Einleitung
In Untersuchungen zu den Runden Tischen 1989/90 in den ostmitteleuropäischen Staaten wurde bisher nur selten die Frage aufgeworfen, ob diese Gremien in den Traditionen der Rätebewegung, der sogenannten round-table talks bzw. von zivilgesellschaftlichen Aktivitäten stehen oder ob sie vielleicht ein eigenständiges respektive einmaliges Phänomen sind. Neben einleuchtenden Argumentationen, die Runde Tische im Rückblick als Institutionen zur zivilgesellschaftlichen Selbststeuerung charakterisieren,
Dass die Runden Tische 1989/90 in der DDR und in Polen räterepublikanische Züge getragen hätten, wurde in Fachkreisen schon mehrfach angesprochen. Außerdem fiel der Begriff "Räterepublik" bereits während der Friedlichen Revolution 1989/90 – zumindest einmal: Die erweiterte Initiativgruppe des Neuen Forums traf sich Anfang Dezember 1989, um über die konkrete Lage zu diskutieren und gegebenenfalls Maßnahmen zu ergreifen. Die Antworten auf die Frage, was das Neue Forum streikwilligen Beschäftigten raten könne, zeigten die grundverschiedenen Auffassungen der Anwesenden über den Umgang mit den Staatsbetrieben. Als Reinhard Schult und Klaus Wolfram vorschlugen, einen Aufruf zur Einrichtung von Belegschaftsräten und damit zur Selbstverwaltung der Betriebe zu formulieren, reagierte Eberhard Seidel empört: "Was ist denn das für ein Durcheinander! Die einen wollen die deutsche Einheit, und die anderen die Räterepublik ausrufen!"
Rätedemokratie
Theoretisch ist eine Räterepublik oder Rätedemokratie das Konzept einer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die einen Gegenentwurf zu Marktwirtschaft und parlamentarischer Demokratie bzw. als "Dritter Weg" zu staatssozialistischen Zentralplanwirtschaft und Diktatur darstellt. In diesem System wird die Herrschaft durch von der Bevölkerung direkt gewählte Räte ausgeübt. Die Bürger sogenannter Basiseinheiten auf Wohnbezirks- oder Betriebsebene wählen in Vollversammlungen Abgesandte in örtliche Räte. Diese delegieren wiederum Mitglieder in die nächst höheren Ebenen, die Bezirksräte. Das System der Delegierung setzt sich "von unten nach oben" bis zum Zentralrat auf staatlicher Ebene fort (analog dazu in den Betrieben bis hinauf zum Wirtschaftsgeneralrat, der den Volkswirtschaftsplan aufstellt). Als öffentliche Funktionsträger bilden sie Gesetzgeber, Regierung und Gerichte in einem. Somit gibt es im Unterschied zu klassischen Demokratiemodellen keine Gewaltenteilung. Außerdem sind die Räte der Basis direkt verantwortlich, an deren Weisungen gebunden und jederzeit abwählbar oder abrufbar. Sie verfügen über ein sogenanntes imperatives Mandat, sie sind also an den Auftrag ihrer Wähler gebunden – im Gegensatz zum freien Mandat, bei dem die gewählten Mandatsträger nur "ihrem Gewissen" verantwortlich sind. Um elitäre Führungsspitzen zu verhindern, unterliegen die Mitglieder der Räte einer Ämterrotation und sind ehrenamtlich tätig.
Hannah Arendt hat das Rätesystem 1963 als "die einzige Staatsform, die unmittelbar aus dem Geist der Revolutionen entstanden ist", bezeichnet. Seit 1789 hätten sich in fast jeder Revolution Räte gebildet. Dazu zählte sie unter anderen die russischen Revolutionen in den Jahren 1905 und 1917, die Novemberrevolution 1918/19 im Deutschen Reich und die Wochen der ungarischen Revolution 1956.
Das Rätesystem ist nicht nur eine basisdemokratisches, sondern auch ein repräsentatives System. Denn es entstehen höhere Organe, indem mehrere Räte ein Gremium bilden, in das jeder Rat einen oder mehrere Delegierte entsendet. Dieses System führt bis hinauf zu einem obersten Rat, der die Entscheidungen für das ganze Land fällt. Demnach spricht nur in der untersten Ebene jeder für sich selbst, in den höheren Räten spricht jeder für den Rat, der ihn delegiert hat. Der Unterschied zu dem bekannten Parteien-Parlaments-System liegt nach Arendt darin, wie die Repräsentation verwirklicht wird: Die Delegierten würden frei von ihresgleichen gewählt, und da sie den Wählern in der Ratsversammlung Rechenschaft abzulegen hätten, würden sie mit ihresgleichen verbunden und ihnen verantwortlich bleiben.
