Wirtschaft und Deutsche Einheit
Karl-Heinz Paqué: Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der Deutschen Einheit, München: Hanser 2009, 298 S., € 19,90, ISBN 9783446419582.
Institut für Wirtschaftsforschung Halle (Hg.): 20 Jahre Deutsche Einheit. Von der Transformation zur europäischen Integration. Tagungsband (IWH-Sonderheft; 3/2010), Halle (Saale): IWH 2010, 461 S., € 35,–, ISBN 9783941501058.
Anlässlich des 20. Jahrestages der deutschen Vereinigung waren 2010 Rückblicke der Politiker und den Einigungsprozess analysierende und resümierende Veranstaltungen der Zeithistoriker zahlreich. Vielfach wurden die gehaltenen Beiträge auch publiziert. Geisteswissenschaftler anderer Disziplinen ließ das Thema ebenfalls nicht kalt. Mit dem Zustandekommen und den Folgen der deutschen Einheit beschäftigten sich – wie zu erwarten – auch die Wirtschaftswissenschaftler. Während jedoch unter den Zeithistorikern jene Auffassung eindeutig dominiert, wonach mit der raschen und konsequenten Übernahme westdeutscher Strukturen der einzig richtige Weg zur Beseitigung der ostdeutschen Rückständigkeit und zur Angleichung an den Weststaat eingeschlagen wurde, sind unter den Wirtschaftswissenschaftlern zwei rivalisierende Auffassungen über die seit 1990 unternommenen Maßnahmen zur Herbeiführung der Konvergenz und die zukünftige Angleichung des Wirtschaftsniveaus Ost an West erkennbar. Die beiden hier zu besprechenden Publikationen stehen für jeweils eine dieser Interpretationen der Wirtschaftsentwicklung Ostdeutschlands in den vergangenen zwei Jahrzehnten.
Ausgangspunkt ist in beiden Fällen der unbefriedigende Stand der wirtschaftlichen Angleichung in der Gegenwart.
"Die Bilanz"
In seinem Buch fasst Karl- Heinz Paqué, Magdeburger Ökonomieprofessor und für einige Jahre Wirtschaftsminister im Bundesland Sachsen-Anhalt, dieses Unbehangen so zusammen: "Noch immer fließen Steuermittel von West nach Ost, noch immer wandern Menschen von Ost nach West, noch immer hinkt der Osten in der Wirtschaftskraft hinter dem Westen her". Ungeachtet dessen hält Paqúe die Aufgabe der deutschen Wirtschaftseinheit für "im Wesentlichen bewältigt". (VII) Diejenigen, die dem widersprächen, begingen zwei Fehler. Erstens würden sie die Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft in den vergangenen beiden Jahrzehnten an den überzogenen Erwartungen der frühen 90er-Jahre messen – so an Kanzler Helmut Kohls "blühenden Landschaften" etwa. Zweitens unterschätzten sie die Schäden, die vier Jahrzehnte der Abschottung vom Weltmarkt in der ostdeutschen Wirtschafte hinterlassen haben. "Es wurden die falschen Güter in den falschen Mengen an den falschen Orten produziert", betont Paqué. (6) Nach der Öffnung der ostdeutschen Wirtschaft für den Weltmarkt durch die Wirtschafts- und Währungsunion blieb in der Ex-DDR "von einer eigenen Produktpalette praktisch kaum etwas übrig. Und damit war auch die Innovationskraft jener Ingenieurkunst zerstört, die weitgehend an dieser Produktpalette hing." (222) Die Tiefe und Langfristigkeit der Schäden für das ostdeutsche Sach- und Humankapital würden bis heute unterschätzt, die seit 1990 erreichten Fortschritte folglich nicht genügend gewürdigt. Paqués Fazit: "Nicht das Erreichte ist enttäuschend, sondern die Aufgabe war extrem schwierig." (VII)
"20 Jahre Deutsche Einheit"
20 Jahre Deutsche Einheit (© Institut für Wirtschaftsforschung Halle)
20 Jahre Deutsche Einheit (© Institut für Wirtschaftsforschung Halle)
Wie Paqués Buch ist auch der vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) herausgegebene Tagungsband dem 20. Jahrestag der deutschen Einheit gewidmet. In ihm haben Wirtschaftswissenschaftler (nebst einigen Soziologen) publiziert, die sich im März 2010 in Halle (Saale) zusammenfanden, um ihre Forschungsergebnisse über das Zustandekommen und die Folgen der deutschen Einheit auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet vorzustellen. Einen wesentlichen Teil der im Tagungsband veröffentlichten Beiträge lieferten Mitarbeiter des IWH selbst, des einzigen in den neuen Bundesländern beheimateten unter den sechs dem Sachverständigenrat der Bundesregierung zugeordneten ökonomischen Forschungsinstitute. Insgesamt haben mehr als 40 Wirtschaftswissenschaftler aus dem In- und Ausland in 24 fachspezifischen Beiträgen ihre Auffassungen zum Stand der deutschen Einheit und vergleichend dazu zur Integration der ehemaligen Ostblockstaaten in die Europäische Union niedergelegt.
