Deutsch-deutsche Entfremdungen
Unterzeichnung der ersten deutsch-deutschen Städtepartnerschaft von Saarlouis und Eisenhüttenstadt 1986. v.l.: Reinhard Klimmt, Dr. Christa Bettae, Werner Viertel (sitzend), Oskar Lafontaine (dahinter), Günter Käseberg, Albrecht Herold, Manfred Henrich, Heinz Blatter und Peter Gabges.
Im Einheitsjahr 1990 wurden Schüler der Klasse 3a der Ernst-Thälmann-Schule aus Schwerin dazu angeregt, sich im Unterricht mit ihren Vorstellungen vom Schulalltag ihrer Altersgenossen in Wuppertal zu beschäftigen. Beide Städte unterhalten seit 1986 – nach Saarlouis und Eisenhüttenstadt – die zweitälteste deutsch-deutsche Städtepartnerschaft. Die ostdeutschen Schüler stellten Fragen: Nutzen die westdeutschen Schüler andere Tafeln in der Schule? Schreiben sie anders? Besitzen sie womöglich Interesse an Briefpartnerschaften?
Etwa zeitgleich bereiteten sich die Schüler einer achten Klasse einer Wuppertaler Hauptschule auf eine Reise in die Partnerstadt Schwerin vor. Sie wurden gefragt, worauf sie neugierig seien. Ihre Antworten lauteten: "Hier in Deutschland ist ja alles anders als in der DDR, dann können wir mal erfahren, wie das so ist, also, dass sie solange mit den Autos warten müssen, 14 Jahre, ist ja auch unvorstellbar." Oder: "Ich möchte mal erfahren, ob das wirklich so ist, wie immer berichtet wird, oder ob das nur Übertreibung ist: dass die Geschäfte, also wenn dann mal zufällig irgendwelche Lebensmittel kommen, dass die dann sofort gekauft werden und dass nicht alles vorrätig da ist."
Deutsch-deutsche Begegnungen wie diese waren ab Ende 1989 nicht nur für Schüler möglich, sondern auch notwendig, wie die Zitate der Dritt- und Achtklässler zeigen. In begrenztem Umfang waren solche Begegnungen trotz des Systemunterschieds – auf der einen Seite eine parlamentarisch-pluralistische Konkurrenzdemokratie und auf der anderen Seite die Parteidiktatur der SED – bereits vor der Überwindung der deutschen Teilung möglich. Ein Beispiel hierfür ist die Geschichte der deutsch-deutschen Städtepartnerschaften. Wie war es zu dieser Form wechselseitiger Beziehungen beider deutscher Staaten vor 1989 gekommen? Wer ergriff die Initiative, worin lagen die Motivationen der Akteure? Was passierte im Rahmen einer Partnerschaft von zwei Städten?
Gelegentlich wird geklagt, das wissenschaftliche Feld der deutschen Teilungsgeschichte sei bereits überforscht. Bei der Sichtung der Literaturlage zum Thema Städtepartnerschaft wird klar, dass noch weiße Flecken existieren.
Geschichte und Entwicklung vor 1989
Sicher ist, dass im März 1989 mindestens 38 deutsch-deutsche Städtepartnerschaften existierten.
Herbert Wehner bei seiner Vereidigung als Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen am 1.12.1966. (© Engelbert Reineke / Bundesregierung, B 145 Bild-00011286)
Herbert Wehner bei seiner Vereidigung als Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen am 1.12.1966. (© Engelbert Reineke / Bundesregierung, B 145 Bild-00011286)
So hatte für die westdeutsche Seite der damalige Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Herbert Wehner, am 9. Dezember 1966 vor dem Deutschen Städtetag – immerhin drei Jahre nach Egon Bahrs legendärem Tutzinger Vortrag "Wandel durch Annäherung" – erklärt: "Partnerschaften oder Patenschaften zwischen Städten der Bundesrepublik Deutschland und solchen der SBZ sind nicht zu empfehlen. Sie streben eine gesellschaftliche Assoziierung an, die im Hinblick auf die gegensätzlichen gesellschaftspolitischen Auffassungen in den getrennten Teilen Deutschlands die Beteiligten der Gefahr aussetzen, in den Verdacht subversiver Tätigkeit zu geraten."
Wehners Worte erinnern an die von Wilhelm Grewe entwickelte, nach Walter Hallstein benannte Doktrin der 1950er-Jahre, als die Bundesrepublik eine Abkehr von der Isolierungspolitik gegenüber der DDR ablehnte. Diese Maßgabe wurde konsequent angewendet: Partnerschaften bundesdeutscher Städte mit westeuropäischen Kommunen wurden immer dann für beendet erklärt, wenn Städte etwa in Frankreich und Italien eine zusätzliche Partnerschaft mit einer ostdeutschen Stadt vereinbarten.
