1. Der gesetzliche Auftrag
Der Auftrag, den die Treuhandanstalt (THA) durch Mehrheitsbeschluss der DDR-Volkskammer vom 17. Juni 1990 erhielt, war eindeutig: Sie wurde verpflichtet, "die unternehmerische Tätigkeit des Staates durch Privatisierung so rasch wie möglich zurückzuführen". Gleichzeitig sollte "die Wettbewerbsfähigkeit möglichst vieler Unternehmen" hergestellt werden um "Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen."
Vier Monate später, nach Bewältigung eines "chaotischen Beginns" formulierte die THA in den "Leitlinien der Geschäftspolitik": "Zentrale Aufgabe der Treuhandanstalt ist die Mitwirkung beim Aufbau einer leistungs- und wettbewerbsfähigen modernen Wirtschaft, die Arbeitsplätze sichert und neue schafft." Dieser "gesetzliche Auftrag" sollte auf drei Wegen erfüllt werden – durch Privatisierung, Sanierung und Stilllegung.
Hatten die Experten vor der Währungsunion noch damit gerechnet, dass 50–70 Prozent der ehemaligen Volkseigenen Betriebe (VEB) den Übergang in die Marktwirtschaft bewältigen würden, so sank deren Schätzung nach dem 1. Juli 1990 rasch auf 10 Prozent. Es ging, wie der Vorstand der THA 1994 rückblickend schrieb, kaum noch um das Verhältnis von Privatisieren und Sanieren. "Sanieren oder Stilllegen" war von nun ab "die eigentlich entscheidende Frage".
2. Ein Betrieb – verschiedene Interessenlagen
Die Partei, deren Interesse am engsten mit der Existenz des zu privatisierenden Betriebes verbunden war, war zweifellos die Belegschaft. Sie, insbesondere die leitenden kaufmännischen und technischen Fachleute, aber auch die Meister und Vorarbeiter kannten in der Regel aus ihrer jahre- bzw. jahrzehntelangen Tätigkeit im Betrieb seine Stärken und Schwächen, den Zustand der Maschinen und Anlagen, die Qualifikation der Beschäftigten und des Managements, aber auch die Vertragspartner im In- und Ausland gut. Die Aufhebung der Zollschranken zwischen beiden deutschen Staaten, vor allem aber die sich als Kostensprung niederschlagende Aufwertung hatten dieses Wissen nur teilweise entwerten können. Es war insofern nicht verwunderlich, dass seitens der Betriebsbelegschaften vor und nach der am 1. Juli 1990 eingeleiteten Schocktherapie Vorstellungen über die Weiterexistenz der Betriebe, über ihre Umstrukturierung in Anpassung an marktwirtschaftlichen Bedingungen entwickelt wurden. Oftmals knüpften die 1990/91 entworfenen Zukunftspläne an Überlegungen und Verträge mit westdeutschen Firmen der gleichen Branche an, die geschlossen worden waren, als sich abzeichnete, dass in der DDR planwirtschaftliche durch marktwirtschaftliche Strukturen ersetzt würden. Im ersten Halbjahr 1990, also bevor die Schocktherapie wirkte, belief sich die Zahl der abgeschlossenen Joint Ventures auf insgesamt 2.800.
Nach der Währungsunion waren die Joint Ventures rasch vergessen. Sofern sie überhaupt Kaufangebote vorlegten, wurden von den westdeutschen Unternehmen, der zweiten Interessengruppe, hauptsächlich zwei Optionen verfolgt: Einmal der Aufkauf des Konkurrenten. Das bedeutete Verkleinerung und letztlich Schließung der Produktionsstätte. Zweitens ging es um die Umwandlung des aufgekauften Unternehmens in eine "verlängerte Werkbank", das heißt um die Fertigung von Erzeugnissen in der ostdeutschen Filiale, die im Stammbetrieb des Unternehmens entwickelt wurden. Im Interesse der ostdeutschen Belegschaften war diese Entwicklung nur bedingt positiv zu bewerten. Es gingen nicht nur massenhaft Arbeitsplätze in der Produktion verloren, sondern es verschwanden überproportional bzw. vollständig Arbeitsstellen in der Forschung und Entwicklung. Als zum Beispiel der westeuropäische Branchenprimus, Agfa-Gevaert der Filmfabrik Wolfen die Konzentration auf ein Spezialsortiment und den Verzicht auf eigene Forschung und Entwicklung nahelegte, hatten die Wolfener dieses unattraktive Angebot erst einmal entschieden abgelehnt.
