Familienbiographisches, Migrationserfahrungen der Eltern- und Großelterngeneration und das Erleben der Zweiten Generation
Sharon Adler: Deine Eltern sind 1997 als sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge aus Moldawien nach Deutschland gekommen. Welche jüdischen Traditionen haben sie in der Sowjetunion gelebt und nach Deutschland mitgebracht?
Esther Lermann: In der Sowjetunion war Religion nicht gerne gesehen, weswegen meine Eltern und ihre Familien nicht viele jüdische Traditionen aktiv ausleben konnten. Diese wurden durch das Singen jiddischer Lieder meines Großvaters mütterlicherseits oder auch durchs Essen weitergegeben. Es gab Speisen wie gefilte Fisch und meine Großmutter hat zu
Meine Großeltern haben untereinander Jiddisch gesprochen, wenn es um wichtige Dinge ging, die die Kinder nicht wissen sollten. Meine Eltern haben erst begonnen, Jiddisch zu verstehen, als sie anfingen, Deutsch zu lernen. Die russische Kultur ist bei uns zuhause heute ein großer Bestandteil im Alltag, kombiniert mit einigen jüdischen Traditionen.
Sharon Adler: Weißt du, wie lange im Voraus sie ihre Emigration geplant haben?
Esther Lermann: Meine Mama erzählte mir, dass sie die Dokumente bestellt haben und erst fünf Jahre später die Bestätigung für Deutschland und für Amerika bekommen haben. Sie haben sich dafür entschieden, nach Deutschland zu gehen. Während dieser fünf Jahre, in denen sie gewartet haben, ist eine meiner Omas gestorben. Der Grund für die Emigration war der Bürgerkrieg in Transnistrien, das ist der Teil Moldawiens, aus dem meine Familie kommt. Sie wollten ein besseres Leben führen.
Sharon Adler: Du selbst bist 1997 in Chemnitz geboren. Wo und wie haben du und deine Familie in Chemnitz damals gelebt?
Esther Lermann: Meine Mama ist mit meinem Papa nach Deutschland gekommen, als sie im siebten Monat schwanger war. So wie die meisten jüdischen Kontingentflüchtlinge haben sie die ersten paar Jahre in Wohnheimen gewohnt, bis sie dann irgendwann eine eigene Wohnung bekommen haben.
Sharon Adler: Wie haben sich deine Eltern in Deutschland, in einem fremden Land mit einer fremden Sprache, zurechtgefunden? Mussten sie sich beruflich neu orientieren oder wurden ihre beruflichen Abschlüsse in Deutschland anerkannt? Wo haben sie Arbeit gefunden, wie schwer oder leicht war es für sie, beruflich Fuß zu fassen?
Esther Lermann: Es war am Anfang sehr schwer für sie. Sie waren allein mit einem Neugeborenen. Deutsch war für sie eine neue Sprache, und sie haben am Anfang gar nichts verstanden. Mein Papa hat Deutschkurse besucht, während meine Mama die ersten beiden Jahre mit mir zu Hause war, bevor sie Deutschkurse belegen konnte. Ihre Abschlüsse wurden zwar anerkannt – meine Mama ist Gießerei-Ingenieurin und mein Papa Bauingenieur. Als sich meine Mama allerdings damit bewerben wollte, hat man ihr gesagt, dass Frauen in Deutschland in solchen Berufen nicht arbeiten würden. Sie hat dann verschiedene Computer-Kurse absolviert, ein Praktikum in einer Umwelt-Bibliothek, und hat danach angefangen, bei einer Firma, die Verbindungen zu Russland hatte, im Vertrieb zu arbeiten. Dementsprechend war sie mehrmals im Jahr auf Dienstreisen in Russland und war sehr lange in verschiedenen Firmen im technischen Vertrieb tätig.
Sharon Adler: Wann hast du gelernt Deutsch zu sprechen?