Wenige Jahre später aber wandelte sich mit der "neuen Ostpolitik" in den 1970er-Jahren das Interesse beider Seiten allmählich. Der seit 1969 amtierende Bundeskanzler, Willy Brandt, formulierte, man wolle "über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander" kommen. Brandt befürwortete deshalb – wie Wehner übrigens später auch – die Idee, deutsch-deutsche Städtepartnerschaften aktiv zu unterstützen. Dies geschah vor allem, um auf diese Weise das Bewusstsein von der Einheit der deutschen Nation wach zu halten. Denn im Verlauf von 40 Jahren deutscher Teilung wurde nicht nur das politische Ziel der Wiedervereinigung immer weniger wichtig genommen, es wurde auch immer weniger daran geglaubt, dass eine realistische Chance bestünde, diesen Zustand zu verändern.
Hier setze die Idee der Städtepartnerschaften an: Durch eine Vielzahl von Kontakten und Begegnungen würde eine Wiedervereinigung beider deutscher Teilstaaten auf lange Sicht gesehen Schritt für Schritt möglich werden. Die Politik der kleinen Schritte – auch dafür sind die deutsch-deutschen Städtepartnerschaften ein Beispiel. Niemand erwartete durch solcherlei Verbindungen den schnellen Weg zur Einheit. Die Hoffnung zur Überwindung der deutschen Teilung dokumentieren sie durchaus. Der Nachteil: Man musste mit der SED-Diktatur ins Gespräch kommen.
Um wenigstens die Hoffnung wach zu halten, wurden von westdeutscher Seite Versuche unternommen, Partnerschaften zu initiieren. Gegen diese "Entspannungspolitik von unten" reagierte die SED wiederum ablehnend. Dies stand im Gegensatz zu ihrer Politik in den 1950er-Jahren, als die SED Partnerschaften vorgeschlagen hatte, um die Isolierung zu durchbrechen und den schnellen Weg zur Anerkennung – wenigstens unterhalb der diplomatischen Ebene – zu erreichen.
Bis in die 1980er-Jahre aber wurde das bundesrepublikanische Interesse an Städtepartnerschaften als Instrument zur Unterwanderung der DDR interpretiert. Verweigerungshaltung der SED war die Folge.
Dies war die eine Seite der Medaille. Die andere war, dass einzelne Partnerschaften – so das Kalkül–– den guten Willen der DDR für die Verbesserung der nachbarschaftlichen Beziehungen zeigen würden. Außerdem würden sich durch die Förderung der innerdeutschen Kontakte und Begegnungen der SED und ihrer Westarbeit zahlreiche neue Möglichkeiten eröffnen. So könnte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) etwa den neu entstandenen Kontakt dazu nutzen, seine inoffizielle Basis in der Bundesrepublik zu verbreitern. Überraschenderweise wird man aber nach dem bisherigen Stand davon sprechen können, dass das Feld der deutschen-deutschen Städtebeziehungen ein seltenes Beispiel für eine Zurückhaltung des MfS darstellt. Erich Mielke sprach ein Verbot in Bezug auf die Stasi-Westarbeit aus: "Im Rahmen der Städtepartnerschaften sind grundsätzlich keine Maßnahmen zur Gewinnung von IM unter Personen aus dem Operationsgebiet durchzuführen."
Bei den innerdeutschen Städtepartnerschaften handelte es sich aus SED-Sicht um eine "Chefsache". Erich Honecker entschied persönlich über jede Städtepartnerschaft. Anfänglich führte das sogar zu einer Bevorzugung seiner alten Heimat, des Saarlandes. So kam es erst in den letzten Jahren der Teilung Deutschlands zu innerdeutschen Städtepartnerschaften. Fortan sah sich die ostdeutsche Geheimpolizei vor einige Herausforderungen gestellt. Eine Anweisung Mielkes warnte davor, der Westen werde die Städtepartnerschaften zu "Wühl- und Zersetzungstätigkeit gegen die DDR"
Den anderen wirklich sehen?
Am 6.5.1989 unterzeichneten die Oberbürgermeister von Bonn und Potsdam, Hans Daniels (im Bild) und Wilfried Seidel, den Vertrag über die Städtepartnerschaft in der Godesberger Redoute. (© Burkhard Jüttner / Bundesregierung, B 145 Bild-F080964-0010)
Am 6.5.1989 unterzeichneten die Oberbürgermeister von Bonn und Potsdam, Hans Daniels (im Bild) und Wilfried Seidel, den Vertrag über die Städtepartnerschaft in der Godesberger Redoute. (© Burkhard Jüttner / Bundesregierung, B 145 Bild-F080964-0010)
Die Vereinbarungen über innerdeutsche Partnerschaften umfassten neben einer Präambel mehrere Artikel und Schlussbestimmungen, die darauf hinwiesen, dass die Vereinbarung jederzeit gekündigt werden könnte. Dies wurde als Druckmittel von Seiten der SED eingesetzt: So forderte sie etwa die Stadt Salzgitter, seit Anfang 1988 mit Gotha verschwistert, dazu auf, die Zentrale Beweismittel- und Dokumentationsstelle für Unrecht und politische Verfolgung in der DDR in Salzgitter zu schließen, andernfalls ende die Partnerschaft.