Eine vollständige Interessenübereinstimmung zwischen westdeutschen Käufern und ostdeutschen Belegschaften konnte es nur in dem Falle geben, wo von Seiten des aufkaufenden Unternehmens Produktionserweiterungen geplant gewesen waren und diese Expansion nun billiger (geringere Lohnkosten und Immobilienpreise) in den neuen Ländern vollzogen werden konnte. Da aber die westdeutsche Industrie 1990 in fast allen Zweigen über freie Kapazitäten verfügte und sich zudem ab 1991/92 die Zeichen einer weltweiten Absatzkrise mehrten, trat diese für den Westen wie für den Osten günstige Konstellation kaum noch ein.
Eine dritte an der Art und Weise der Privatisierung der ehemaligen VEB interessierte Gruppe waren die fünf neuen Bundesländer: Je mehr Betriebe überlebten und je geringer der Produktionsrückgang war, desto nennenswerter waren die Steuereinnahmen, die den Ländern zuflossen. Es waren aber nicht nur finanzielle, auf das Budget bezogene Überlegungen, die den Länderregierungen das Schicksal der auf ihrem Territorium befindlichen Betriebe ans Herz legte. Massenhafte Stilllegungen mussten zu einer generellen Unzufriedenheit der Bevölkerung führen, die Akzeptanz der regierenden Politiker schmälern, konnten deren Wiederwahl vereiteln.
Aber nicht nur Stilllegungen standen den Interessen der Länder entgegen, auch "verlängerte Werkbänke" widersprachen ihren Absichten, da arbeitsteilige Beziehungen zu den regionalen Zulieferern zerrissen wurden bzw. Beschäftigungsmöglichkeiten in Ingenieurberufen verloren gingen. Die Entwicklung einer in ihren verschiedenen Zweigen aufeinander abgestimmten Regionalstruktur war damit in Frage gestellt.
Viertens war die Transformation der ehemaligen VEB ein Anliegen der Bundesregierung. Deren Hauptinteresse galt der Durchsetzung der "Sozialen Marktwirtschaft als gemeinsame Wirtschaftsordnung". Die wurde "insbesondere bestimmt durch Privateigentum."
3. Treuhandpolitik als Interessen- und Machtpolitik
Zum Instrument der Durchsetzung der für die Soziale Marktwirtschaft charakteristischen privatkapitalistischen Eigentumsstrukturen war die Treuhandanstalt ausersehen worden. Wessen Interesse vertrat sie, das einer, einzelner oder aller an der Privatisierung der Treuhandbetriebe Anteil nehmenden Gruppen? Gab es darüber hinaus ein institutionelles Eigeninteresse?
Detlev Carsten Rohwedder, seit dem 1.1.1991 Präsident der Treuhandanstalt. Das Amt hatte er bereits im August 1990 kommissarisch übernommen. (© Thomas Lehmann / Bundesarchiv, Bild 183-1990-0821-025)
Detlev Carsten Rohwedder, seit dem 1.1.1991 Präsident der Treuhandanstalt. Das Amt hatte er bereits im August 1990 kommissarisch übernommen. (© Thomas Lehmann / Bundesarchiv, Bild 183-1990-0821-025)
Letzteres wurde vom Vorstand der THA verneint. Detlev Carsten Rohwedder versicherte im April 1991: Die THA handele "nicht im Eigeninteresse. Ihre Aufgabe ist Dienstleistung für das ganze Volk".
In der Öffentlichkeit ist die THA tatsächlich als unabhängige Institution wahrgenommen worden. Als "allmächtige Treuhand" wurde sie in der Presse bezeichnet, ihr Präsident als "Herrscher des Ostens".
Die Interessen der Bundesregierung waren allerdings nicht die einzigen, die im Privatisierungsgeschehen der Treuhandanstalt eine Rolle spielten. Westdeutschen Betrieben gelang es vielfach, bei der THA ihre Vorstellungen über die Behandlung von Ostbetrieben mit gleichem oder ähnlichem Produktionsprofil durchzusetzen. Das war auch ohne entsprechende "Leitlinien" möglich, da das Führungspersonal der Treuhand zum größeren Teil aus Managern bestand, welche die THA aus westdeutschen Konzernen angeworben bzw. "ausgeliehen" hatte. Sämtliche Direktoren und 81 Prozent der Abteilungsleiter der Behörde stammten Mitte 1993 aus der alten Bundesrepublik.