Die Rätebewegung 1918/19
Während der Revolution im Deutschen Reich 1918/19 gab es zwei Phasen, in denen sich Räte bildeten, allerdings mit unterschiedlichen Intentionen. Die erste Phase begann, nachdem in Kiel ein Aufstand losgebrochen war und Matrosen und Soldaten die Stadt am 4. November 1918 in ihre Gewalt gebracht hatten. In den folgenden Tagen übernahmen Arbeiter- und Soldatenräte nicht nur in Kiel, sondern in zahlreichen anderen Städten die Macht. Der Machtapparat des alten Reiches kapitulierte überall nahezu widerstandslos. Als die Revolution am 9. November schließlich Berlin erreichte, beschlossen die Soldatenräte dort, am darauf folgenden Tag in der ganzen Stadt Arbeiter- und Soldatenräte zu wählen und zu einer ersten großen Versammlung zusammenkommen zu lassen. Die SPD-Führung verständigte sich mit der USPD am Nachmittag dieses Tages auf die Bildung eines Rates der Volksbeauftragten, der zu je drei Vertretern paritätisch von SPD und USPD besetzt wurde.
Die Räte hofften auf die Verankerung einer wirklichen Massendemokratie und auf entscheidende Wirtschaftsreformen, standen aber – so Mario Keßler – dem sowjetrussischen Parteikommunismus mehrheitlich fremd bis ablehnend gegenüber. Unter dem Eindruck der sich radikalisierenden Massen forderten sie binnen weniger Tage die Abdankung des Kaisers und eine sozialistische Republik. Der Antrag der USPD auf dem ersten reichsweiten Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte am 16. Dezember 1918 in Berlin, am Rätesystem als Grundlage der Verfassung der Republik prinzipiell festzuhalten und den Räten die legislative und exekutive Gewalt zuzugestehen, wurde jedoch entschieden abgelehnt. Leidenschaftliche Debatten innerhalb der deutschen Rätebewegung zeigten wiederum, dass auch über die Möglichkeit einer Verbindung von repräsentativer (parlamentarischer) und kontrollierender (rätedemokratischer) Einrichtungen nachgedacht wurde.
In den ersten Monaten des Jahres 1919 kam es im Gefolge von Aufständen zur Ausrufung von Räterepubliken in Bremen, München und Sachsen. Ihnen bereitete der Einsatz von Freikorpstruppen bis spätestens Anfang Mai jenes Jahres ein gewaltsames Ende. Zwischen den Räten der ersten Revolutionsphase und der Rätebewegung im Frühjahr 1919 bestand jedoch ein grundlegender Unterschied. Während sich die meisten der 1918 im Reich gebildeten Räte als Übergangsgremien verstanden, welche die Kontrolle über die Behörden bis zur Konstituierung demokratischer Institutionen ausüben wollten,
Vergleich
Entstehung und Etablierung
Gemeinsam ist den Arbeiter- und Soldatenräten 1918/19 im Deutschen Reich und den Runden Tischen 1989/90 in der DDR, dass sie mit ihrer Entstehung, Entfaltung und ihrem Niedergang auf das Engste mit den jeweiligen Revolutionen verflochten waren.
Sitzung des Zentralen Runden Tisches im Schloss Niederschönhausen, 22.1.1990. (© Klaus Lehnartz / Bundesregierung, B 145 Bild-00047635)
Sitzung des Zentralen Runden Tisches im Schloss Niederschönhausen, 22.1.1990. (© Klaus Lehnartz / Bundesregierung, B 145 Bild-00047635)
Ähnlich erscheinen auch die Modalitäten, nach denen Räte und Runde Tischen gegründet wurden. So bildeten sich 1918 im Anschluss an den von Kiel ausgehenden Matrosenaufstand und an die Revolte des Heimatheeres Räte in allen größeren Städten spontan, durch Improvisation und ohne zentrale Lenkung.
Sowohl die einzelnen Runden Tische als auch die Arbeiter- und Soldatenräte wurden auf recht unterschiedliche Art und Weise gebildet oder gewählt. Bei den Räten spielte dabei das Kräfteverhältnis innerhalb der Arbeiterbewegung in den jeweiligen Städten eine große Rolle. Allerdings entstanden die Räte durch demokratische Wahl- oder Delegierungsverfahren,
Außerdem waren an den Runden Tischen die alten Machthaber, das heißt Funktionäre der SED, der Blockparteien und der staatlichen Institutionen maßgeblich und zum überwiegenden Teil mit Stimmrecht beteiligt. Für die Räte galt das von Vornherein als ausgeschlossen. Im Gegensatz zu den Runden Tischen nahmen die einzelnen Räte jedoch Verbindung miteinander auf, koordinierten ihre Tätigkeit und wählten übergeordnete Räte.