In den meisten Fällen kam es im Rahmen von Jahresprogrammen in den Jahren 1988 und 1989 zu sehr unregelmäßigen Besuchen von Delegationen aus beiden Städten, die gemeinsame Aktionen und Veranstaltungen durchführten. Dazu zählten Bürgerdelegationen, Schüler-, Wissenschafts- oder Musik- und Theateraustäusche.
Doch wie war die Zusammensetzung der Delegationen geregelt, wer durfte mitfahren, wer nicht? Die Realität konnte nüchtern sein.
Das SED-Politbüro sorgte dafür, dass Briefe aus dem Westen abgefangen und von langer Hand geplante Reisen in den Westen abgesagt wurden. Generell wurde jeder Versuch von westdeutscher Seite, Kontakte außerhalb der offiziellen Besuche herzustellen, bei den staatlichen Stellen in der DDR als Missbrauch oder als Unterlaufen der Partnerschaftsvereinbarungen angesehen. Insbesondere sollte die Kontaktaufnahme zwischen Ausreiseantragstellern und westdeutschen Besuchern verhindert werden. Das gelang nicht immer.
Um die Frage zu beantworten, ob es im Rahmen der innerdeutschen Städtepartnerschaften möglich war, den anderen wirklich zu sehen – dafür fehlt noch eine tragfähige empirische Grundlage. Wie aber die Rechercheergebnisse des Bremer Ausstellungskurators Lutz Liffers nahe legen, sind die Städtebeziehungen allein mit dem Begriff des "Funktionärstourismus" nicht adäquat beschrieben. Die Bremer Ausstellung zeigt einige Beispiele dafür, inwiefern die Pluralität der Zusammensetzung von Reisedelegationen doch größer gewesen sein könnte als bislang vermutet.
Städtepartnerschaften seit 1989/90
Städtepartnerschaft. (© Bundesarchiv, Bild 183-1988-0121-323, Fotograf: Gerhard Graf)
Städtepartnerschaft. (© Bundesarchiv, Bild 183-1988-0121-323, Fotograf: Gerhard Graf)
Der Dresdner Oberbürgermeister, Wolfgang Berghofer (r.), und der 1. Bürgermeister Hamburgs, Klaus von Dohnanyi (l.), unterzeichneten am 14.12.1987 die Vereinbarung über die Partnerschaft beider Städte im Dresdener Rathaus.
Was passierte, als eine der beiden Seiten in der Revolution von 1989/90 zusammenbrach? Die Situation zwischen Juli und November 1989 ist widersprüchlich. Zu betonen ist, dass zu diesem Zeitpunkt nicht ausgemacht war, ob die SED nicht doch weiterhin in der Lage wäre, die Situation wieder fest in den Griff zu kriegen und die Macht wiederzuerlangen. Die deutsch-deutschen Städtepartnerschaften gerieten in den Sog der Ereignisse, es kam zu einer Gleichzeitigkeit verschiedener Entwicklungen: Manche Partnerschaft wie die zwischen Reinheim und Fürstenwalde wurde im Spätsommer 1989 neu gegründet oder bestehende wie etwa Bonn–Potsdam wurden ausgebaut.
Nach dem Mauerfall änderte sich die Situation noch einmal schlagartig. Private Begegnungen wurden möglich. Neue und kaum mehr zu zählende Partnerschaften, um die sich Kommunen aus der Bundesrepublik jahrelang bemüht hatten, wurden schrittweise umgesetzt. In der DDR reagierten die Städte zunehmend positiv, die Zahl der Partnerschaften wuchs explosionsartig an. Im Zeitraum vom 9. November 1989 bis zum 6. Mai 1990 kam es zu 548 neuen Partnerschaften. Zum ersten Mal wurden auch Verbindungen auf Kreisebene möglich.
Insgesamt gewannen die Partnerschaften eine völlig neue Qualität. Kommunale Solidarität lautete das Stichwort. Ganze Satzungen und Verfahrensordnungen wurden von der westdeutschen Partnerstadt abgeschrieben.
Wie steht es heutzutage, haben die innerdeutschen Städtepartnerschaften ihren ursprünglichen Sinn verloren? Sie sollten Grenzen überwinden helfen und für Begegnungen sorgen. Was ist passiert, seit die Grenzen gefallen sind? Viele Partnerschaften schliefen seit Mitte der 1990er-Jahre ein. In den letzten drei Jahren aber sind aufgrund der Aktivitäten einer Vielzahl von Institutionen auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene die Partnerschaften wieder in Bewegung geraten. Dies gilt etwa für die Ländernachbarn Hessen und Thüringen.
Andere Kommunen haben bestehende Beziehungen europäisiert. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist die nunmehr als Partnerschaftsdreieck zu bezeichnende Beziehung der Städte Erlangen, Jena und Wladimir (Russland). Wer eine überzeugende Antwort auf die Frage sucht, wie das viel zitierte "europäische Haus" konkret erbaut werden soll, wird hier – am Beispiel von Jugendarbeit und Begegnung – fündig.