Kriterium für die Unterstützung Treuhandbetriebe waren offiziell die Marktfähigkeit der Unternehmen. Um sie zu bestimmten, bediente sich die THA Gutachter- und Unternehmensberaterfirmen. Allerdings – so Treuhandpräsidentin Birgit Breuel – "ist die soziale Marktwirtschaft nur eine Ordnungsform. Sie sagt eher, was man nicht tun sollte, als was man tun muss, um auf jeden Fall Erfolg zu haben."
Anders als Bundesregierung und Privatunternehmen übten die Länder keinen direkten Einfluss auf die Tätigkeit der THA aus, obwohl sie für die Wirtschaftspolitik ihrer Regionen verantwortlich waren. Ursprünglich hatten deswegen Abgeordnete verschiedener in der der Volkskammer vertretenen Parteien, von der PDS bis hin zur CDU, in der Schlussberatung des Treuhandgesetzes am 17. Juni 1990 eine Übertragung von Treuhandkompetenzen auf die neuen Länder gefordert, deren Gründung vorbereitet wurde. Zwar fand dieses Votum keinen Niederschlag im Gesetzestext, doch wurde die Volkskammer aufgefordert, zu beschließen "dass bei einer Vereinigung beider deutscher Staaten das Vermögen und die Rechte der Treuhandanstalt auf die Länder übergehen".
Eine Einflussnahme der Belegschaften auf die Privatisierungspolitik der THA billigte das Treuhandgesetz dagegen – wenngleich nur eine indirekte. Die Mitte Juli 1990 verabschiedete Satzung der THA sah unterhalb der Vorstandsebene die Bildung von nach dem Branchenprinzip organisierten Treuhand-Aktiengesellschaften vor. Die Treuhand-AG wären unter das bundesdeutsche Mitbestimmungsgesetz von 1976 gefallen. Damit hätten Arbeitnehmervertreter bei der Privatisierung ihrer Unternehmen ein Mitspracherecht gehabt. Der Verwaltungsrat der THA, dem im Sommer 1990 Detlev Carsten Rohwedder vorstand, stoppte jedoch die Vorbereitungen für die Treuhand-AG, ließ sich vom Unternehmensberatungsunternehmen Roland Berger eine auf einer Zentrale und 15 örtlichen Niederlassungen beruhende Organisationsstruktur empfehlen und entging auf diese Weise der "Gefahr, dass sich mit den Aktiengesellschaften Machtzentren bildeten, die die Durchführung des Privatisierungsauftrags der Treuhandanstalt unterlaufen"
Damit waren die unmittelbar betroffenen Institutionen – die Betriebe – ebenso von Entscheidungen über die Privatisierung ausgeschlossen wie die für die regionale Wirtschaftsentwicklung im Osten verantwortlichen Regierungsorgane, die Länder. Die THA herrschte unangefochten und autokratisch über die ihr zugeordneten Unternehmen. Das war zweifellos ein schwerwiegendes Defizit an Demokratie in jenem gesellschaftlichen Bereich, der für die Entwicklung Ostdeutschland nach Vollzug der Einheit am wichtigsten war.
