Einleitung
Was wusste man damals in Moskau vom "Bitterfelder Weg", konnte er dort von Interesse sein?
Die Forschung kann auf verschiedene neue Quellen zurückgreifen. Neben zeitgenössischer Publizistik bieten Moskauer Archive interessantes Material. So fanden sowjetische Einschätzungen regelmäßig in Analysen der sowjetischen Botschaft in Berlin ihren Niederschlag; quasi als Moskauer Blick aus einem Berliner Fenster. Es ist davon auszugehen, dass sämtliche kulturpolitischen Großereignisse von zuständigen Botschaftssekretären erläutert und begutachtet wurden, wenngleich bislang noch keine direkte, zeitlich unmittelbare Reflexion der 1. Bitterfelder Konferenz (1959) bekannt ist.
Es wurden umfangreiche Berichte über die Lage unter Künstlern und in DDR-Künstlerverbänden nach Moskau geschickt. An das Außenministerium, die ZK-Kulturabteilung der KPdSU und den Dachverband der sowjetischen Freundschaftsgesellschaften mit dem Ausland gesandt, wurden sie gegebenenfalls auch an die sowjetischen Künstlerverbände und das Kulturministerium weitergeleitet. Solche Berichte fußten ganz stark auf SED-Pressemeldungen und Konsultationen mit der Kulturabteilung des SED-Zentralkomitees, man zog aber auch selbstständig Informationen ein bei Treffen mit namhaften Künstlern, Funktionären und Agenturleitern der DDR.
Eine zweite Quellengruppe stellen Reiseberichte sowjetischer Gäste der Künstlerverbände und Kunstinstitute bzw. Kunsthochschulen, Berichte von Gastauftritten, aber auch von Privatreisen sowjetischer Künstler in die DDR dar. Sie gingen häufig auf Stimmungen und Gerüchte ein. Beide Quellengruppen enthalten Ratschläge zur Verbesserung kritisierter Zustände oder Hinweise auf Vorbildliches, was es heute erleichtert, verschiedene "sowjetische Blickwinkel" zu bestimmen. Außerdem liegen Berichte über Begegnungen mit DDR-Künstlern, Verbandsdelegationen und Kulturfunktionären in Moskau vor.
I.
Die Fülle der fixierten Beobachtungen und Einschätzungen lässt den Schluss zu, dass die Sachinformationen an die sowjetische Kultur- und Kunstbürokratie in den Sechzigerjahren durchaus weit reichten. Darin blieb "Bitterfeld" gleichwohl ein Randthema. Es fand sich bislang auch kein Hinweis auf eine solide inhaltliche Auseinandersetzung mit dem "Bitterfelder Weg", weder in zeitgenössischen noch in späteren Untersuchungen der Kulturabteilung des ZK der KPdSU. Die offiziellen sowjetischen Berichte waren immer sehr viel deutlicher von Einschätzungen des Kampfes "der Freunde", also der SED-Führung, gegen "Formalismus", "Modernismus" und "Dekadenz" getragen. Sie handelten davon, wie es gelang oder nicht gelang, Künstler von der SED-Kulturpolitik zu überzeugen, die in der Sicht der sowjetischen Botschaft weder im Grundanliegen noch in den jeweiligen Hauptgewichtungen je ernsthaft kritisiert wurde. Nur im Kontext einer pragmatischen Positionsbestimmung zu Konfliktvermeidung und -bewältigung, häufig im größeren Zusammenhang ostdeutscher Außenwirkung, war auch der "Bitterfelder Weg" für Moskau von Bedeutung.
So hielt eine Information aus der sowjetischen Botschaft an die Ideologische Kommission der KPdSU vom 27. Juni 1960 über die Kulturkonferenz, welche SED-Zentralkomitee, Kulturbund und Kulturministerium Ende April 1960 abgehalten hatten, fest,
II.
Im Juli 1960 schickte die sowjetischen Botschaft in Berlin eine Analyse "Über die Lage im Schriftstellerverband der DDR" an das ZK der KPdSU.