Esther Lermann: Ich habe in meinen ersten Lebensjahren ausschließlich Russisch gesprochen, das ist meine Muttersprache. Als ich drei Jahre alt war und in den Kindergarten gekommen bin, konnte ich kein Wort Deutsch. Für mich war es in der ersten Zeit schwierig, zurechtzukommen. Ich erinnere mich daran – das war zu der Zeit, wo meine Großeltern auch schon in Deutschland waren –, dass mich meine Eltern in den Kindergarten brachten und ich geweint habe, weil ich nicht dableiben wollte.
Auch wenn es für mich am Anfang schwierig war, so ist es für Kinder einfacher als für die Eltern, eine Sprache zu lernen. Ich hatte aber nie das Gefühl, dass ich für sie etwas auf Deutsch übernehmen musste, denn sie konnten es zu dem Zeitpunkt schon gut sprechen und verstehen. Es gibt natürlich immer ein paar Feinheiten, wo man vielleicht etwas nicht richtig versteht, aber meine Eltern kamen ganz gut selber zurecht.
Jüdische Gemeinde Chemnitz, Kindheit und Jugend
Sharon Adler: Wann und wodurch hast du begonnen, dich aktiv mit deiner jüdischen Identität zu beschäftigen? Welche Erinnerungen hast du an den Religionsunterricht und an deine Bat Mizwa in der Jüdischen Gemeinde Chemnitz?
Esther Lermann: Als ich zwölf Jahre alt war, haben meine Eltern mich in die Gemeinde mitgenommen. Sie meinten, ich solle es mir erst einmal anschauen und könne weiter dort hingehen, wenn es mir gefällt. Dass ich die jüdische Kultur besser kennenlerne, war für sie wichtig. Weil ich mit zwölf Jahren relativ spät dran war, habe ich gleich damit angefangen, für meine Bat Mizwa zu lernen.
Den Externer Link: Religionsunterricht
Meine Bat Mizwa habe ich gemeinsam mit zwei Freundinnen gemacht. Es war eine tolle Erfahrung für uns. Seitdem kommen wir zu den verschiedenen Feiertagen in die Gemeinde. Das Judentum ist ein Teil unserer Identität. Es gehört zum persönlichen Weg, seine Wurzeln zu entdecken. Dementsprechend war für mich der Religionsunterricht der erste Zugang zum Judentum. Wir haben die fünf Bücher Mose gelesen und auch darüber gesprochen, wie man sie auf das heutige Leben übertragen kann.
Sharon Adler: Wie haben deine Eltern deine Bat Mizwa erlebt?
Esther Lermann: Sie sind vorher nicht oft in die Synagoge gegangen, und wenn ich am Schabbat die Gebete gesungen habe und sich unsere Familie und Freund*innen in der Synagoge versammelt haben, um zusammen zu feiern, war das für sie schon etwas Besonderes. Dass mein Bruder seine Bar Mizwa und ich meine Bat Mizwa hatten, war der Anfang davon, in unser Elternhaus die Tradition zurückzubringen, die in unserer Familie vor langer Zeit bestanden hatte, aber verloren gegangen war, weil es nicht erlaubt war, sie zu pflegen und auszuüben. Durch das Wissen über die jüdische Religion und Kultur, die wir im Religionsunterricht oder in den Sommerferienlagern erworben haben, konnten wir langsam anfangen, bestimmte neue Traditionen für uns zu entwickeln und Feiertage auch zu Hause zu feiern, die wir früher nicht gefeiert haben.
Jüdische Jugendarbeit, Ehrenamtliches soziales und politisches Engagement
Sharon Adler: Du engagierst dich seit deinem 16. Lebensjahr in der jüdischen Jugendarbeit und bist seit 2022 die Leiterin der Kinder- und Jugendarbeit im Jugendzentrum der Jüdischen Gemeinde Chemnitz. Worin besteht deine Arbeit?