Die Beiträge sind in dem Band zu drei großen Gruppen zusammengefasst: gesamtwirtschaftliche Prozesse, sektorale und regionale Entwicklungen sowie Arbeitsmarkt, Transfers und Wertewandel. In weiterer Untergliederung wird zur deutschen und europäischen Währungsunion, zum deutschen Weg der Transformation, zum Verhältnis von Staat und Markt in der Transformation, zu Stadtentwicklung und Stadtumbau, zu Arbeitsmarkt und sozialer Lage, zu den West-Ost-Transfers und zum gesellschaftlichen Wertewandel Stellung genommen.
Aus der Vielzahl der interessanten, allerdings dem allgemein gebildeten Leser teilweise durch Fachbezogenheit nicht gerade einfach zu erschließenden Beiträge sei hier auf jene verwiesen, die Paqués Auffassungen widersprechen.
Die realisierte Vereinigungsstrategie, stellt Hans Jürgen Wagener von der Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) in seinem Beitrag "Der deutsche Sonderweg der Transformation" fest, war keinesfalls alternativlos. Ob ein anderes Verfahren der Privatisierung als das durch die Treuhand im Auftrage der Bundesregierung verfolgte, "z.B. eine Verteilung der Eigentumsrechtre an die ostdeutsche Bevölkerung, sinnvoller gewesen wäre, war kaum Gegenstand der Diskussion". Die Debatte entzündete sich vor allem an der geplanten Geschwindigkeit der Privatisierung und an der Frage, ob erst zu sanieren und dann zu privatisieren sei oder umgekehrt. (83f)
Anders als Paqué bewertet hier eine Reihe von Wirtschaftswissenschaftlern die rasche Zerschlagung der in der DDR im Verlauf von vier Jahrzehnten in der Wirtschaft entwickelten Leitungs- und arbeitsteiligen Strukturen während der Jahre 1990–1994 nicht nur als "schöpferische Zerstörung". Udo Ludwig vom IWH fragt in seinem "strukturellen Brüchen und Disparitäten im Aufholprozess der ostdeutschen Transformationswirtschaft" gewidmeten Beitrag nach den Ursachen der "Disparität zwischen der scheinbaren Konvergenz makroökonomischer sektoraler Strukturen und der stockenden Angleichung des Leistungsniveaus Ost an West". Diese Differenz ist für ihn Ausdruck problematischer Entwicklungen in der Wirtschaft der neuen Bundesländer. Dies habe letztlich seine Ursache "in der Art und Weise der Transformation des 40 Jahre zentral geplanten Unternehmenssektors". (129) Eckhard Wurzel vom OECD Economics Department in Paris hat das Problem, das Ludwig benennt, in seinem Beitrag "Der deutsche Transformationsprozess – Einflüsse und Wirkungen", so formuliert: "Allerdings waren der massive Einsatz öffentlicher Transfers und die fast vollständige Übernahme westdeutsche Regulierungen auch mit signifikanten Störungen in der Ressourcenallokation der Neuen Länder verbunden, die den wirtschaftlichen Aufholprozess behinderten." (95)
Anders als Paqué, der zwar zeitliche Verzögerungen auf dem Weg zur Einheit benennt, aber zuversichtlich ist, dass der 1990 eingeschlagene Weg beibehalten werden könne und zum Ziele führen werde, werden in einem Teil der Beiträge des Tagungsbandes Zweifel daran geäußert, dass eine Angleichung des ökonomischen Leistungsniveaus der neuen an die alten Bundesländern mit den seit 1990 geschaffenen Strukturen überhaupt möglich ist. So wollen Michael Behr und Martin Ehrlich vom Institut für Soziologie an der Universität Jena in ihrer Analyse von "Arbeitsmarkt, Fachkräfteentwicklung und regionaler Dynamik" eine "Verfestigung der Produktivitätslücke zu Lasten der Neuen Länder" beobachtet haben. (212) Als wesentliche Ursache benennen sie – in Übereinstimmung mit Ludwig – den Fakt, dass die Art der Privatisierung dazu geführt hat, dass fast alle übernommenen bzw. neu gegründeten größeren Betriebe Ostdeutschlands als "verlängerte Werkbänke" fungierten. Diese Filialbetriebe spezialisierten sich auf Zulieferungen für die auswärts, meist in Westdeutschland gelegenen Stammbetriebe. Welcher Art die Vorleistungen der ostdeutschen Filialen waren, wann und wie sie durch andere abgelöst wurden, bestimmten die Vorstände am Unternehmenssitz entsprechend den von den Abteilungen Forschung und Entwicklung, Marketing usw. im Stammbetrieb gewonnenen Erkenntnissen über zukünftige technologische und Absatztrends. Die für die Zeit unmittelbar nach der Privatisierung vielleicht unvermeidliche Entstehung von "verlängerten Werkbänken" sei später nicht revidiert worden. Die Produktivitätslücke bestehe folglich bis heute.