"Das neue Sekretariat ist politisch bedeutend stärker als das frühere und vermag die Politik der SED unter den Schriftstellern umzusetzen", hieß es. "Vor allem begann der Schriftstellerverband, der Arbeit mit dem Nachwuchs größere Aufmerksamkeit zu widmen. Das wurde auch höchste Zeit, denn infolge eines eigentümlichen Verständnisses der Losung der chinesischen Genossen 'Lasst alle Blumen blühen!' gab es vor allem bei jüngeren DDR-Schriftstellern Neigungen zu allen möglichen 'Experimenten'. Dazu gehört das eifrige Streben einiger junger Schriftsteller, mit einem 'rauen und schroffen Stil' westliche Schriftsteller wie James Joyce, Norman Mailer, Ernest Hemingway und andere nachzuahmen."
Eine größere Passage betraf die Bitterfelder Konferenz von 1959: "Die neue Leitung [des DSV] arbeitet intensiv daran, die Schriftsteller auf die Notwendigkeit einer festeren Verbindung zur sozialistischen Wirklichkeit, zum Leben der Arbeiter und Bauern zu orientieren. Zum Wendepunkt in dieser Hinsicht wurde für viele Schriftsteller die Bitterfelder Literaturkonferenz vom April 1959. Sie war [...] organisiert worden, um im Kreise von Schriftstellern, Kunstschaffenden und Mitgliedern von Brigaden der sozialistischen Arbeit die Frage zu erörtern, wie Arbeiter, die mit schriftstellerischen Versuchen beginnen, unterstützt werden können. Doch die Bedeutung der Konferenz ging weit über diese Zielstellung hinaus. Die Konferenz gab den Anstoß für die Bewegung 'schreibender Arbeiter'. Die Freunde nutzten die Konferenz für einen Aufruf an die Werktätigen, sich in den literarischen Schaffensprozess aktiv einzuschalten. Dabei ist es erklärtes Ziel, neue Talente unter den Arbeitern zu entdecken und das Interesse der Werktätigen an Literatur und Kunst überhaupt zu entwickeln. Die Losung der Konferenz 'Greif zur Feder, Kumpel!' fand ein breites Echo. In vielen Betrieben gründete man Zirkel schreibender Arbeiter, die Tagebücher von Brigaden der sozialistischen Arbeit, Erzählungen und kleine Romane schreiben, an der Betriebszeitung mitarbeiten usw."
Weitgehend wertfrei gab man die Beobachtung weiter, "dass ein Teil der Schriftsteller diese Initiative zunächst mit Skepsis aufgenommen hat. So wurde die Ansicht geäußert, die SED beabsichtige, die Berufsschriftsteller allmählich zu verdrängen und sie durch Schriftsteller aus der Arbeiterschaft zu ersetzen, es werde die Zeit kommen, wo literarische Meisterschaft keinerlei Rolle mehr spielen wird usw." Die sowjetischen Berichterstatter beriefen sich auf ein persönliches Gespräch mit Arnold Zweig, der erklärt habe, "Talent könne sich in der DDR leicht zeigen, aber man könne nicht jemanden mit Gewalt zu einem Talent machen, und wenn er keinen Drang und keine Lust zum Schreiben hat, dann habe es auch keinen Sinn, ihn dazu zu zwingen." Anna Seghers soll gegenüber Mitarbeitern der Botschaft im März 1960 geklagt haben, "die Verlage würden mit Erzählungen, Skizzen und Romanen von 'schreibenden Arbeitern' buchstäblich zugeschüttet, die Qualität dieser Texte sei aber sehr gering. Das alles erinnere an die alte Agitpropkunst und den Proletkult, doch die Zeiten hätten sich verändert, und was an literarischen Formen und an Qualität in den zwanziger Jahren gerechtfertigt gewesen sei, kann heute nicht mehr genügen [...]. Bei uns, sagte Seghers, ist man sich zu wenig darüber im Klaren, dass die Arbeit des Schriftstellers eine schwere Arbeit ist, die von einem Menschen die Anspannung aller seiner geistigen und körperlichen Kräfte verlangt und die mit hohen Ansprüchen an sich selbst verbunden ist. Wie es scheint, sind wir übereilt vom 'lesenden Arbeiter' zum 'schreibenden Arbeiter' übergegangen, wir brauchen aber vor allem mehr kritisch lesende Arbeiter."