Esther Lermann mit weiteren Gemeindemitgliedern der Jüdischen Gemeinde Chemnitz beim Aufbau der Sukka. Zweite von links ist die Vorsitzende der Gemeinde, Dr. Ruth Röcher, dritte von rechts die Zeitzeugin und langjähriges Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Chemnitz, Renate Aris. Esther Lermann: „Viele Kinder und Jugendliche haben im Elternhaus keinen Bezug zum Judentum. Durch verschiedene Aktivitäten wollen wir erreichen, dass sie in der Gemeinde eine Gemeinschaft finden, in der sie sich wohlfühlen.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Esther Lermann mit weiteren Gemeindemitgliedern der Jüdischen Gemeinde Chemnitz beim Aufbau der Sukka. Zweite von links ist die Vorsitzende der Gemeinde, Dr. Ruth Röcher, dritte von rechts die Zeitzeugin und langjähriges Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Chemnitz, Renate Aris. Esther Lermann: „Viele Kinder und Jugendliche haben im Elternhaus keinen Bezug zum Judentum. Durch verschiedene Aktivitäten wollen wir erreichen, dass sie in der Gemeinde eine Gemeinschaft finden, in der sie sich wohlfühlen.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Esther Lermann: Viele Kinder und Jugendliche haben im Elternhaus keinen Bezug zum Judentum. Durch verschiedene Aktivitäten wollen wir erreichen, dass sie in der Gemeinde eine Gemeinschaft finden, in der sie sich wohlfühlen.
Da ist die Wissensvermittlung von jüdischen Inhalten. Natürlich nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis. Indem man sich Freitagabends trifft, gemeinsam den Schabbat verbringt und lernt, welche Traditionen dazu gehören, sodass man diese später auch seiner eigenen Familie mitgeben kann. Wir gestalten das Ganze aber auch mit Spaß, denn besonders für kleine Kinder kann es sehr anstrengend sein, den ganzen langen Seder-Abend an Pessach
Sharon Adler: Welche Werte möchtest du der jüngeren Generation als Jugendleiterin vermitteln? Welche Faktoren wären von Bedeutung, um sie noch mehr und dauerhaft in die Gemeinde einzubinden?
Esther Lermann: Ein großer Bestandteil der Jugendarbeit besteht darin, mit den Jugendlichen offen über verschiedene Themen zu sprechen.
Bildung ist im Judentum ein wichtiges Thema, aber auch, dem Leben eine Sinnhaftigkeit zu geben und bestimmte moralische Werte wie Tikkun Olam
Esther Lermann: Die Zeit bei den Machanot, sowohl als Chanicha, als auch als Madricha, war ein Teil meiner jüdischen Entwicklung. Bei mir war sehr Vieles ein Learning by Doing, und das Erlernen vieler Dinge war ein Prozess. Zum einen über Methoden in der Jugendarbeit, zum anderen entwickelt man sich zu jüdischen Themen kontinuierlich weiter und lernt nie aus. Ich glaube, das ist ein Motto im Judentum, dass man sich immer weiterentwickeln sollte. Dadurch, dass ich selbst als Chanicha im Jugendzentrum und bei vielen verschiedenen Sommerferienlagern von verschiedenen Organisationen mit dabei war und zu Shabbatot
Sharon Adler: Gibt es Werte aus dem Judentum, die du im jüdischen wie nichtjüdischen, gesamtgesellschaftlichen Kontext weitergeben möchtest?
Esther Lermann: Die Basics sind natürlich die Zehn Gebote, die für jede Person wichtig sein sollten. Egal, ob jüdisch oder nichtjüdisch. Dann gibt es noch die
Digitale Bildung in Deutschland
Sharon Adler: Hauptberuflich arbeitest du als Vertriebsmitarbeiterin bei der bidi Bildung Digital GmbH, die 2018 mit dem Ziel gegründet wurde, „digitale Bildung in Deutschland voranzubringen“. Wo siehst du Bedarfe im Bereich digitale Bildung und was sind deine Hauptaufgaben?