Eindeutige Anerkennung erfuhren die Räte durch Erlasse über ihre Finanzierung; "ihre Aufgaben und Rechte wurden aber so vage umschrieben, dass Konflikte zwischen Räten und Verwaltungsinstanzen nahezu unvermeidlich waren".
Bestand und Ende
Zur Sicherung einer demokratischen Weiterentwicklung der Republik wollte man die Kontrollbefugnisse der Arbeiterräte so lange beibehalten, bis auch einschneidende Änderungen in der personellen Zusammensetzung des Verwaltungsapparates vorgenommen sein würden. Das gelang jedoch nicht, die konservative Beamtenwelt blieb – so Eberhard Kolb – über die Revolution hinaus ohne nennenswerte Personalveränderungen. Dennoch hatten die Räte im November/Dezember 1918 und bis in den Januar 1919 hinein beträchtlichen Einfluss auf die Führungen der Verwaltungsgeschäfte und die Politik in den Gemeinden, Städten und Provinzen. Den Verwaltungsapparat ließen sie allerdings häufig nahezu ungestört weiterarbeiten; sie begnügten sich mit dessen Kontrolle.
Im Gegensatz zu den Räten der ersten Phase, die sich als Übergangsinstitutionen verstanden haben, ist die Rätebewegung im Frühjahr 1919 gescheitert. Es gelang zwangsläufig nicht, das in der zweiten Phase der Revolution entworfene Rätekonzept zu verwirklichen.
Im November und Dezember 1918 waren die Räte "Inhaber der realen Macht", das heißt, "es konnte nicht gegen sie regiert werden, vor allem wenn sie sich auf die Heimatgarnisonen als Träger der bewaffneten Macht stützen konnten, was praktisch überall der Fall war". Diese Machtposition der Räte verfiel 1919 mit dem Näherrücken der Einberufung einer Nationalversammlung. Die konservativen Verwaltungseliten nahmen ab diesem Zeitpunkt "gegenüber den Wünschen und Forderungen der Räte nicht mehr eine entgegenkommende und ängstlich abwartende Haltung ein". Hinzu kam, dass die den Räten im November zugebilligten Befugnisse immer stärker restriktiv ausgelegt wurden, bis man sie schließlich durch Regierungserlasse einschränkte, im Laufe des Sommers 1919 ganz aufhob und die Finanzierung der Räteorganisationen einstellte. Seit dem Frühjahr 1919 führten die politischen Arbeiterräte deshalb nur noch ein "Schattendasein".
Sitzung des kommunalen Runden Tisches in Leipzig, 1990. (© Zeitgeschichtliches Forum Leipzig/Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland)
Sitzung des kommunalen Runden Tisches in Leipzig, 1990. (© Zeitgeschichtliches Forum Leipzig/Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland)
Nach den Volkskammer- und Kommunalwahlen im Frühjahr 1990 lösten sie sich auf. Für den Zentralen Runden Tisch und die Kreis- wie Stadttische hatte das durchaus seine Berechtigung, denn immerhin agierten hier jetzt demokratisch legitimierte Parlamente, deren Kontrolle nicht nötig erschien. Das traf jedoch nicht auf die Runden Tische der Bezirke zu. Bis zur Etablierung demokratischer Länderstrukturen hätten sie als Kontrollinstanzen durchaus noch ihre Existenzberechtigung gehabt. Doch verließen bereits ab März 1990 die Vertreter der Parteien, welche als Sieger aus der Volkskammerwahl hervorgegangen waren, die Tische. Außerdem erklärte die Regierung de Maizière, die Arbeit der Runden Tische der Bezirke nicht mehr anzuerkennen. Ob die Teilnehmer es wollten oder nicht – die Runden Tische verloren im Frühjahr 1990 endgültig an Bedeutung und lösten sich auf. Bis dahin, aber vor allem von Dezember 1989 bis Mitte Februar 1990, waren sie zwar nicht Inhaber der realen Macht wie die Räte 1918, was die meisten Teilnehmer auch bewusst nicht wollten. Aber es ging ebenfalls nichts gegen und schon gar nichts ohne die Runden Tische. Das hatte auch damit zu tun, dass sie sich zu diesem Zeitpunkt auf den Rückhalt in großen Teilen der Bevölkerung stützen konnten. Es waren vor allem die Massendemonstrationen und -proteste, die ihre Position und Einflussnahme ermöglichten und stärkten.
