Gamechanger
„Aber der große game changer – das sind die Rabbinerinnen,“ sagte die Soziologin Diana Pinto 1999 bei der ersten Tagung von Bet Debora
Das drückte sich etwa in Gründungen von jüdischen Museen, Restaurierungen von Synagogen, der Einrichtung von judaistischen Studiengängen an den Universitäten und überhaupt: jüdischen Schwerpunkten in den gesellschaftlichen Diskursen und Selbstverständigungen aus. Gleichzeitig fand auch ein innerjüdischer Aufbruch statt. Eine neue Generation schaute mit mehr Vertrauen in eine jüdische Zukunft Europas. Damit ging ein religiöser Aufbruch einher, der die Prämissen der jüdisch-religiösen Tradition mit den Fragen von heute neu miteinander abglich.
Zur Tagung Bet Debora kamen Rabbinerinnen, Kantorinnen und rabbinisch gelehrte Akademikerinnen sowie an rabbinischen Themen interessierte Jüdinnen und Juden aus verschiedenen Ländern Europas. Es war die historisch erste Tagung dieser Art. Allein die Bezeichnung „Rabbinerin“, und nun auch noch im Plural: „Rabbinerinnen“, war zu diesem Zeitpunkt etwas ganz Ungewöhnliches. Unter dem „Rabbinat“ stellte man sich ausschließlich Männer vor – Männer mit Bart und schwarzem Hut, die im Gottesdienst den Tallit, den Gebetsschal mit schwarzen Streifen, tragen und oft auch mit einer sonoren Männerstimme den Synagogenraum füllten.
Noch gab es tatsächlich nicht viele Rabbinerinnen. In Großbritannien gab es einige, auch in den USA, wo das liberale Judentum nicht von der Shoah zerstört worden war. Doch in Deutschland gab es nur eine einzige – Bea Wyler, die am Jewish Theological Seminary (JTS) in New York studiert hatte und unter großem öffentlichen Interesse 1995 von der Jüdischen Gemeinde Oldenburg angestellt wurde. Sie kam zu Bet Debora ebenso wie die Rabbinerin aus Budapest, Katalin Kelemen. Kelemen war in Ungarn die einzige Rabbinerin. Sie hatte in den 1990er-Jahren mehr oder weniger under cover am Leo Baeck College in London studiert und wurde Rabbinerin von Szim Salom, der noch nicht lange existierenden, einzigen liberal-progressiven jüdischen Gemeinde in Budapest.
Kelemen hielt bei Bet Debora eine ergreifende Rede, in der sie sagte, dass sie sich als Enkelin von Shoah-Überlebenden und als Kind jüdisch-kommunistischer Eltern niemals hätte vorstellen können, eines Tages Rabbinerin zu werden – aber noch weniger, eines Tages auf einer Bima, einem Synagogenpodest in Berlin – in Berlin! –, der Hauptstadt des Landes, von dem die Shoah ausgegangen war, zu stehen und zu einer Generation zu sprechen, die beweist, dass das Judentum in Europa doch noch nicht zu Ende ist. Einer Generation, die vielmehr jetzt ein neues Kapitel aufschlägt. Zu diesem neuen Kapitel gehörten von Anfang an die Rabbinerinnen. Wir Tagungsorganisatorinnen hatten noch ein paar andere „einzige“ Rabbinerinnen entdeckt
Als Diana Pinto bei Bet Debora die Rabbinerinnen als Gamechanger für ein neu entstehendes europäisches Judentum bezeichnete, hielt ich das für eine Gefälligkeit an uns, die Organisatorinnen der Tagung, die das gerne hörten. Pinto ist eigentlich keine Feministin. Heute aber sehe ich, wie recht sie hatte. Die jüdischen Frauen, die den Weg in die jüdische Religion gegangen sind und den Anspruch auf ein Rabbinat stellten, in dem sie selbst vertreten sein würden, haben das Selbstbild der jüdischen Gemeinschaft von Grund auf gewandelt. Heute ist die junge Rabbinerin auf der Bima, die einen Tallit, einen Gebetsschal über den Schultern trägt und vor der Gemeinschaft die Tora auslegt, das Symbol einer neuen und auch größeren Perspektive für das Judentum in der Gegenwart.