Esther Lermann: Vor allem geht es uns darum, Bildungsgerechtigkeit an die Schulen zu bringen. Es ist Fakt, dass wir einen Lehrer*innenmangel in Deutschland haben, dass der Unterricht häufig ausfällt und Schulleiter*innen und Lehrer*innen überlastet sind. Dazu bin ich in Kontakt mit Schulleitungen. Wir schauen uns an, welche Herausforderungen es an den Schulen gibt und wie wir sie unterstützen können. Die Schüler*innen sollen individuell gefördert werden, sodass jede/r Schüler*in bei Bedarf die Möglichkeit hat, zusätzlichen Unterricht oder Nachhilfe zu bekommen, unabhängig vom Einkommen der Eltern.
Da Corona große Lernlücken bei den Schüler*innen hinterlassen hat, wurde in den verschiedenen Bundesländern ein Programm gestartet, was sich „Aufholen nach Corona“ nannte. Es ging dabei nicht nur darum, die Schüler*innen auf fachlicher Ebene, sondern auch auf mentaler Ebene zu unterstützen. Zum anderen konnten wir auch die Schulen entlasten, indem wir ihnen Betreuer*innen gestellt haben, die ihnen bei der Organisation und Umsetzung des Förderangebots halfen. Das ist so eine Art Rundum-Service, der die Schulen und die Schüler*innen unterstützen soll. Dafür standen auch Fördergelder zur Verfügung.
Sharon Adler: Ist das von Bundesland zu Bundesland verschieden, oder ist das einheitlich geregelt?
Esther Lermann: In jedem Bundesland sind die Bedarfe die gleichen. Allerdings ist Bildung in Deutschland Ländersache, sodass jedes Bundesland am Ende selbst entscheidet, ob es das Programm weiterführen möchte oder nicht. Ein gutes Beispiel ist Sachsen: Da wurde schon bekannt gegeben, dass das Programm verstetigt werden und individuelle Förderung weiterhin für die Schüler möglich sein soll. Dementsprechend kann man sagen, dass es von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich ist. Zu den Bedarfen kann ich nur das sagen, was ich von den Gesprächen mit den Schulleitungen mitbekomme. Wir sind noch sehr weit entfernt von digitaler Bildung in Deutschland vor allem in Schulen im ländlichen Raum und in sogenannten Brennpunktschulen. Schon allein, was die Ausstattung und eine stabile Internetverbindung in den Schulen betrifft, die eine Voraussetzung dafür ist, um beispielsweise Online-Unterricht umzusetzen.
Sharon Adler: Bezogen auf digitale Bildung im Kontext Judentum, jüdische Feiertage, Kultur und Religion: Wo siehst du im schulischen und universitären Bereich Chancen, aber auch Defizite bei der Wissensvermittlung? In welchen Bereichen gibt es Online-Angebote?
Esther Lermann: Es gibt zahlreiche Ressourcen und Inspirationen im Internet, die man nutzen kann. Auch für den Bereich jüdische Jugendarbeit gibt es verschiedene Online-Materialien und Online-Kurse, wo man zu verschiedenen jüdischen Themen lernen kann, wenn man sich in dem Bereich weiterbilden möchte. Beispielsweise in dem Projekt „Lilmod“,
Sharon Adler: Wie hast du in deiner Schulzeit am Karl-Schmidt-Rottluff-Gymnasium Chemnitz und am Wirtschaftsgymnasium Chemnitz die Vermittlung von Themen zum Judentum und zur NS-Zeit und zur Shoah, zur deutsch-jüdischen Geschichte von Chemnitz wahrgenommen?
Esther Lermann: Als erstes kann man kritisieren, dass wir im Geschichtsunterricht dazu gar nichts gelernt haben, denn es ging immer um Gesamtdeutschland. Was bei Schüler*innen einen größeren Eindruck als die bloße Vermittlung von Jahreszahlen hinterlassen würde und ein Verständnis dafür schaffen würde, was während der NS-Zeit geschehen ist, wären zum Beispiel Zeitzeug*innen-Gespräche. Das gab es in meiner Schulzeit nie. Über die Jüdische Gemeinde wurden oft ältere Menschen eingeladen, die uns ihre Lebensgeschichte erzählt haben. Für diese Altersgruppe ist das viel wirksamer als Geschichtsbücher.