Die sowjetischen Vertreter sahen die Ursache des Unbehagens nicht in einem grundsätzlich falschen Ansatz der Bewegung des "schreibenden Arbeiters", sondern in zeitlich überzogenen Erwartungen: "In der ersten Zeit nach der Konferenz haben die Freunde nicht genügend deutlich gemacht, dass das Hauptziel der Bewegung 'schreibender Arbeiter' darin besteht, zum kulturellen Aufschwung der breiten Massen der Werktätigen beizutragen. Und den Arbeitern hat man zu wenig erläutert, dass die literarische Tätigkeit mit kleinen Formen beginnen muss, mit Beiträgen zur Betriebszeitung, mit dem Führen der Tagebücher von Brigaden der sozialistischen Arbeit usw. Außerdem bekamen die Zirkel 'schreibender Arbeiter' zu wenig Unterstützung von gesellschaftlichen Organisationen". Doch die SED hätte das Problem bereits erkannt. Auf der erwähnten Kulturkonferenz von ZK der SED, Kulturbund und Kulturministerium im April 1960 hätte Genosse Kurella hervorgehoben, "die Berufsschriftsteller hätten keine Konkurrenz von Seiten der 'schreibenden Arbeiter' zu befürchten. Im Gegenteil, je mehr es 'lesende' und 'schreibende Arbeiter' gebe, umso größer sei der Bedarf an guten Büchern", woraufhin Seghers ein wenig eingelenkt habe.
Die Analyse stellte des Weiteren fest, viele Schriftsteller würden den Gedanken Walter Ulbrichts positiv aufgreifen, dass es darauf ankomme, bei den gegenwärtigen gesellschaftlichen Veränderungen nicht abseits zu stehen. Der Bericht zählt (vermutlich aus SED-Dokumenten übernommen) viele konkrete Fälle auf, wo Schriftsteller in die Betriebe gingen, Zirkel betreuten, dauerhafte Beziehungen zu Brigaden aufbauten. Nur sahen die sowjetischen Genossen, vermutlich wie viele SED-Kulturpolitiker auch, darin weniger eine verantwortungsbewusste Annäherung an einen neuen Gegenstand als eine Form der Erziehung der Kunstschaffenden. Die Botschaft resümierte: "Solche Beziehungen haben unvermeidlich einen positiven Einfluss auf die Schriftsteller. Wie die Analyse der Stimmungen unter den Schriftstellern zeigt, hat sich die Lage im Schriftstellerverband stabilisiert. Gründe dafür sind die intensiveren Verbindungen der Schriftsteller zu den Werktätigen, der Einfluss, der von den bedeutenden Erfolgen beim sozialistischen Aufbau in der DDR, von der Erstarkung und der Macht des gesamten sozialistischen Lagers und seinem gewachsenen internationalen Ansehen ausgeht, sowie die beharrliche Arbeit der Freunde zur Gewinnung der Schriftsteller." Und weiter heißt es wenig realistisch: "Die Mehrzahl der Schriftsteller steht heute fest auf den Positionen des Sozialismus, billigt und unterstützt die Maßnahmen der SED und der DDR-Regierung. [...] Die Verbesserung der politischen Stimmung wirkte sich bei den meisten Schriftstellern positiv auf ihr Schaffen aus."
III.
Doch so schnell konnten die Bedenken nicht ausgeräumt werden, zumal es ja um mehr ging als um die Anerkennung hochintellektueller Spezialleistung. Hier spielten sehr verschiedene Konfliktkonstellationen hinein, die schwer auseinander zu halten waren. Da gab es beispielsweise Spannungen im Zusammenhang mit den Personalwechseln in Akademie und Schriftstellerverband, infolge derer sich etwa Bodo Uhse, Stephan Hermlin und Kurt Stern öffentlichen Harmoniebekundungen verweigerten; es gab das andauernde Gerangel um einzelne Werke (etwa um Stefan Heyms Roman über den 17. Juni 1953); und es gab eine große Experimentierfreude unter vielen jungen Lyrikern, Aufgeschlossenheit für eine neue Dramatik, die so etwas wie einen Generationenkonflikt unter den Schriftstellern anheizte, was einige Autoren wie Ludwig Renn und Willi Bredel verstimmte. Inwieweit dies alles mit der Wahrnehmung einer drohenden Nivellierung von Professionalität vermischt war, ließ sich damals und lässt sich heute pauschal nicht beantworten.
