Das Projekt
Für das Schulfach Geschichte ist das Lehrbuch eines der wichtigsten Unterrichtsmittel. Das gilt für Schüler und für Fachlehrer. Die 16 Kultusministerien in den Ländern müssen die Lehrwerke offiziell für den Gebrauch an Schulen zulassen; wichtigste Kriterien sind dabei die Orientierung an der Verfassung sowie an den geltenden Lehrplänen und natürlich die fachwissenschaftliche Richtigkeit. Die Berücksichtigung dieser Bedingungen machen also das Geschichtsbuch zu einer Art Kontrolle für die Erfüllung des Lehrplans – für Schüler und für Lehrer.
Diese Vorbemerkung ist notwendig, um den Stellenwert eines gemeinsamen deutsch-polnischen Geschichtsbuches zu erkennen. (Darauf wurde bereits bei der Besprechung des 2006 erschienenen deutsch-französischen Geschichtsbuches hingewiesen.
Histoire/Geschichte (© Ernst Klett Verlag, Stuttgart/Leipzig)
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Das deutsch-französische Lehrwerk stand offensichtlich Pate für ein flächendeckendes deutsch-polnisches Projekt
Zur Vorbereitung, Erarbeitung und Realisierung des Projektes wurde eine deutsch-polnische Arbeitsgruppe eingerichtet. Diese setzt sich aus einem Steuerungsrat und einem Expertenrat zusammen. Ersterem gehören Vertreter der zuständigen Ministerien sowie die beiden Vorsitzenden der gemeinsamen Schulbuchkommission und die wissenschaftlichen Koordinatoren an. Der Expertenrat besteht aus Historikern und Geschichtsdidaktikern beider Länder, er wird von den beiden Vorsitzenden der Schulbuchkommission geleitet. Bei dieser Zusammensetzung muss bedauert werden, dass kein Geograf dem Expertenrat angehört; es ist fast eine Binsenweisheit, dass sich historische Prozesse und Entwicklungen nicht nur in der Dimension Zeit, sondern auch in der Dimension Raum abspielen, und das gerade in der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Ferner sind Hochschulen und Universitäten überrepräsentiert, es fehlen Lehrer mit Unterrichtspraxis – etwa Vertreter des Geschichtslehrer- und Geografielehrerverbandes: Nur sie können einschätzen, was im Unterricht machbar ist, wenn das Geschichtsbuch für die Sekundarstufe 1 geplant wird, also in der Regel die nicht einfachen Jahrgänge der Klassenstufen 7–10.
Die Empfehlungen
Am 1. Dezember 2010 wurden in Warschau vom Steuerungsrat und Expertenrat die Empfehlungen für das gemeinsame deutsch-polnische Projekt vorgestellt. Als grundsätzliche Zielsetzung wird beschrieben: Es soll ein Lehrwerk entstehen, dass die Geschichte beider Völker und der deutsch-polnischen Beziehungen im europäischen und im weltgeschichtlichen Rahmen darstellt. Für deutsche Schüler soll das historische Bewusstsein aus der bis heute dominanten Westbindung nach Osten erweitert werden, denn Polen ist immer noch für viele Deutsche ein weißer Fleck auf der Landkarte. Polnische Schüler erhalten die Möglichkeit, die Geschichte des eigenen Landes aus der Perspektive des westlichen Nachbarn Deutschland kennenzulernen. Auch aufgrund der sehr unterschiedlichen Sprachkompetenzen sind mehr Polen über Deutschland besser informiert als umgekehrt.
Die Empfehlungen enthalten im Einzelnen das Konzept zur Strukturierung und Gestaltung der Epochen in 5 Kapiteln: Ur- und Frühgeschichte und Antike – Mittelalter – Frühe Neuzeit – 19. Jahrhundert – 20. Jahrhundert. Das gemeinsame Geschichtsbuch wird also aus mehreren Bänden bestehen. Inhaltlich liegt der Schwerpunkt auf den letzten Jahrhunderten, die für die Beziehungsgeschichte beider Völker die tiefsten und schrecklichsten Einbrüche brachten. Jedem Kapitel ist eine fachliche und didaktische Einführung mit beachtlichem Anspruchsniveau vorangestellt – mit Sicherheit eine Herausforderung für die Lehrer, die das dann im Unterricht umsetzen müssen. Auf die Einführungstexte folgen in tabellarischer Form konkrete Inhalte, die sich an den Lehrplänen in Deutschland und in Polen orientieren. Mit diesen Vorgaben wird nichts festgezurrt oder – wie manch Skeptiker vermuten mag – gar amtlich und offiziell angewiesen. Der Staat Polen und der Staat Deutschland verfügen nicht über die Deutungshoheit der gemeinsamen Beziehungsgeschichte! Die Freiheit des Schulbuchautors, orientiert an den Empfehlungen, Lehrplänen und der eigenen Fachkompetenz, wird in seiner Gestaltungsfreiheit nicht angetastet. Diese bezieht sich zentral auf inhaltliche Ergänzungen. Das ist für die Transparenz beim Prozess der Bearbeitung von äußerster Bedeutung.