Allerdings waren wir mit der Schule im Konzentrationslager Buchenwald. Das ist zumindest eine reale Erfahrung. Aber damit muss man auch vorsichtig umgehen und das Lehrpersonal müsste den Besuch ausreichend vorbereiten und im Vorherein ein Verständnis bei den Schüler*innen schaffen, damit sie wissen, wie man sich an so einem Ort zu verhalten hat. Denn das ist auch eine Frage des Respekts. Ich glaube, es macht einen sehr großen Unterschied, ob man dort als nichtjüdische Person hingeht, die vielleicht nicht so eine emotionale Verbindung hat, oder als eine jüdische Person, die dort die Geschichte der eigenen Familie oder unseres Volkes nachvollziehen kann. Auf eine ganz andere Art und Weise.
Die jüdische Geschichte von Chemnitz
Sharon Adler: Zur jüdischen Geschichte von Chemnitz gehört auch das ehemalige Kaufhaus TIETZ,
Esther Lermann: „Die Ausstellung über das Kaufhaus TIETZ befindet sich außerdem in einem Bereich, wo nicht sehr viele Leute vorbeigehen. Es wirkt fast so, als würde sie versteckt, damit es nicht so auffällig ist.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Esther Lermann: „Die Ausstellung über das Kaufhaus TIETZ befindet sich außerdem in einem Bereich, wo nicht sehr viele Leute vorbeigehen. Es wirkt fast so, als würde sie versteckt, damit es nicht so auffällig ist.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Esther Lermann: Ich wusste, dass das TIETZ wie auch das Kaufhaus Schocken einen jüdischen Hintergrund haben. Ich denke aber nicht, dass sehr viele Menschen davon Kenntnis haben, sondern das wissen eher jüdische Menschen, beziehungsweise historisch interessierte jüdische und nichtjüdische Menschen, oder Menschen, die im Tietz arbeiten. Da es am Gebäude selbst keinerlei Hinweis auf die ehemaligen, vertriebenen jüdischen Eigentümer gibt, ist die Geschichte des Kaufhauses TIETZ auch nicht sichtbar und bekannt.
Die Ausstellung über das Kaufhaus TIETZ befindet sich außerdem in einem Bereich, wo nicht sehr viele Leute vorbeigehen. Es wirkt fast so, als würde sie versteckt, damit es nicht so auffällig ist. Generell ist das eine traurige Geschichte, da es für Chemnitz ein wichtiges Kaufhaus war, das Juden gehört hat. Und nur, weil es Juden waren, wurde es ihnen weggenommen. Alles, was sie aufgebaut haben, wurde von einem auf den anderen Tag zunichte gemacht. Das tut einem persönlich einfach weh, wenn etwas zerstört wird, in das man viel Arbeit reingesteckt hat.
Antisemitismus und das Attentat in Halle
Sharon Adler: Wie haben du und deine Familie auf das Attentat auf die Synagoge in Halle an Yom Kippur 2019 reagiert? Wodurch hast du davon erfahren, mit wem hast du dich damals dazu ausgetauscht?
Esther Lermann: Es war für alle ein schrecklicher Tag. Ich war zu dem Zeitpunkt in Mannheim, aber ich kenne auch Leute, die in Halle und in Leipzig wohnen. Ich habe natürlich direkt Kontakt aufgenommen. Sowohl mit meiner Familie als auch mit Freund*innen. Man hatte einfach Angst, auch durch die unklare Situation. In solchen Momenten ist Social Media voll mit allen möglichen Informationen, die man erstmal durchschauen muss, um zu erfahren, was wirklich passiert ist, und dass alle in Sicherheit sind.
