Der Mythos
In ihrer letzten Arbeitssitzung am 28.9.1990 wählte die Volkskammer mit großer Mehrheit Joachim Gauck (r.) zum Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die Stasi-Unterlagen (l.: DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel).
Am Vorabend der deutschen Vereinigung,
Diese Szene zeigt symbolisch, wie die Frage nach dem Umgang mit den Stasi-Akten unter enormem Zeitdruck abgehandelt wurde. Diese Geschichte wird meist so zusammengefasst: Die Ostdeutschen erstürmten die Stasi-Zentralen erst in der Provinz, dann in Berlin. Sie beendeten damit die Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und verhinderten weitere Aktenvernichtungen. Sie erfanden die "Aufarbeitung" und wollten die Öffnung der Stasi-Akten für die Betroffenen durchsetzen. Doch der Westen wollte dies verhindern. So mussten die 'Helden' von 1989 noch einmal ran. Soweit der Mythos. Richtig daran ist: Die Öffnung der ostdeutschen Akten, insbesondere der Geheimpolizei-Akten, ist ein international bekanntes und inzwischen nachgeahmtes Modell zur Überwindung von Diktaturfolgen. Ohne die friedliche Revolution wäre sie nicht denkbar. Insofern haben die Ostdeutschen eine wertvolle Mitgift in die Deutsche Einheit gebracht. Doch bei genauer Betrachtung erweist die Erinnerung sich als vereinfacht und verzerrt, manches sogar als Legende.
Revolutionäres Aufbäumen
Zutreffend ist: Die ostdeutsche und westdeutsche Seite trugen vor der Vereinigung einen Konflikt aus, bis sie sich kurz vor Ultimo arrangierten. Kurz vor dem 3. Oktober gab es ein revolutionäres Aufbäumen gegen den Einigungsprozess, in dem sich eine Koalition, ähnlich derer, die im Herbst 1989 die SED gestürzt hatte, zusammenfand:
21 Mitglieder von Bürgerkomitees und Bürgerrechtler besetzten Anfang September einen Teil der Stasi-Zentrale in Berlin, dabei Bärbel Bohley. Prominente wie Wolf Biermann beteiligten sich mit einem Hungerstreik. Mahnwachen wurden organisiert. Abgeordnete der erstmals frei gewählten Volkskammer, zunächst skeptisch wegen der rechtsstaatswidrigen Aktionsform, solidarisierten sich zunehmend. Ganze Regionen, etwa in Gestalt der Bezirksbevollmächtigten von Dresden und Rostock, stellten sich mit Eingaben an die Regierung hinter das wichtigste Ziel der Besetzer. Sie forderten, den Entwurf des Einigungsvertrages im Sinne des Stasi-Unterlagengesetzes der Volkskammer zu ändern.
Dieser Konflikt ist erklärungsbedürftig, hatte sich doch die Mehrheit der DDR-Bevölkerung anlässlich der Parlamentswahl vom 18. März faktisch für die deutsche Vereinigung ausgesprochen. Noch rätselhafter ist diese Eruption aus der Perspektive der Jahreswende 1989/90, als die Interessen von Ost und West in der Stasi-Frage noch geradezu identisch schienen. Die Auflösung des "Mielke-Konzerns" (Jens Gieseke) begleitete die Öffentlichkeit in Ost wie West gleichermaßen mit Sympathie. Auch in Fragen des Datenschutzes unterschieden sich die Auffassungen zunächst kaum.
Aktenvernichtung
Zu Jahresbeginn 1990 gingen selbst in den Bürgerkomitees noch manche davon aus, man könne die Stasi-Vergangenheit ohne Personendossiers aufarbeiten.
Sogar Zerstörungen von Akten gingen aus Kapazitäts- und Datenschutzerwägungen noch nach den Besetzungen weiter. Die Behauptung, dass heute nur noch die Hälfte der Akten überliefert sei, ist freilich eine Schätzung, die nicht durch Fakten untermauert ist.