Ungefähr eins zu drei
Die Geschichte der Ordination von Frauen zur Rabbinerin hängt eng mit den verschiedenen Richtungen, den Denominationen des liberalen Judentums zusammen. „Liberal“ wird hier als Sammelbegriff verstanden. Vier große Richtungen sind zu nennen, die in den 1990er-Jahren vor allem im angelsächsischen Raum, den USA und Großbritannien, aber auch in Israel verankert waren:
1) Das progressive Judentum, auch Reformjudentum genannt: Als erste Rabbinerin des Reformjudentums wurde 1972 Sally Priesand am Hebrew Union College in Cincinatti ordiniert. 1975 folgte Jacqueline Tabick am Leo Baeck College in London.
2) Das konservative Judentum, auch Masorti genannt: Amy Eilberg erhielt 1985 als erste konservative Rabbinerin am Jewish Theological Seminary in New York ihre Smicha, ihre Rabbinatsurkunde.
3) Der Rekonstruktionismus: Am Reconstructionist Rabbinical College in Philadelphia wurde 1974 Sandi Sasso Rabbinerin.
4) Die Jewish Renewal-Bewegung: Ihr gehören seit 1981 Rabbinerinnen an, Lynn Gottlieb war die erste. Zwar versteht sich die Bewegung als non-denominational, doch bildet sie, dem liberalen Spektrum vergleichbar, in ihrem Aleph Rabbinic Program ebenfalls Rabbinerinnen aus.
Hinzuzufügen ist, dass es mittlerweile auch die ersten orthodoxen Rabbinerinnen gibt. Obwohl sie nur einer sehr kleinen Minderheit angehören, die sich als „offen orthodox“ bezeichnet, stehen auch sie als Gamechanger innerhalb eines modern-orthodoxen Selbstverständnisses. Die offiziell erste orthodoxe Rabbinerin ist Sara Hurwitz, die ihr Studium 2009 an der Yeshivat Maharat in Riverdale, New York, abschloss, wo seitdem noch weitere jüdische Frauen den Titel Rabba (Rabbinerin) erlangt haben.
Zum Zeitpunkt dieses Aufsatzes wurden etwa 1.300 Rabbinerinnen in den liberalen Richtungen ordiniert. Das Verhältnis beträgt ungefähr eins zu drei – das heißt, von insgesamt etwa 4.500 Absolventen der verschiedenen Rabbinerseminare des liberalen Judentums waren im Vergleichszeitraum 1.300 Rabbinerinnen. Die meisten Rabbinerinnen sind in den USA tätig. Im Staat Israel gibt es etwa 60 Rabbinerinnen.
In Deutschland sind innerhalb der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK) unter den 40 Mitgliedern elf Rabbinerinnen – im Vergleich zum Weltmaßstab keine schlechte Zahl.
Oberflächlich betrachtet scheint es, als sei das Thema „Rabbinerin“ in Deutschland durch die Shoah erstickt worden und erst wieder in den 1990er-Jahren aufgekommen. Tatsächlich spielten in den hiesigen jüdischen Nachkriegsgemeinden Themen wie liberales Judentum, religiöse Gleichberechtigung der Frau oder inhaltliche Erneuerungen zunächst keine Rolle. Dennoch gingen zwei jüdische Frauen aus Deutschland den Weg ins Rabbinat:
Daniela Thau, die in den 1980er-Jahren in Berlin lebte, machte ein Rabbinatsstudium am progressiv-jüdischen Leo Baeck College. Sie war die erste Rabbinerin nach Regina Jonas, die im kontinentalen Europa das Rabbinat anstrebte. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hatte ihr sogar ein Stipendium finanziert. 1983 wurde Thau in London ordiniert. Doch die Zeit für eine Rabbinerin in Deutschland erschien noch nicht reif. Ohne die Aussicht auf eine Anstellung in einer Gemeinde kehrte Thau nicht mehr nach Deutschland zurück.
Die zweite aus Deutschland stammende Rabbinerin war Margit Oelsner-Baumatz, die 1938 in Breslau zur Welt kam. Ihre Eltern flüchteten mit ihr aus Nazi-Deutschland nach Argentinien, wo sie am konservativ-jüdischen Seminario Rabinico Latinoamericano in Buenos Aires studierte. 1994 wurde sie ordiniert und damit die erste Rabbinerin in Lateinamerika.