„Das TIETZ“ hieß das Gebäude im Chemnitzer Volksmund, das am 23.10.1913 als damals vornehmstes Warenhaus Sachsens eröffnete. Begründer war Hermann Tietz (1837-1907). Nach nationalsozialistischem Terror, Plünderungen und Schließung 1938 und späterer Nutzung durch den „sozialistischen Einzelhandel“ wurde es ab 1990 von der Kaufhof AG als Warenhaus betrieben. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
„Das TIETZ“ hieß das Gebäude im Chemnitzer Volksmund, das am 23.10.1913 als damals vornehmstes Warenhaus Sachsens eröffnete. Begründer war Hermann Tietz (1837-1907). Nach nationalsozialistischem Terror, Plünderungen und Schließung 1938 und späterer Nutzung durch den „sozialistischen Einzelhandel“ wurde es ab 1990 von der Kaufhof AG als Warenhaus betrieben. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Im Nachgang habe ich Berichte gelesen, von Menschen, die ich persönlich kenne, die in der Synagoge waren. Man möchte sich gar nicht vorstellen, selbst in so einer Situation zu sein. So etwas hinterlässt definitiv Spuren in der jüdischen Community. Auch die Angst, dass so etwas wieder passieren kann. Nach einem solchen Anschlag überlegt man es sich zweimal, ob man in die Synagoge geht. Natürlich ist nach so einer Situation alles mit mehr Vorsicht verbunden, und klar ist, dass mehr Maßnahmen getroffen werden sollten.
Vor dem Anschlag wurde die Polizeiwache vor unserer Gemeinde, vermutlich aus finanziellen Gründen, abgezogen. Nach dem Anschlag gab es von verschiedenen Seiten natürlich mehr als nur einen Wunsch danach. Ich erinnere mich, dass meine Mama in die Gemeinde ging, um sich dafür einzusetzen, dass Polizeischutz da ist, wenn ihre Kinder in die Gemeinde kommen.
Das Projekt myJcon
Sharon Adler: Du engagierst dich ehrenamtlich im Projekt myJcon, das du 2022 mitgegründet hast. Wofür steht der Name myJcon und welche Bedeutung hat das Format für die jüdische Community?
Esther Lermann beim J-Fashion Seminar Berlin. Von links nach rechts: Alex Golub, Annette Golub, Maria Mizhys, Esther Lermann. (© J-Fashion, 07/2022)
Esther Lermann beim J-Fashion Seminar Berlin. Von links nach rechts: Alex Golub, Annette Golub, Maria Mizhys, Esther Lermann. (© J-Fashion, 07/2022)
Esther Lermann: „J“ steht für Jewish und das „con“ bezieht sich auf unsere Ziele und unsere Philosophie. Das sind die drei „cons“: Das ist zum einen „connection“. Der Hintergrund ist, dass wir mit dem, was wir tun, Menschen vernetzen möchten. Das zweite „con“ steht für „conversation“, was bedeutet, dass wir einen Raum schaffen möchten, wo man sich austauschen kann. Das dritte „con“ steht für „confidence“, weil wir Menschen empowern wollen, ihre jüdische Identität mit Stolz zu tragen, ohne sich verstecken zu müssen.
Mit dem Projekt möchten wir erreichen, dass jüdische Menschen in Deutschland, die sich vielleicht noch nicht so sehr mit ihrer jüdischen Identität beschäftigt haben, diese entdecken und selbstbewusst leben können. Wir wollen ihr Interesse am Judentum wecken und ihre Kenntnisse erweitern oder vertiefen.
Sharon Adler: Welche Aktivitäten habt ihr bei myJcon bisher umgesetzt, und was ist geplant?
Esther Lermann: Dafür haben wir einen kreativen Weg gewählt. In den J-Fashion-Workshops können die Teilnehmer*innen sich mit ihren eigenen Händen über das Thema Mode mit ihrer jüdischen Identität befassen. Im ersten Schritt wird eine Inspiration zu einem jüdischen Thema gegeben. Im zweiten Teil entwickeln die Teilnehmer*innen konkrete Ideen für ein Design, das ihre persönliche jüdische Identität widerspiegelt, und das sie in ihren Alltag integrieren können, wenn es zum Beispiel auf ein T-Shirt oder eine Tasche aufgebracht wird.