In Berlin lösten auch nach der Besetzung vom 15. Januar 1990 Stasi-Mitarbeiter brisante Diensteinheiten unter Anleitung ranghoher Leiter, teilweise sogar der ehemaligen Abteilungs- oder Hauptabteilungsleiter des MfS selber auf. Noch im Februar waren dies Joachim Wiegand für die Hauptabteilung XX (Opposition, Kirche, Staatsapparat, Blockparteien), Günter Möller für die Personalabteilung (KuSch). Carli Coburger leitete die Auflösung der Hauptabteilung VIII, die nicht nur die Observierungen durchgeführt und protokolliert, sondern auch Entführungen und Anschläge auf Personen organisiert hatte
In der HA XX kamen sie zu spät: "Es kam mir vor wie das Märchen vom Hasen und der Igel", erinnert sich der Leiter der Arbeitsgruppe Akten des BKB, Heinz Meier: "Wir sind schon fertig", die Stasi-Mitarbeiter hatten die Akten zusammengeführt, "ohne unser Zutun."
In der HA VIII trug Coburger mit 25 Mitarbeitern in seinem Dienstgebäude in Karlshorst, also Kilometer vom Sitz des Bürgerkomitees entfernt, die Akten zusammen – kontrolliert von einer einzigen jungen DDR-Bürgerin.
Um den Auflösungsprozess zu beschleunigen, wurde im Februar 1990 mit Billigung des BKB sogar die Verkollerungsmaschine in der alten Stasi-Zentrale wieder in Gang gesetzt. Gezielt zerstört wurden beispielsweise 50 bis 80 LKW-Ladungen mit Grenzübertrittsdokumenten der HA VI, 100 Ladungen mit Protokollen von abgehörten Telefonaten bzw. der HA III
Heutige Aktenfunde zeigen, dass manche der Aktenvernichtungskonzepte mit Vorschlägen der ehemaligen Stasi-Mitarbeiter deutlich übereinstimmten. Im Februar/März 1990 wurden bekanntermaßen elektronische Datenträger vernichtet, unter anderem der Zentralen Personendatenbank (ZPDB) und die Elektronische Fassung der zentralen Personenkartei F16, die SAVO. Die Mehrheit des Zentralen Runden Tisches hatte zugestimmt, weil sie den Missbrauch durch westliche Geheimdienste befürchtete.
Der Vorschlag, diese elektronischen Daten zu vernichten, war intern schon im Dezember 1989 vom Stab des letzten Staatssicherheitschefs Heinz Engelhardt erarbeitet worden.
Die Bürgerkomitees
Eine Einschätzung der Bürgerkomitee-Mitglieder auf Basis von Stasi-Akten ist schwierig. Es fehlen Unterlagen gerade zu diesen Personen, obwohl Karteieinträge, Aktensplitter oder sicherheitsrelevate Berufe nahelegen, dass es bei mehreren Personen Akten in der einen oder anderen Form gegeben haben muss.
Aus dem Schweriner Personenkreis heraus wurde noch am 13. Dezember 1989 für die Weiterarbeit des MfS "im Sinne eines Verfassungsschutzes" plädiert, und des Weiteren wurden mehrere Vorschläge zur "stufenweisen Reduzierung" des Aktenbestandes entwickelt. In Schwerin selbst wurden Unterlagen, unter anderem Weisungen, aussortiert und in eine Papiermühle nach Wismar transportiert. Die Gruppe warb über Schwerin hinaus auch teilweise erfolgreich für ihre Positionen auf der DDR-zentralen Ebene. Die von ihnen vorgeschlagene Vernichtung der elektronischen Datenträger war nur die Stufe eins, dem die Vernichtung von Karteikarten und schließlich in Stufe drei die "vollständige Vernichtung des personenbezogenen Materials" folgen sollten.
Solche Vorschläge wurden keineswegs von allen rundweg abgelehnt, da es zu jener Zeit noch primär darum ging, dem Überwachungsapparat den Garaus zu machen. Der von der Opposition entsandte Stasi-Auflösungsbeauftragte Werner Fischer fasste rückblickend den Zeitgeist zusammen: "Die 6 Millionen Personendossiers zu vernichten, weil sonst jeder von diesen 6 Millionen erpressbar wäre. Ich wollte vermeiden, dass daraus ein Verdächtigungsklima wird, eine Pogromstimmung."
Andere Bürgerkomitees hatten sich allerdings schon früh gegen Aktenvernichtungen ausgesprochen. Die Kompromisslinie lautete schließlich, dass erst das neu zu wählende Parlament eine endgültige Entscheidung treffen sollte. Die personenbezogenen Akten waren so lange zu sperren.