Entwicklungen in Deutschland
Alina Treiger ist Rabbinerin in Oldenburg, sie stammt aus der Ukraine und hat am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam studiert. (© picture-alliance/dpa, Ingo Wagner)
Alina Treiger ist Rabbinerin in Oldenburg, sie stammt aus der Ukraine und hat am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam studiert. (© picture-alliance/dpa, Ingo Wagner)
Durch die vermehrten Frauenordinationen an den liberalen Rabbinerseminaren weltweit bewegte sich das Feld auch in Deutschland. Den Durchbruch schaffte die bereits erwähnte Schweizerin Bea Wyler, die am konservativ-jüdischen Jewish Theological Seminary in New York studiert hatte. Sie bekam 1995 ihre erste Anstellung in der Jüdischen Gemeinde Oldenburg und wurde damit die erste Rabbinerin nach der Shoah in Deutschland.
Zur selben Zeit ebneten eine Reihe von Veranstaltungen ein neues Bewusstsein dafür, dass Rabbinerinnen zur jüdischen Zukunft Europas gehören. Anlässlich der Jüdischen Kulturtage in Berlin, die jedes Jahr dem jüdischen Leben einer Stadt gewidmet waren und 1993 im Zeichen der Stadt Los Angeles standen, wurde die prominente Rabbinerin Laura Geller aus Los Angeles nach Berlin eingeladen. Abgesehen von ihrer beeindruckenden Präsenz auf dem Diskussionspodium, sprach sie nach der Veranstaltung mit einigen jüdisch-feministischen Frauen, die aus dem Publikum an sie herangetreten waren, um über Möglichkeiten der religiösen Gleichberechtigung zu sprechen. Geller empfahl den Frauen die Gründung einer sogenannten Rosch Chodesch-Gruppe. Der Rosch Chodesch bezeichnet in Hebräisch den Neumond, der im Talmud als ein spezieller jüdischer Feiertag für Frauen beschrieben wird. In den 1970er-Jahren erneuerte die jüdisch-feministische Bewegung das alte Ritual zu regelmäßigen Frauentreffen, die im Zeichen der Frauenemanzipation stehen. Aus der Berliner Rosch Chodesch-Gruppe ging bald ein erster Egalitärer Minjan hervor. Egalitär bedeutet, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind, Minjan ist das hebräische Wort für das Quorum der zehn jüdischen Personen, der Mindestzahl, die eine jüdische Gemeinschaft definiert. Im traditionellen Judentum werden nur Männer zum Minjan gezählt. Doch in einem Egalitären Minjan werden die Frauen gleichberechtigt mitgezählt. Der Berliner Egalitäre Minjan traf sich zunächst am Schabbat in einer Privatwohnung, um gleichberechtigte Gottesdienste zu erproben. Das hierdurch entstehende Umfeld sowie der beharrliche Kampf mit der Leitung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin ermöglichten schließlich 1998 die Gründung der liberalen Synagoge Oranienburger Straße. Hier fand dann im darauffolgenden Jahr Bet Debora statt.
Gesa Ederberg, Rabbinerin der Synagoge Oranienburger Straße der Jüdischen Gemeinde zu Berlin (© picture-alliance/dpa, Christophe Gateau)
Gesa Ederberg, Rabbinerin der Synagoge Oranienburger Straße der Jüdischen Gemeinde zu Berlin (© picture-alliance/dpa, Christophe Gateau)
Aus diesem Umfeld gingen in den Nullerjahren zwei Rabbinerinnen hervor: 2003 wurde Gesa Ederberg nach einem Studium in Jerusalem am dortigen konservativen Schechter Rabbinerseminar ordiniert. Sie ist heute Rabbinerin der Berliner Synagoge Oranienburger Straße. 2004 erhielt ich, Elisa Klapheck, meine Smicha am Aleph Rabbinic Programm in den USA. Zunächst arbeitete ich vier Jahre in der progressiven Gemeinde Beit Ha’Chidush (Haus der Erneuerung) in Amsterdam und war damit die erste Rabbinerin in den Niederlanden. 2009 zog ich zurück nach Deutschland und wurde die Rabbinerin des Egalitären Minjan in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main.
Wie gesagt: Rabbinerinnen gibt es inzwischen nicht nur in den liberalen Strömungen. Bereits im Jahr 2000 hatte Evelyn Goodman-Thau, die in Israel lebt, aber in Deutschland viele Lehrveranstaltungen hielt, eine private Smicha von einem orthodoxen Rabbiner erhalten. Goodman-Thau war in Wien geboren und überlebte die Shoah im Versteck in den Niederlanden. Auch wenn sie sich selbst als „unorthodoxe Rabbinerin“ bezeichnet, erlangte sie strenggenommen als erste eine Ordination im orthodox-jüdischen Umfeld – noch vor der oben erwähnten Sara Hurwitz in Riverdale. In jedem Fall bestätigt auch Goodman-Thaus‘ Rabbinatsurkunde die, wenngleich nur ganz allmähliche, aber dennoch fortschreitende, Öffnung des orthodoxen Judentums für Frauen im Rabbinat. Goodman-Thau erhielt allerdings nur im progressiv-jüdischen Lager eine temporäre Anstellung, nämlich in der Gemeinde Or Chadasch in Wien, womit sie zur ersten Rabbinerin in der Geschichte Österreichs wurde.