Ein zusätzliches entscheidendes Konfliktelement wird das erneut zunehmende Bedürfnis bestimmter SED-Kulturpolitiker gewesen sein, sich in die internationale Revisionismus-Debatte einzuschalten. Diese Debatte entwickelte sich damals in der DDR bezeichnenderweise an einem Stück, dass im Arbeitermilieu spielte, an Peter Hacks "Die Sorgen und die Macht". Die genannte Analyse der sowjetischen Botschaft vom Sommer 1960 wusste bereits um die Absetzung des Stücks und die Auseinandersetzung im DSV. Sie wiederholte die Einschätzung, wonach das Stück "misslungen" sei und "das Leben und die Arbeit der Arbeiter verzerrt" darstelle. Die Verbindung zu den Werktätigen sei trotz zahlreicher positiver Beispiele doch noch problematisch: "So kommt es vor, dass Schriftsteller, wenn sie sich mit dem Leben im Betrieb bekannt machen, nur die Mängel und Missstände in der Produktion bemerken. Nicht immer gelingt es den Schriftstellern, ein gutes Verhältnis zu den Arbeitern herzustellen und mit dem Betrieb eine Form der Zusammenarbeit zu finden, die es einerseits ermöglicht, das Leben und die Arbeit der Arbeiter richtig kennen zu lernen, die andererseits aber auch genügend Zeit für das literarische Schaffen lässt."
IV.
Erwin Strittmatter auf der 1. Bitterfelder Konferenz am 24.4.1959. (© Schmidt / Bundesarchiv, Bild 183-63679-0006)
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Erwin Strittmatter auf der 1. Bitterfelder Konferenz am 24.4.1959. (© Schmidt / Bundesarchiv, Bild 183-63679-0006)
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Aus dem Herbst 1960 liegen Hinweise darauf vor, dass DDR-Schriftsteller in Begegnungen mit sowjetischen Kollegen fortgesetzt Bedenken gegen die Proletkult-Attitüde des "Bitterfelder Weges" vorbrachten. Konkret Erwin Strittmatter verwendete den Begriff, als er Ende Oktober 1960 Gast des sowjetischen Schriftstellerverbands war. Gegenüber dem Verbandssekretär äußerte Strittmatter laut internem Protokoll, um den "schreibenden Arbeiter" würde in der DDR zu viel Lärm gemacht. Die Kampagne sei ein "Rückfall in den Proletkult" und führe zu einer gefährlichen Unterschätzung der Leistungen von Schriftstellern aus anderen als der Arbeiterklasse. Insbesondere Seghers, Hermlin, Uhse und Renn seien linksextremen Angriffen ausgesetzt und fühlten sich verletzt. Kurt Barthel ("KuBa") gehöre zu den Angreifern.
Die reichlich komplexen Differenzen zwischen der SED-Führung und unterschiedlichen Künstlerkreisen wurden also beobachtet, aber ein intensives Interesse an Klärung bestand auf sowjetischer Seite nicht. Das zeigte Ende 1961 eine ungewöhnliche Konfrontation. Kurz zuvor hatte der XXII. KPdSU-Parteitag in Moskau die heftigste Phase der Auseinandersetzungen zwischen den konsequenten Verfechtern einer gründlichen Stalin- und Stalinismuskritik mit der konservativen Kunstbürokratie und Anhängern einer pseudopatriotischen Erbauungsliteratur, personalisiert durch Alexander Twardowski und Wsewolod Kotschetow, eingeleitet. Diese Auseinandersetzung rankte sich zwar auch um Begriffe wie "Volksverbundenheit" und "Volksnähe", doch war das ein wenig anders gelagert als der Auftrag der Bitterfelder Konferenz. Twardowski wurde vorgeworfen, mit seiner Forderung nach Wahrheit in der Literatur bewusst das Kriterium der Parteilichkeit hintangestellt zu haben.
Ende Dezember 1961 weilte auf Einladung des DSV der sowjetische Literaturwissenschaftler Ilja Fradkin, Redakteur der Zeitschrift "Voprosy literatury" und Mitarbeiter des Instituts für Weltliteratur der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, in der DDR. Er hielt am 14. Dezember einen Vortrag vor Ost-Berliner Schriftstellern, der angeblich mit der sowjetischen Botschaft abgestimmt war. Der Text wurde in Kurzfassung in Heft 1/1962 von "Kunst und Literatur" abgedruckt, der einzigen Fachzeitschrift, die überwiegend sowjetische Kunsttheorie bot.