Die Zäsur
In der Bundesrepublik war man vor einem gänzlich anderen Erfahrungshintergrund ähnlich skeptisch gegenüber den Stasi-Akten. Der westliche Teil Deutschlands hatte mit dem Verfassungsgerichtsurteil zur Volkszählung gerade eine Datenschutzdebatte durchgemacht, die im Vergleich zu den Problemen in einer totalitären Diktatur wie eine Luxusdiskussion wirken mochte. Dennoch schienen der Wert der "informationellen Selbstbestimmung" und der sympathische Versuch, das geheimdienstliche Erbe einer Parteidiktatur zu beseitigen, durchaus kongruent. Diese fast deckungsgleiche Interessenlage änderte sich, als zunächst die Ostdeutschen, dann die westdeutschen politischen Eliten ihre Auffassung zur Aktenöffnung änderten.
Anlass für eine "Zäsur"
Unmittelbar vor und nach der Wahl der Volkskammer stellte sich somit die Frage, ob die neu gewählten 400 Volkskammerabgeordneten überhaupt Vertrauen verdienten. Der Kassandra-Ruf von Bärbel Bohley lautete: "Die DDR hat gewählt ... Die neue Demokratie wird jedoch keine, wenn wir uns nicht unserer Vergangenheit und deren Fragen stellen."
Bürgerrechtskreise riefen fortan verstärkt nach 'Aufarbeitung'. Unklar ist, wie dieser Begriff, der heute in aller Munde ist, eigentlich aufkam. Er war vorher weder in der Geschichtswissenschaft Ost noch West sonderlich gebräuchlich. Vermutlich hat ihn der Bürgerrechtler Wolfgang Templin "importiert"
Der designierte Ministerpräsident, Lothar de Maizière, durch Indiskretionen und Zeitungsrecherchen in Verruf geraten, wählte seinen eigenen Mittelweg. Er warnte, dass "auf keinen Fall" Einzelpersonen ihre Akten einsehen dürften, da sonst "Mord und Totschlag" drohten.
Beunruhigung in Westdeutschland
In der Zeit, als die DDR-Seite um eine neuen Sicht auf die Akten rang, wuchs im Westen die Beunruhigung bei den politischen Eliten, die durch Stasi-Überläufer, Nachrichtenhändler und andere erfahren hatten, was alles in den Stasi-Dossiers stehen könnte. In Zeitschriften der Bundesrepublik, wie "Quick", kursierten Zitate aus abgehörten Telefonaten prominenter Bundespolitiker, unter anderen des Verfassungsschutz-Chefs und eines ehemaligen Verteidigungsministers. Jenseits von Sicherheitsfragen stand potentiell auch die politische Kultur der Bundesrepublik am Pranger.
Die Bürgerkomitees mit ihren Aufarbeitungsgedanken wurden am 2. April bei einem Treffen im Kanzleramt nunmehr als "Störfaktoren" eingeschätzt, deren Aktivitäten laut Bundesnachrichtendienst (BND) zumindest zu begrenzen seien.
Nachdem die Vernichtung der Stasi-Akten im Osten weitgehend gestoppt war, begann also die Aktenvernichtung im Westen. Der Ost-West-Konflikt bahnte sich an. Er eskalierte aber zunächst nicht, weil die Bundesregierung auf DDR-Seiten willige Partner im Regierungslager fand. Insbesondere nachdem die SPD und die DSU die Regierungskoalition verlassen hatten, waren die Mitglieder der ehemaligen Blockparteien im Regierungslager und in der Regierung selbst erstarkt.
Durch dieses Institutionenspiel hatten sich – demokratische Wahlen hin oder her – die Kräfte insgesamt so verschoben, dass die Regierungspolitik offenbar nicht mehr die Stimmung der Bevölkerung repräsentierte. Einer "Spiegel"-Umfrage vom April 1990 zufolge waren 86 Prozent der DDR-Bürger der Meinung, die Opfer sollten das Recht haben, ihre eigenen Akten einzusehen.
Interessengemeinschaft
Verborgener als die Regierungsinstitutionen wirkten im Hintergrund aber noch ganz andere Einflussträger bei dieser Position mit, die – auch wenn das kurios klingt – faktisch sogar eine Interessengemeinschaft zu bilden schienen: die ehemalige Stasi-Generalität und die Bundesregierung in Bonn.