Es geht dabei nicht darum, einfach nur ein offensichtlich jüdisches Symbol wie einen Davidstern zu verwenden. Oder öffentlich sichtbar zu machen, dass man jüdisch ist, denn oftmals ist es mit einer Gefahr verbunden, sichtbar einen Davidstern zu tragen. Dementsprechend sind die Designs, die wir kreieren, meist erst auf den zweiten Blick als jüdisch zu erkennen. Jüdische Menschen untereinander verstehen, was damit gemeint ist und sprechen die Person vielleicht darauf an, beginnen mit ihr ein Gespräch und fragen, was es damit auf sich hat. Und man selbst ist sich darüber bewusst, dass man etwas trägt, was jüdisch ist. Wichtig ist, dass die Teilnehmer*innen sich selbst damit wohlfühlen, ihre jüdische Identität nach außen zu tragen. Die Workshops sind für alle Altersgruppen angelegt. Unseren ersten Workshop haben wir für Kinder ab zehn Jahren im Jugendzentrum in Chemnitz angeboten. Aber wir hatten auch schon Student*innengruppen und waren im Juni 2023 in Hannover bei Limmud,
Bei der Nevatim Konferenz Düsseldorf, von links nach rechts: Maria Mizhys, Alex Golub, Annette Golub, Esther Lermann. Esther Lermann: „ Unser Team ist überall in Deutschland verteilt, und wir haben es trotzdem geschafft, uns zusammenzufinden und regelmäßig Veranstaltungen in ganz Deutschland durchzuführen. Unterstützt werden wir durch die jüdischen Organisationen Nevatim und J-Arteck.“ (© Nevatim, 02/2023)
Bei der Nevatim Konferenz Düsseldorf, von links nach rechts: Maria Mizhys, Alex Golub, Annette Golub, Esther Lermann. Esther Lermann: „ Unser Team ist überall in Deutschland verteilt, und wir haben es trotzdem geschafft, uns zusammenzufinden und regelmäßig Veranstaltungen in ganz Deutschland durchzuführen. Unterstützt werden wir durch die jüdischen Organisationen Nevatim und J-Arteck.“ (© Nevatim, 02/2023)
Unser Team ist überall in Deutschland verteilt, und wir haben es trotzdem geschafft, uns zusammenzufinden und regelmäßig Veranstaltungen in ganz Deutschland durchzuführen. Unterstützt werden wir durch die jüdischen Organisationen Externer Link: Nevatim und Externer Link: J-Arteck.
Unser Konzept beinhaltet zum einen die den J-Fashion-Workshops, die wir gestaltet haben und durchführen, und zum anderen entwerfen wir auch selbst Designs, die einen jüdischen Hintergrund haben und die man erwerben kann. Wir arbeiten mit Organisationen zusammen, deren Werte wir teilen, zum Beispiel beim Thema Virtual Reality. Um in einem virtuellen Raum etwas zu erschaffen, wo Kinder und Jugendliche auf eine neue Art und Weise etwas über jüdische Kultur lernen können. Es geht uns darum, mit den Entwicklungen in der digitalen Welt mitzugehen und die Themen, die immer relevant sind, auf diese neuen Entwicklungen übertragen zu können. Auch das ist digitale Bildung.
Sharon Adler: Was ist deine Motivation für dein Engagement in der jüdischen Community?
Esther Lermann: Ich bin mit all diesen jüdischen Themen aufgewachsen, dementsprechend ist es einfach ein wichtiger Teil meines Lebens und ein Teil meiner Identität, und ich investiere gerne meine Zeit dafür. Ich mag es, mich mit diesen Themen zu beschäftigen. Ich fühle mich auch irgendwie verpflichtet, etwas an die jüdische Gemeinschaft zurückzugeben: die jüdischen Werte und Traditionen und die Geschichte unserer Vorfahren, die überlebt haben. Es zu schaffen, dass wir als Gemeinschaft weiter existieren können und sichtbar sind. Und dass wir uns nicht verstecken müssen, sondern dafür einstehen, wer wir sind und stolz darauf sein können.
Zitierweise: Interview mit Esther Lermann, „Über jüdische Themen entwickelt man sich kontinuierlich weiter“, in: Deutschland Archiv, 4.10.2023, Link: www.bpb.de/541262