Anita Kantor hält während ihrer Ausbildung zur Rabbinerin am Abraham Geiger Kolleg (AGK) ein Gebetsbuch in den Händen. Sie ist heute Rabbinerin in Berlin und Budapest. (© picture-alliance/dpa, Wolfgang Kumm)
Anita Kantor hält während ihrer Ausbildung zur Rabbinerin am Abraham Geiger Kolleg (AGK) ein Gebetsbuch in den Händen. Sie ist heute Rabbinerin in Berlin und Budapest. (© picture-alliance/dpa, Wolfgang Kumm)
Mit der Gründung des Abraham Geiger Kollegs in Potsdam nahmen die Frauenordinationen auch in Deutschland Fahrt auf. Den Auftakt machte 2010 Alina Treiger, die aus der Ukraine eingewandert war und heute Rabbinerin in Oldenburg ist. Mittlerweile sind ihr weitere Kolleginnen gefolgt – Yael Deusel, heute Rabbinerin in Bamberg, Natalia Verzhbovska, heute Rabbinerin in Bielefeld; Jasmin Andriani, heute Rabbinerin in Göttingen; Anita Kantór, heute Rabbinerin in Berlin und Budapest. Sie alle sind Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK). Weiterhin sind der ARK aber auch Rabbinerinnen der anderen Richtungen beigetreten – Diane Lakein, ordiniert durch das Aleph Rabbinic Program; Esther Jonas-Märtin, Absolventin der konservativen Ziegler School of Jewish Studies in Los Angeles und heute Betreiberin eines jüdischen Lehrhauses in Leipzig; oder Birgit Klein, Absolventin des Reconstructionist Rabbinical College in Philadelphia und Professorin für die Geschichte des jüdischen Volkes an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg. Seit 2013 existiert zusätzlich ein Zacharias Frankel College in Potsdam, das konservative Rabbiner und Rabbinerinnen im Rahmen der Masorti-Richtung ausbildet. Die erste Absolventin, Nitzan Stein Kokin, bekam allerdings nach ihrer Ordination 2017 eine Anstellung in Arizona/ USA.
Ein neuer Höhepunkt wurde schließlich erreicht, als im Juni 2023 mit mir zum ersten Mal eine Frau zur Vorsitzenden der Allgemeinen Rabbinerkonferenz gewählt wurde. Damit steht zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Aufsatzes eine Frau an der Spitze des liberalen Rabbinats in Deutschland.
Kulturkampf
Jede Rabbinerin gestaltet ihr Rabbinat auf eigene Weise. Ein Faktor ist, wie ihre jeweilige jüdische Gemeinde beschaffen ist. Es gibt gut etablierte Gemeinden, die in den Landesverbänden des Zentralrates der Juden, dem Dachverband der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, organisiert sind. Und es gibt Gemeinden, die sich eher als Chawura, als informellere Betergemeinschaft verstehen. Je nachdem, wie die Gemeinde aufgestellt ist und damit die Bedürfnisse der Mitglieder gelagert sind, stellen sich auch die Aufgaben der Rabbinerin. Einige Rabbinerinnen legen das Hauptaugenmerk auf die jüngere Generation, die religiöse Bildung der Kinder und Jugendlichen, um so die Zukunft des Judentums zu sichern. Einen häufigen Nebeneffekt erleben die Eltern, die auf diese Weise mit ihren Kindern mitlernen. Andere Rabbinerinnen legen den Fokus stärker auf intellektuelle Inhalte, beziehen Talmudstudium, jüdische Religionsphilosophie und gesellschaftliche Fragen mit ein. Für wiederum andere ist vor allem die Spiritualität im jüdischen Gottesdienst wichtig. Zumeist ist es eine Mischung von alldem, aber mit unterschiedlichen Gewichtungen.