Das Stasi-Potential mit inoffiziellen, offiziellen Mitarbeitern und Rentnern umfasste ca. 300.000 Personen. Angesichts der Beschleunigung des Fahrplanes zur deutschen Einheit stellten sich diese Kreise die Frage, wie die ehemaligen Stasi-Mitarbeiter beurteilt und behandelt werden würden. Aus dem Führungskreis der MfS-Nachfolgeorganisation, der noch im Frühjahr 1990 als "Berater" maßgeblich an der Stasi-Auflösung mitwirkte, formierte sich um Edgar Braun und Gerhard Niebling eine Art Interessenvertretung ehemaliger Stasi-Mitarbeiter.
Gegenüber westdeutschen Sicherheitsexperten boten die Stasi-Lobbyisten in Memoranden an, zu verhindern, dass Ex-Stasi-Leute bei anderen Geheimdiensten, voran dem KGB, anheuerten, ihr Wissen erpresserisch oder kommerziell publizistisch vermarkteten bzw. terroristisch tätig würden. Sie sagten gönnerhaft eine "Loyalitätserklärung gegenüber der BRD"
Die Stasi hörte also nicht einfach auf zu existieren. Wegen ihres wirklichen oder vermeintlichen Erpressungspotentials saß sie bei den Gesprächen über die Zukunft der Akten und die Nachfolgeprobleme des MfS virtuell und manchmal sogar physisch mit am Verhandlungstisch. Sogar nach Bonn wurden die Generäle schließlich eingeladen.
Kritiker werfen dem damaligen DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel "Versagen bei der Stasi-Aufarbeitung" wegen zu großer Nähe zu personellen Altlasten vor, was immer Anlass zu Spekulationen um seine Vita gab. Aus heutiger Perspektive muss man sich jedoch fragen, ob der umstrittene Minister ohne große Eigenleistung nur die Schnittmenge der Interessen der Altapparatschiks und der Sicherheitsinteressen der Bundesregierung repräsentierte – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Wer sich gewundert hat, dass der Kanzler der Einheit, Helmut Kohl, Diestel persönlich auf einer Party in Potsdam zum 50. Geburtstag gratulierte
Der Konflikt
Im dem sich vor der Vereinigung anbahnenden Konflikt ging es vereinfacht um die Alternative: Sollten die Akten komplett erhalten und bürgernah verwaltet und einzusehen sein, oder sollten sie teilvernichtet, für die Bürger weitgehend unzugänglich, in die Hände der bundesdeutscher Exekutive und ihrer Sicherheitsbehörden gelangen?
Bürgerkomitees in Leipzig und andernorts plädierte für eine radikale Dezentralisierung in bezirklichen Aktendepots unter parlamentarischer Kontrolle. Eine mittlere Position nahm der Sonderausschuss der Volkskammer unter seinem Vorsitzenden Joachim Gauck ein. Er plädierte für Landesaktendepots mit Landesbeauftragten an der Spitze.
Die extreme Gegenposition stammte aus Bundeskreisen. Danach waren die Akten zentral in einer Bundesbehörde, dem Bundesarchiv, zu lagern, weitgehend abgeschirmt, den Sicherheitsinteressen dienend. Ironischerweise war ein solcher Vorschlag im Dezember 1989 zuerst in Stasi-Kreisen diskutiert worden. Die Akten sollten demnach in einem Staatsarchiv mit langen Sperrfristen – nach dem Vorbild der USA an 50 Jahre – gelagert werden. Das war nach Ansicht der Stasi-Strategen die zweitbeste Variante des "Quellenschutzes" nach der Vernichtung.
Angeblich wurde dieses Modell der Bundesregierung über das DDR-Innenministerium erfolgreich angetragen.
Nach westdeutscher Auffassung betraf ein Drittel der sechs Millionen Stasi-Personendossiers Bundesdeutsche, deren verfassungsmäßig garantieren Persönlichkeitsrechte untolerierbar verletzt seien. Diese Akten müssten daher zeitnah vernichtet werden. Mit dem Beschluss der Innenministerkonferenz in Kombination mit dem Bundesdatenschutzgesetz war zudem präventiv eine Rechtslage geschaffen, die es erlaubte, mit dem Tage der Vereinigung zumindest alle Abhörprotokolle, wenn nicht die zwei Millionen Westdossiers, möglicherweise sogar die Ostdossiers zu vernichten.