Wie Ludwig halten auch Behr und Ehrlich die bisherige Entwicklung für bedenklich. Auch dann, "wenn viele ostdeutsche Unternehmen von der Juniorpartnerschaft mit westdeutschen Finanzproduzenten profitieren und durch exportstarke Betriebe in internationale Wertschöpfungsketten integriert werden," schreiben sie, drohe eine Verfestigung der Produktivitätslücke. Denn obwohl viele ostdeutsche Unternehmen innovative Lösungen entwickeln und ihre Arbeitsabläufe optimiert haben, so argumentieren Behr und Ehrlich, wird ihnen durch den "Status als Hersteller von Vorleistungsgütern die Innovations- und Produktivitätsrendite strukturell vorenthalten. Inzwischen profitiert die westdeutsche Industrie nicht unwesentlich von der Nutzungsoption eines preiswerten, qualitativ leistungsfähigen und flexiblen 'Hinterlandes'". (212) Behr und Ehrlich verweisen auch darauf, dass gut qualifizierte ostdeutsche Arbeitskräfte, vor allem Universitätsabsolventen, sich einen geeigneten Arbeitsplatz in Frankfurt am Main oder München, also in den Ballungszentren, von denen aus die Headquarters operieren, suchen müssen, wo sie "ganz wesentlich zur positiven Wertschöpfungsbilanz beitragen." (213)
Verallgemeinernd heißt es zu dieser bei Behr und Ehrlich vor allem unter dem Aspekt Humankapital analysierten Entwicklung bei Ludwig: "Das Potenzial solcher verlängerten Werkbänke für Aufholprozesse ist wegen des konzerninternen Abstandes ihrer wirtschaftlichen Parameter von ihren auswärtigen Zentralen gering." Ludwig sieht kaum Chancen für eine Besserung in Zukunft, alles "spricht für ein anhaltendes regionales West-Ost-Leistungsgefälle für den Sektor außerhalb der Eigenständlergruppe." (130)
Mit anderen Worten: Die planwirtschaftlichen Strukturen der DDR, die zu einer Innovationslücke geführt hatten, sind nach 1990 durch Strukturen abgelöst worden, die verhindern, dass diese Innovationslücke geschlossen wird. Damit der Osten wirtschaftlich aufschließen kann, bedarf es struktureller Änderungen in der ostdeutschen Industrie, zu denen die die ostdeutschen Filialbetriebe beherrschenden westdeutschen Stammwerke wohl kaum von sich aus bereit sein werden. Damit könnte die "Disparität zwischen der scheinbaren Konvergenz makroökonomischer sektoraler Strukturen und der stockenden Angleichung des Leistungsniveaus Ost an West", die Ludwig beklagt, zu einem Dauerproblem der ostdeutschen Wirtschaft werden.
Insgesamt gesehen gewähren beide Bücher tiefe Einblicke in die ostdeutschen Wirtschaftsabläufe in den vergangenen 20 Jahren und deren soziostrukturellen Folgen, die zur Kenntnis zu nehmen der an der Entwicklung der neuen Länder allgemein interessierte Leser schon angesichts der Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaft, Sozialem, Politik und Kultur nicht versäumen sollte.