Die Diskussion im Anschluss an den Vortrag soll heftig gewesen sein, wie Fradkin später angab. In seinem Vortrag hatte er als Anhänger des "Tauwetters" und Verehrer bürgerlich-humanistischer Literatur energisch Stellung gegen wahllose und unbegründete Bewertungen westlicher Kunst als per se "dekadente Kunst" bezogen. Fradkin rief auf, den deutschen Expressionismus und den französischen Surrealismus, den russischen Futurismus und die englischsprachige imagistische Schule, die deutsche Neue Sachlichkeit und den italienischen Neorealismus konkret historisch zu analysieren und differenziert zu bewerten. Dabei berief er sich auf den XXII. Parteitag der KPdSU, der offene Diskussionen befördere. Auch das Dekadenz-Verdikt sei ein Erbe des Stalinkultes. Wie er später zu seiner Rechtfertigung erwähnte, fand Fradkin Zuspruch bei Seghers, Bredel, Hermlin, Otto Braun und jungen Dichtern mit Heinz Kahlau an der Spitze. In "Kunst und Literatur" berichtete er freudig, dass Leipziger Germanistik-Studenten voller Zustimmung auf die Expressionismus-Beiträge in seiner Zeitschrift reagierten.
Der Leiter der einflussreichen Kulturkommission beim Politbüro des ZK der SED, Alfred Kurella, auf der 1. Bitterfelder Konferenz am 24.4.1959. (© Bundesarchiv, Bild 183-63679-0013 / Fotograf/-in: Schmidt)
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Der Leiter der einflussreichen Kulturkommission beim Politbüro des ZK der SED, Alfred Kurella, auf der 1. Bitterfelder Konferenz am 24.4.1959. (© Bundesarchiv, Bild 183-63679-0013 / Fotograf/-in: Schmidt)
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Im folgenden Heft von "Kunst und Literatur" hielt der Kandidat des Politbüros Alfred Kurella, Vorsitzender der Kulturkommission beim ZK der SED, der Zeitschrift vor, mit diesem Heft den XXII. KPdSU-Parteitag falsch ausgelegt zu haben. Insbesondere Fradkin hätte dessen Leitlinien selektiv und entstellt wiedergegeben. Ganz besonders stieß Kurella sich an Fradkins Auslassungen zur Dekadenz. "Nun sollen wir auf einmal (und zwar im Namen des XXII. Parteitages) zum Expressionismus zurückgezerrt werden", polemisierte er und verwahrte sich gegen den Gedanken, die "Schule der Dekadenz" könne heute irgendeinen weiterführenden Nutzen für Schriftsteller haben. Vor allem aber bestand er darauf, dass sozialistische Kunstwissenschaft und Kunstpolitik eingreifen müsse, wo "die historische Wahrheit in grober Form entstellt" würde.
Die Zurechtweisung durch ein Mitglied der SED-Führung blieb nicht unbemerkt. Botschafter Michail Perwuchin persönlich wandte sich mit einer Stellungnahme an das ZK der KPdSU.
Was hat das alles mit dem "Bitterfelder Weg" zu tun? Auf ihn kam Fradkin zu sprechen, als man ihn zu Hause in Auswertung der Berliner Vorgänge um eine schriftliche Notiz für allerhöchste Parteiinstanzen bat. Er begründete seinen Auftritt in Berlin mit Einschätzungen der SED-Kulturpolitik, in der "schon seit langen einzelne Tendenzen sektiererisch-dogmatischen Charakters" zu beobachten seien. Neben administrativen Methoden im Umgang mit den Künstlern bemängelte Fradkin die "Wiederauferstehung alter Verzerrungen aus der Proletkult- und RAPP-Periode". Die sogenannte "Bewegung schreibender Arbeiter" kopiere den Aufruf der Russischen Assoziation Proletarischer Schriftsteller (RAPP) "Stoßarbeiter in die Literatur!". Nach dem Mauerbau hätten diese Tendenzen an Schärfe gewonnen. Sie untergrüben das Ansehen des Landes in weiten Kreisen der europäischen Intelligenzija.
