990-0228-305)
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Ingrid Köppe und Reinhard Schult auf dem Weg in das Büro des Neuen Forums in der Rosa-Luxemburg-Straße. (© Hartmut Reiche / Bundesarchiv, Bild 183-1990-0228-305)
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Bis heute wird kolportiert, nur dadurch seien die Akten erhalten und geöffnet worden. So heißt es etwa auf der Website über Jugendopposition in der DDR: "Beide deutsche Regierungen planten im Einigungsvertrag die Schließung der Akten für mindestens 30 Jahre. Durch die den ganzen Monat andauernde Besetzung, an der unter anderem die Bürgerrechtler Till Böttcher, Frank Ebert, Christian Halbrock und Tom Sello beteiligt sind, wird die dauerhafte Öffnung der Stasi-Aufzeichnungen für Bürger und Forscher bewirkt."
Angesichts der historischen Abläufe meinte Reinhard Schult schon vor einigen Monaten ironisch, er habe bei der Besetzung im September 1990 wohl umsonst gehungert. Aber auch das stimmt nicht ganz, bewirkten die Besetzer doch mit ihrer Aktion unter der Parole "Meine Akte gehört mir!", die auf enormes Medien-Interesse stieß, dass das im Volkskammer-Gesetz noch fehlende Recht auf Akteneinsicht im 1991 verabschiedeten Stasi-Unterlagengesetz, dem StUG, verankert wurde. Für die wissenschaftliche Forschung bedeutete das StUG allerdings einen Rückschritt hinter die klaren Regelungen der Volkskammer, erhielt sie doch keinen unmittelbaren Zugriff auf die Akten und konnte diese nur anonymisiert einsehen.
5. Die letzte Intervention der Stasi
Am 30. August 1990 kam es zu einer letzten Intervention des stellvertretenden Leiters des Staatlichen Komitees, Klaus Eichler, bei Peter-Michael Diestel zu Gunsten der Staatssicherheit. Eichler war "der Mann fürs Grobe". So hatte er der AG Sicherheit des Runden Tisches wahrheitswidrig erklärt, dass alle IM-Listen vorlägen und ein Ausdruck der elektronischen Datenträger nicht erforderlich sei. Für die Staatssicherheit und das Staatliche Komitee ging es Ende August ums Ganze. So verlangte Eichler in einer "Beratungsgrundlage" für Diestel, "die Tätigkeit des 'Gauck-Ausschusses' zur Kontrolle der Auflösung des MfS vor einem Missbrauch aus wahltaktischen Gesichtspunkten – insbesondere Personaldaten –" zu schützen.
Weiter forderte Eichler: "Sicherung der Gebäude und des Archivs [in der Stasi-Zentrale] durch Kräfte, die dem Bund unterstehen. Es besteht die Gefahr, dass aus dem Bürgerkomitee/Operative Gruppe des Komitees extremistische Kräfte unter Nutzung exekutiver Befugnisse aus dem Bereich des Innenstadtrates ab Inkrafttreten des Vereinigungstages 'die Macht übernehmen'." Und: "Auflösung der Operativgruppe im Komitee und Aufhebung der Befugnisse radikaler Kräfte in den Arbeitsstäben." Hier rechnete das staatliche Komitee mit seinen ärgsten Feinden ab: der Gruppe des Bürgerkomitees um Reinhard Schult und der (Ost-)Berliner Polizei unter Innenstadtrat Thomas Krüger (SPD). Eichler forderte also nicht weniger als den Schutz des Stasi-Biotops an der Normannenstraße vor DDR-Oppositionellen und Berliner Polizisten durch den Bund!
Um das zu erreichen, bediente er sich einer Begrifflichkeit aus den Hochzeiten der westdeutschen Berufsverbote-Politik, die der Europäische Gerichtshof für menschenrechtswidrig erklärt hat.
6. Resümee
Was sich bei der Stasi-Auflösung 1990 abspielte, war ein "Polit-Thriller" – und eine Farce. Die erste "Besetzung" am 15. Januar stellt sich immer mehr als Inszenierung dar. Die Staatssicherheit benötigte zur Legendierung der weiteren Aktenvernichtung ein Bürgerkomitee. Nur mit Zustimmung von dessen Koordinator konnte die Vernichtung der elektronischen Datenträger und der letzten vollständigen Kopie der später so genannten "Rosenholz"-Datei erfolgen. Was dann folgte, war ein Stück aus dem Tollhaus: Hunderte alter Stasi-Kader wurden dafür angestellt, Unterlagen zu zerstören oder "vorzuvernichten", die heute mühsam rekonstruiert werden müssen. Bis Mai residierten in der Stasi-Zentrale vier hohe Stasi-Generäle – und bestimmten über die Abwicklung ihrer Geheimpolizei.
Es war grotesk, dass die Bundesregierung mit der hohen Stasi-Generalität verhandelte, weil sie die Veröffentlichung abgehörter Telefonate fürchtete. Die Regierung war sogar bereit, den Forderungen nach Amnestie zu entsprechen. Das verhinderte die SPD-Fraktion in der Volkskammer. Es war "eine Komödie voll tragischer Züge" (Stefan Wolle), als sich für die Erarbeitung eines Stasi-Unterlagen-Gesetzes eine ganz große Koalition aus Staatssicherheit, Bundesregierung und einigen Kirchenvertretern formierte, um die Menschen vor ihren Akten zu schützen. Die Volkskammer hielt dagegen. Am Ende stand die Einsetzung eines Bundesbeauftragten.
Der Kampf hinterließ tiefe Spuren. Jene Teile des Bürgerkomitees, die es mit der Auflösung der Stasi und der Öffnung von deren Akten ernst meinten, wurden als "radikal" und "extremistisch" diffamiert. Dem folgte die neue Bundesbehörde, die sich eher auf die Mitarbeit von Stasi-Kadern aus dem Staatlichen Komitee als auf die von DDR-Oppositionellen stützte. Angesichts dieser Feststellung erschreckt die Bilanz des Umgangs mit den Stasi-Unterlagen umso mehr: Denn nach vorsichtigen Schätzungen des Verfassers handelt es sich bei den erhaltenen 111 Kilometern Akten wohl nur um die gute Hälfte des ursprünglichen Bestandes. Allein die Verluste in den Beständen jener Diensteinheiten, die oben aufgeführt wurden, dürften über 70 Kilometer Akten ausmachen.
Es ist an der Zeit, diesen Tatsachen ins Auge zu sehen. Damit steht keineswegs die Existenz der Bundesbehörde in Frage, stellt doch die Gewährleistung der Akteneinsicht noch auf Jahrzehnte eine Aufgabe dar, die kein reguläres Archiv lösen kann. Aber die Mythen und Legenden um die Vorgeschichte der Bundesbehörde müssen hinterfragt werden. Das gilt auch, weil die Behörde sich selbst gern zum Monument der Friedlichen Revolution stilisiert.