Zusammenstoß zweier Universen
In der untergehenden DDR, insbesondere bei den Bürgerrechtlern, kam aufgrund des geschilderten Sinneswandels eine Vernichtung nicht mehr in Frage. Wie weit die Nutzung der Personendossiers gehen sollte, darüber allerdings gingen die Meinungen nach wie vor auseinander. Extreme Positionen forderten eine Aushändigung der Akten an die Betroffenen
Die sachlichen Gegensätze waren damals auch symbolisch aufgeheizt.
Joachim Gauck (r.) im Gespräch mit Ministerpräsident Lothar de Maiziere (Mitte l.) und CDU-Fraktionschef Günther Krause (Mitte r.) in einer Pause der Volkskammer-Tagung am 23.8.1990. (© dpa, Axel Kull)
Joachim Gauck (r.) im Gespräch mit Ministerpräsident Lothar de Maiziere (Mitte l.) und CDU-Fraktionschef Günther Krause (Mitte r.) in einer Pause der Volkskammer-Tagung am 23.8.1990. (© dpa, Axel Kull)
So kam es zum Zusammenstoß zweier Universen: Die "Stunde der Exekutive" (Gerhard A. Ritter)
War die Nachbesserung des Einigungsvertrages eine Folge der zweiten Besetzung der Stasi-Zentrale, oder ist dies eine Legende? Beides ist richtig und falsch zugleich. Zum Zeitpunkt der Besetzung lagen die Grundzüge des Kompromisses schon auf dem Tisch.
Der landesweite Protest, sicherlich nicht der Hungerstreik allein, verhalfen dem Kompromiss zum Bestand über den 3. Oktober hinaus. Das war wichtig, denn die Genese und die Regelungen dieses Kompromisses enthielten Konfliktpotential, das zum Teil bis heute anhält.
Der Kompromiss
Nach dem 3. Oktober bis zum Erlass des Stasi-Unterlagengesetzes Ende 1991 bestand etwa keine rechtliche Grundlage mehr für die Aufarbeitung. Bürgerrechtler in der neuen Behörde, die so weiter machen wollten wie bisher, gerieten in Konflikt mit der neuen Gauck-Behörde.
Beim Aktenzugang standen nach dem 3. Oktober die staatlichen Interessen bei der Nutzung zunächst deutlich im Vordergrund: die Überprüfung von Parlamentarien und Staatsbediensteten, Strafverfolgung, Terrorismusbekämpfung etc.
Auch die Idee einer dezentralen Verwaltung der Akten durch die Länder war zugunsten einer zentralen Bundessonderbehörde, allerdings jenseits des Bundesarchivs, aufgegeben worden. Bis heute hat sich insbesondere das Land Sachsen mit dieser Regelung nicht abgefunden. Und auch das Interesse des Bundesarchivs an den Akten hält bis heute an. Beides sind Reminiszenzen an 1990.
Zugesagt wurde damals, dass die Akten auf dem Territorium der DDR verbleiben und dass ein Ostdeutscher sie leiten sollte. Gerade dieser Punkt zeigt, wie stark es um Symbolik ging.
Angesichts der Schärfe des Konfliktes vor dem 3. Oktober wundert es, auf welchem Level sich beide Seiten einigten. Das lag nicht zuletzt an der Person und dem Verhandlungsgeschick von Joachim Gauck. Er zeigte sich hier als "Revolutionär mit Staatsraison".
Gauck hatte freilich mit dieser Formel der Bundesregierung einen Teilsieg abgerungen, der weder damals noch heute in seiner vollen Bedeutung erkannt ist. Mit dem Zusatz zum Einigungsvertrag war die rechtlich vorgesehene Möglichkeit, nach dem 3. Oktober in großem Umfang Akten zu schreddern, vom Tisch. Die Datenlöschung war untersagt. Der Kabinettsbeschluss zur Aktenvernichtung ist "aufgehoben", der Einigungsvertrag "geht vor", musste der Bonner Staatssekretär für Inneres, Hans Neusel, im Oktober 1990 zerknirscht einräumen.
Ohne die Gaucksche Formel hätte der Einigungsvertrag auf der Kippe gestanden und ohne sie – so weiß ein langjähriger Vertrauter – "wären die Akten weg gewesen."
Vor und nach dem 3. Oktober 1990 standen die staatlichen Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik stark im Vordergrund der Aktenbetrachtung. Das änderte sich erst mit der Diskussion zum Stasi-Unterlagengesetz vom November 1991. In der Debatte um das Gesetz wurden die Stimmen derer lauter, denen es um die Rechte der Opfer und die Delegitimation des kommunistischen Systems ging.