Was hier auffällt, ist nicht die berechtigte und emphatisch vorgetragene Unduldsamkeit gegenüber einer Diskreditierung antistalinistischer Bemühungen in Moskau, die Fradkin mit der Beobachtung schmückte, in der DDR würde die Losung "Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen" kaum noch benutzt und der XX. und der XXII. Parteitag würden ignoriert. Derlei Kritik sowjetischer Schriftsteller und Künstler an der SED-Kunst- und Editionspolitik fand sich schon vielfach in den Archiven. Bemerkenswert ist vielmehr der Rückgriff auf eine eigentlich stalinistische, zumindest konservative Argumentation gegen die RAPP, die Anfang der 30er-Jahre in der Sowjetunion einem stärker angepassten, ideologisierten Sowjetischen Schriftstellerverband weichen musste.
Vermutlich legte sich der Kritiker des "Bitterfelder Weges" darüber keine Rechenschaft ab. Letzten Endes war "Bitterfeld" auch nicht die größte Wunde in den ostdeutsch-sowjetischen Kunstbeziehungen. In Vorhaltungen aus den Kreisen sowjetischer Tauwetter-Protagonisten an die Adresse der SED-Kulturpolitik spielte die Frage nach der Professionalität von Kunstschaffen nur eine abgeleitete Rolle. Aus sowjetischer Sicht war die Auseinandersetzung um "Parteilichkeit und Volksverbundenheit" wichtig. Die ließ das Problem "schreibender Arbeiter" zwar nicht gänzlich unberührt, setzte als Schwerpunkt aber die Frage, was "Parteilichkeit" überhaupt sei, worin sie sich zeige. Ob Laienkunst die künstlerische Professionalität ersetze, diese Frage stand in Moskau gar nicht zur Debatte. Während dort der kritische und weltoffene Teil der Kunstschaffenden, das "antidogmatische Lager", Engstirnigkeit unter dem Deckmantel von Parteilichkeit – etwa in Formfragen oder bei der Positionierung zum "Helden" – kritisierte, sorgten sich viele kunst- und kulturpolitischen Funktionsträger um die umfassende Herrschaftssicherung der Partei.
V.
Ende 1962/Anfang 1963 verschärfte sich in Moskau der Schlagabtausch, der konservative Flügel gewann an Einfluss, was in Berlin sofort registriert wurde. Bis dahin hatte die antidogmatische Stimmung im Schriftstellerverband der UdSSR noch dominiert.
Zunächst griff die SED-Führung sofort die Form der Begegnung mit Künstlern auf und veranstaltete ihrerseits im November 1962 ein Treffen bei Walter Ulbricht und am 25. und 26. März 1963 eine öffentliche Künstlerbegegnung bei Ulbricht und Kurt Hager. Die SED-Spitzenpolitiker knüpften an "Bitterfeld" an und forderten eine Hinwendung zu neuen Themen. Die Abneigung gegenüber unprofessioneller Konkurrenz bzw. deren politischer Instrumentalisierung wurde nicht thematisiert. Doch namhafte Vertreter der Kunstszene, die wichtigsten Vertreter der "Schwankenden", waren gar nicht erschienen – was die SED-Führung unzufrieden stimmte, wie ein Bericht der sowjetischen Botschaft vom April 1963 festhielt.
Wenig später wurde festgestellt, die anfänglichen Überspitzungen des Bitterfelder Weges, etwa massenhafte Delegierungen von Künstlern in Produktionsbetriebe, die Einmischung staatlicher Leiter in die künstlerische Arbeit oder die einseitige Propagierung von Themen aus dem Produktionsbereich, seien überwunden. Die Geschichte der Bewegung wurde in diesem Bericht erneut ausgebreitet. Neben positiven Wirkungen auf die DDR-Literatur, etwa dem Engagement einer Reihe neuer, junger Autoren gerade auch bei neuen Themen, hätten die Bitterfelder Anfänge für Spannungen gesorgt. Die ideologischen Schwankungen einiger Künstler hätten infolge einer anfänglich falschen Umsetzung des "Bitterfelder Weges" neue Nahrung erhalten. Ende 1962 aber sei die SED an der ideologischen Front in die Offensive gegangen.