Rabbinerin Natalia (Natascha) Verzhbovska, Absolventin des Abraham Geiger Kollegs, hat ihre Ordination in der Synagoge Beit Tikwa in Bielefeld 2015 erhalten. (© picture-alliance, Robert B. Fishman)
Rabbinerin Natalia (Natascha) Verzhbovska, Absolventin des Abraham Geiger Kollegs, hat ihre Ordination in der Synagoge Beit Tikwa in Bielefeld 2015 erhalten. (© picture-alliance, Robert B. Fishman)
Es gibt Gemeinden, die aufgrund der Migration aus der ehemaligen Sowjetunion in den 1990er-Jahren überwiegend russischsprachig sind. Hier sind Rabbinerinnen zu finden, die selbst eine vergleichbare Migrationsgeschichte aufweisen und Russisch sprechen. Zu ihren Hauptaufgaben gehört eine Religionsvermittlung, die berücksichtigt, dass viele Gemeindemitglieder aus einem atheistisch geprägten Land gekommen sind, wo die jüdische Religionsausübung kaum möglich war. Es gibt andere Gemeinden, die ein stärkeres deutsch-jüdisches Element aufweisen, verknüpft mit anderen Horizonten von zugewanderten Jüdinnen und Juden aus West- und Osteuropa, ebenso wie aus den USA und nicht zuletzt aus Israel. Besonders hier werden zunehmend althergebrachte Auffassungen hinterfragt, verbunden mit Anstößen zu inhaltlicher Erneuerung.
Jede Rabbinerin ist auch unmittelbar als Frau herausgefordert. Rabbinerinnen repräsentieren nichts weniger als einen neuen Frauentypus innerhalb der jüdischen Religion: Nicht die selbstbewusste Frau, die es immer auch gab, die sich auf den traditionellen Feldern der Frauen engagierte, sondern – wie Diana Pinto sagte – ein Gamechanger, eine Repräsentantin mit Führungsanspruch in einem Kulturkampf. In diesem Kampf geht es über die Gegenüberstellung von liberalem Judentum und orthodoxem Judentum mit seinem traditionellen Frauenbild hinaus um ein grundsätzlich neues Paradigma. Das wurde mir bei einem Aufsatz über Rabbinerinnen ist Israel bewusst.
Dort erzählte eine Rabbinerin, die in einem linkssozialistischen Kibbuz mit selbstverständlicher Gleichberechtigung von Frauen und Männern aufgewachsen war, wie man ihr dort den Berufswunsch Rabbinerin auszureden versuchte. Zum einen stand das sozialistische Kibbuz-Milieu der Religion sehr kritisch gegenüber. Darüber hinaus aber wurde der hierarchische Aspekt beargwöhnt, den sie als Rabbinerin verkörpern würde. Jede Rabbinerin kennt diese Ambivalenz und muss damit umgehen lernen.
Darin liegt eine eigene Herausforderung, wenn nicht ein eigenes Paradoxon: Es war historisch ein egalitäres Menschenbild, das die Gleichberechtigung der Frau ermöglichte – und dies nicht zuletzt auch in der jüdischen Religion.
Es ist im Prinzip keine grundsätzlich neue Aufgabe. In der letztlich unübersichtlichen Situation jahrhundertelanger jüdischer Existenz in der Diaspora war es immer die Aufgabe des Rabbiners, das jeweilige Oberhaupt seiner Gemeinde zu sein – und dabei zugleich den Zusammenhalt des jüdischen Volkes, das heißt die Selbstbehauptung des Judentums in einer größeren, nichtjüdischen und oft antijüdischen Welt zu gewährleisten. Um Selbstbehauptung des Judentums geht es auch bei den Rabbinerinnen. Allerdings ist das Umfeld heute ein anderes. Zumindest in den westlichen Demokratien leben Jüdinnen und Juden heute in keiner problematischen Beziehung zur Mehrheitsgesellschaft, im Gegenteil, die neuen Standards der Gleichberechtigung, der flachen Hierarchie, der kritischen Hinterfragung der althergebrachten Tradition bei gleichzeitiger Bereitschaft, sie zu erneuern, treffen sich mit ähnlichen gesamtgesellschaftlichen Vorstellungen.
Die Rabbinerinnen repräsentieren einen Teil der Jüdinnen und Juden, der sich vielleicht vom Judentum abgewandt hätte, wenn es nicht die Möglichkeit einer Neubestimmung der religiösen Tradition unter den gewandelten und bejahenden Bedingungen gäbe. Genau an diesem Punkt erweisen sie sich als Gamechanger.
Zitierweise: Elisa Klapheck, "Rabbinerinnen in Deutschland nach 1945 bis heute", in: Deutschland Archiv, 29.09.2023, Link: www.bpb.de/541213