Mythen, Konzepte, Perspektiven
1919 erstrebten weite Kreise der Arbeiterschaft, der Angestellten und anderer Bevölkerungsschichten, die ein "aktives Selbstregieren der Massen" und als Alternative zur bürgerlichen Demokratie eine auf Räte gestützte soziale Demokratie.
Im Kreis der Berliner USPD-Arbeiterräte wurde ein Konzept des "reinen Rätesystem" ausgearbeitet, das seit etwa März 1919 zum Programm nahezu der gesamten Unabhängigen Sozialdemokratie werden sollte.
Allein eine Internetrecherche zum Thema zeigt, dass sich die meisten Einträge zu Runden Tischen nicht auf historische, sondern auf zahlreiche neu gegründete wie aktuell tätige Tische in Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur beziehen. Mit denen in der DDR und in den anderen ostmitteleuropäischen Staaten haben die gegenwärtigen Gremien die Gleichberechtigung aller Beteiligten und deren Willen zur Einigung in Sachfragen trotz verschiedener Meinungen gemeinsam. Gelegentlich wird bei ihrer Gründung ausdrücklich darauf verwiesen, dass es sich um eine als zweckmäßig erkannte Institution handelt, die durch den Transformationsprozess seit 1989 in der DDR und anderen mittelosteuropäischen Staaten neue Aktualität gewonnen habe. Nach Ulrike Poppe hat sich gezeigt, "dass der Runde Tisch nicht an eine Situation des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie gebunden ist, sondern auch in der parlamentarischen Demokratie seinen Platz hat". Inzwischen gebe es viele Runde Tische nicht als "Neben- oder Ersatzparlamente", sondern als "zivilgesellschaftliche Initiativen, als Beratungsgremien, als Konfliktlösungsinstrumente, als Formen des Projektmanagements". Sie erschienen als besonders geeignet, wenn sich die Fronten zwischen Konfliktparteien verhärtet hätten und kein sachlicher Dialog mehr möglich erschiene, oder auch, um ein Projekt so zu gestalten, dass es von allen betroffenen Seiten mitgetragen werden könne.
Resümee
Das Rätesystem stellt eine Mischform aus direkter und repräsentativer Demokratie dar. Die Runden Tische waren dagegen weder Institutionen einer repräsentativen noch einer direkten Demokratie. Sie arbeiteten jedoch mit basisdemokratischen Elementen, denn es war an allen Runden Tischen jederzeit möglich, Vorschläge aus der Bevölkerung aufzugreifen und direkt auf diese zu reagieren.
Die Runden Tische erwiesen sich als Instrumente der Demokratisierung vor Ort, in den Regionen und auf zentraler Ebene, während des Übergangs von einer kommunistischen Diktatur zu einer parlamentarischen Demokratie. Eine "Demokratisierung von unten" durch diese Gremien fand allerdings nur in der DDR statt; in den anderen ost- und mitteleuropäischen Staaten gab es nicht wie hier neben dem Zentralen Gremium auch noch Hunderte lokaler, regionaler und thematischer Tische. Mit Sicherheit ist auch den Räten während der deutschen Revolution 1918/19 eine wichtige Funktion im Demokratisierungsprozess zuzuschreiben.
Die Gemeinsamkeiten zwischen den Räten von 1918/19 und den Runden Tischen 1989/90 ergeben sich aus der Tatsache, dass beide Übergangsinstitutionen zur Krisenbewältigung und zur Demokratisierung im Verlauf von Revolutionen darstellten. Im Gegensatz zur Novemberrevolution verlief die Revolution in der DDR jedoch weitgehend friedlich. Dazu trugen die Runden Tische maßgeblich bei: Sie kanalisierten die Proteste und institutionalisierten die Revolution. Die beiden Gremien unterscheiden sich aber vor allem und zwar wesentlich voneinander, was hauptsächlich damit zusammenhängt, dass die gesellschaftlichen Bedingungen 1918/19 grundlegend andere waren als die 1989/90. In der Tradition der Rätebewegung stehen die Runden Tische deshalb definitiv nicht. Sie gehören zwar zur Tradition der seit dem 19. Jahrhundert als politische Institutionen gepflegten round-table talks, aber vor allem zu der Tradition des sich im 20. Jahrhundert entwickelnden zivilgesellschaftlichen Engagements. Als Wegbereiter von Systemwandel und -wechsel stellen die Gremien von 1989/90 im Vergleich zu allen Runden Tischen (bisher) ein einmaliges Phänomen in der Geschichte dar.