Diese Einschätzung vom Sommer 1963 stellte nun, deutlicher als ein Jahr zuvor, Übereinstimmung mit den antiliberalen Positionen Kurellas heraus. Aus der größeren Distanz erschien dessen Angriff auf Fradkin zwar noch immer ungeschickt (weil er die Stimmung unter den Schriftstellern verschlechterte), aber kritische Stimmung unter Künstlern hieß jetzt eindeutig: "ungesunde" und "negative" Stimmung.
Die Botschaft registrierte ein auffällig starkes Interesse der SED-Führung, unverzüglich mit einer harten ideologischen Auseinandersetzung zu beginnen, und reflektierte die folgenden Konflikte im Schriftstellerverband 1963 weitgehend wertneutral. Doch sie verklärte auch die harten Personal- und Zensurmaßnahmen gegen Stephan Hermlin, Harald Hauser, Kurt Stern, Franz Leschnitzer, Günter Kunert und andere als letztlich "erfolgreiche Maßnahmen", die angeblich zu selbstkritischem Einlenken bei den Künstlern führten und die Masse der Schriftsteller hinter der Parteiführung zusammenschlössen.
In diesem Kontext wurde die in der Politbüro-Tagung im März 1963 und auf der nachfolgenden DSV-Delegiertenkonferenz im Mai erfolgte "Überwindung" der falschen Umsetzung des "Bitterfelder Weges" als einer "naturalistischen Abweichung in der Kunst" begrüßt; die dort ausgesprochene Würdigung künstlerischer Professionalität fand die Zustimmung der Botschaft. Die SED hätte deutlich erklärt, der "Bitterfelder Weg" sei keine Absage an Professionalität in der Kunst.
Lea Grundig auf der 2. Bitterfelder Konferenz am 25.4.1964. (© Bundesarchiv, Bild 83-C0425-0009-005)
Lea Grundig auf der 2. Bitterfelder Konferenz am 25.4.1964. (© Bundesarchiv, Bild 83-C0425-0009-005)
Im April 1964 berichtete die Botschaft ausführlich vom 5. Kongress des Verbandes der bildenden Künstler.
Zum Zeitpunkt der 2. Bitterfelder Konferenz im April 1964 waren nach sowjetischer Betrachtung die Mängel der ersten Phase des "Bitterfelder Weges" längst behoben. Daher konnte man, obgleich Willi Bredels Rede angeblich enttäuschte, den Konferenzverlauf als zufriedenstellend einschätzen. Richtig fanden die Botschaftsvertreter, dass "die Freunde" eingedenk der schwierigen Lage unmittelbar im Vorfeld der Konferenz bei der Begegnung keine harte Linie fuhren. Ohne in prinzipiellen Fragen Terrain preiszugeben, hätte die SED-Führung die Debatte nicht zugespitzt, sondern unnötige Polemik vermieden, was zweifellos der Sammlung der künstlerischen Intelligenz hinter der Partei zugute komme. Der positiven Ausblicke vermutlich überdrüssig, räumte die Botschaft dennoch ein, dass auch künftig ein Zerwürfnis einzelner Künstler mit der SED nicht ausgeschlossen sei, was "die Freunde" selbst auch so sähen.
VI.
Trotz weiterer Versuche, Begegnungen mit namhaften kritischen DDR-Künstlern zu nutzen, um die Spezifik der deutschen Realismus- und Formalismus- bzw. Modernismus-Debatten zu ergründen,
Letztlich kamen auch die sprachlichen Anleihen "RAPP" und "Proletkult" nie ernsthaft auf den Prüfstand. Sie dienten den deutschen Bitterfeld-Skeptikern als Codewörter für eine bestimmte Befindlichkeit, und es bliebe zu prüfen, ob sie sie vielleicht besonders häufig gegenüber sowjetischen Gesprächspartnern benutzten. Bislang ist nicht bekannt, dass es aus der sowjetischen Parteiführung zum "Bitterfelder Weg" je Warnungen oder Korrekturvorschläge bezüglich radikaler, intellektuellenfeindlicher Tendenzen gegeben hätte, die über das hinausgingen, was man in Berlin früh selbst schon erkannt hatte und wofür namentlich Walter Ulbricht eine gewisse Sensibilität aufbrachte. Doch wahrlich, in Moskau hatte man eigene Sorgen.