Für die Erarbeitung sind je ein polnischer und ein deutscher Schulbuchverlag vorgesehen, die sich bewerben können. Der erste Band soll nach Möglichkeit zum Schuljahr 2013/14 erscheinen. Ob dieser Termin realistisch ist, wird der Gang der Bearbeitungen durch die Autoren zeigen. Mit Ur- und Frühgeschichte und Antike dürfte das gelingen, da es damals noch kein deutsch-polnisches Verhältnis gab. Ab dem Mittelalter wird sich das Szenarium dann ändern.
Überlegungen
Pressekonferenz (© Steffen Kugler / Bundesregierung, B 145 Bild-00234634)
Pressekonferenz (© Steffen Kugler / Bundesregierung, B 145 Bild-00234634)
Angela Merkel (r.) und Bronislaw Komorowski (l.) auf einer Pressekonferenz im Warschauer Schloss am 7.2.2011.
Anhand einiger konkreter Beispiele soll gezeigt werden, wo Ergänzungen, Erweiterungen denkbar und damit möglich wären.
Im Kapitel Mittelalter werden als Themen der Deutsche Orden in Preußen und der Konflikt zwischen Polen und dem Deutschen Orden genannt. Hier ist es geradezu geboten, die symbolische Bedeutung der Schlacht von Tannenberg 1410 für Polen, und die ganz andere Sicht auf Tannenberg für die Deutschen zu behandeln, die damit – wenn überhaupt – die Schlachten des Ersten Weltkrieges in Ostpreußen und den Namen Paul von Hindenburg verbinden. Die Instrumentalisierung von Tannenberg durch die Nationalsozialisten wäre ein weiterer Aspekt. Im Kapitel Mittelalter ist ferner das Thema "Die deutsche Siedlung im Osten Europas" vorgesehen; wichtig deshalb, weil damit nicht nur die Territorien der ehemaligen Ostgebiete, sondern die deutschen Siedlungsinseln jenseits der Reichsgrenzen erfasst werden. Der überwiegend friedfertige Prozess sowie die Entwicklung der Kulturlandschaften von Ostpreußen über Westpreußen, Pommern, Ost-Brandenburg und Schlesien sind aus deutscher Sicht weitere wichtige Aspekte.
Ein Blick in das 20. Jahrhundert: Hier sind ein Thema die Grenzverschiebungen nach 1945. Dabei sollten die räumlichen Veränderungen in den Kulturlandschaften Ostmittel- und Mitteleuropas sowie die unterschiedlichen Positionen in der Frage der endgültigen Anerkennung der deutschen Ost- und polnischen Westgrenze verdeutlicht werden (Potsdamer Protokolle 1945 und/oder Zwei-plus-vier-Vertrag 1990). Auch der Begriff "Vertreibung" kann nicht durch "Zwangsmigration" ersetzt werden; vielmehr sollten jene Begriffe Erwähnung finden, die für alle diese Vorgänge im 20. Jahrhundert benutzt werden, und das sind nicht nur die Vertreibungen der Polen und der Deutschen. Ein weiterer Punkt darf nicht fehlen: Die überraschend schnelle Eingliederung von über zwölf Millionen Vertriebenen und Flüchtlingen in die bundesrepublikanische Gesellschaft und auch in das sozialistische System der DDR sind konstitutive Merkmale der deutschen Entwicklungen seit 1945.
Die genannten Beispiele zeigen nicht etwa Lücken oder bewusstes Ausklammern, sondern verdeutlichen den Gestaltungsspielraum der einzelnen Autoren. Dabei wird erwartet, dass es fachlich versierte Leute sein werden, die auf der Grundlage der Ergebnisse der polnischen und der deutschen historischen Forschung ihre Arbeit betreiben und nicht irgendwelchen ideologisch oder nationalistisch gefärbten Vorgaben folgen. Geschichtspolitik mit diesem Lehrwerk ist ausgeschlossen.
Es wird mit Sicherheit keine einfache Arbeit werden, denn schon die didaktische Kultur in Polen und die in Deutschland unterscheiden sich erheblich voneinander. In Polen steht eher das abfragbare Wissen im Vordergrund, in Deutschland zwar auch die Kenntnis der Fakten, aber darüber hinaus die Bildung eigener Urteile durch Diskussion und Dialog. Inhaltlich ist die deutsch-polnische Geschichte der vergangenen zwei Jahrhunderte ein schwieriges Erbe mit verschiedenen Ausgangspunkten: In Polen ist Geschichte eher Opfergeschichte, in Deutschland Tätergeschichte. Auch sind die Erinnerungsbilder sehr unterschiedlich; am Beispiel der Stadt Danzig kann das abgelesen werden: Beginn des Zweiten Weltkrieges, Freiheitsbewegungen der Werftarbeiter mit Gründung der Gewerkschaft Solidarność, Anfang vom Ende der kommunistischen Regimes – auch der DDR. Deutsche erinnern Danzig historisch eher als Freie Stadt und im Mittelalter als Mitglied der Hanse und ordnen sie architektonisch vor allem der norddeutschen Backsteingotik zu; in Polen wird diese "europäische Backsteingotik" genannt.
Das Ziel eines deutsch-polnischen Geschichtsbuches "muss angesichts des konfliktträchtigen deutsch-polnischen Verhältnisses im 19. und 20. Jahrhundert sein, dass es in Polen und in Deutschland auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens ruht. Dieser muss akzeptieren, dass zur tausendjährigen Beziehungsgeschichte auch in Zukunft unterschiedliche Geschichtsbilder und auch Erinnerungen bestehen bleiben."