4. Nachträgliche Demokratisierung
Nachfolgerin Carsten Detlev Rohwedders als Treuhand-Chefin wurde Birgit Breuel. (© Christian Stutterheim / Bundesregierung, B 145 Bild-00110002)
Nachfolgerin Carsten Detlev Rohwedders als Treuhand-Chefin wurde Birgit Breuel. (© Christian Stutterheim / Bundesregierung, B 145 Bild-00110002)
Die Beschwerden der im Herbst 1990 gebildeten Länder über ihre Abdrängung in die Unmündigkeit, soweit das Privatisierungsverfahren auf ihrem Territorium gelegene Betriebe betraf, ließen nicht lange auf sich warten. Auch die im Dezember 1990 in den Bundestag gewählten Abgeordneten aller Parteien aus dem Osten und die Vertreter der Oppositionsparteien forderten, dass die Parlamentarier in den neuen Ländern bei der Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft nicht länger ungefragt bleiben dürften. Es dauerte allerdings bis zum März 1991, bevor die "Grundsätze zur Zusammenarbeit von Bund, neuen Ländern und Treuhandanstalt für den Aufschwung Ost" – auf Drängen des Bundeskanzlers – verabschiedet wurden. Einleitend übte die THA so etwas wie Selbstkritik, als sie sich den Ländern als "Dienstleiter für eine sozialverträgliche regionale Strukturpolitik" anbot. Sie versicherte jedoch, dass ungeachtet dessen "die Privatisierung das ordnungspolitische Ziel bleibt". Wollte die THA "auf die Länder zugehen", so verstand sie darunter nicht die Einladung, mit zu entscheiden, sondern die Verpflichtung, rechtzeitig "Abstimmungsgespräche mit der betroffenen Landesregierung über Zeitpunkt, Verfahren und Management der Stilllegung [zu] führen" und "nach der Entscheidung über die Stilllegung" der Administration "alle Informationen zu übergeben, die für die Einleitung geeigneter (sozialer) Ausgleichsmaßnahmen erforderlich sind."
Eine Möglichkeit des Bundestages, auf die Treuhandanstalt Einfluss zu nehmen, hätte normalerweise das Budgetrecht geboten. Von den jährlichen Haushaltsfestlegungen war die THA jedoch durch Zubilligung eines milliardenschweren Kreditrahmens jeweils für 1990/91 und 1992/94 befreit. Immerhin wurde beim Haushaltsausschuss des Bundestages ein Unterausschuss eingerichtet, der sich mit der THA befassen sollte. Es dauerte bis zum April 1993, bevor ein eigenständiger Ausschuss "Treuhand" seine Arbeit aufnahm, dem nicht mehr nur Haushaltsexperten, sondern auch Abgeordnete mit Kompetenz in Fachbereichen wie Industrie und Landwirtschaft angehörten
5. Basisdemokratische Einmischung
Die Möglichkeiten, die die Organe der repräsentative Demokratie boten, die Interessen der Betriebsbelegschaften nach bestmöglicher Transformation der Unternehmen und die der Landesregierungen nach einer abgestimmten Regionalpolitik einzubringen, erwiesen sich als gering, vor allem weil die Institutionen – soweit sie überhaupt zustande kamen – nur am Rande der Entscheidungsstrukturen verankert wurden. Wollte man die eigenen Interessen in den Privatisierungsprozess einbringen und bei der Treuhandanstalt gegen die der Bundesregierung und der Wirtschaftslobby durchsetzen, dann blieb nur die basisdemokratische Einmischung. Um ihren Betrieb ungeachtet der vernichtender Urteile der Unternehmensberatungen zu erhalten bzw. seine Aufspaltung und Miniaturisierung und die damit verbundenen Massenentlassungen zu verhindern, um von der THA Kredite einzufordern, mit deren Hilfe man eigene, unabhängig von der Treuhand entwickelte und zum Teil bereits mit möglichen Investoren abgesprochene Modernisierungsmaßnahmen durchzuführen, bedurfte es der Belegschaftsproteste, war es notwendig in die Öffentlichkeit zu gehen, die Medien für sich zu gewinnen und in den Landesregierungen – notfalls durch Ausübung von Druck – Verbündete zu mobilisieren.
Bergbaukumpel vor dem besetzten Kalibergwerk Bischofferode am 7.7.1993. (© ullstein bild)
Bergbaukumpel vor dem besetzten Kalibergwerk Bischofferode am 7.7.1993. (© ullstein bild)
Die Formen des Protestes waren vielfältig. Sie reichten von Arbeitsniederlegungen über Mahnwachen bis zu Protestmärschen, zur Besetzung von Verkehrsknotenpunkten und Parlamentsgebäuden, ja bis zum Hungerstreik der Kumpel im Kalibergwerk von Bischofferode, der den gesamten Osten erregte ("Bischofferode ist überall!"). Über die Gründe, warum die Kalikumpel gegen den Schließungsbeschluss für ihre Grube leidenschaftlich intervenierten, ließ sich deren Betriebsrats-vorsitzender Mitte 1993 aus: "Das Todesurteil war bereits verhängt worden, als sich MdK [das ehemalige Kalikombinat] und der in Kassel sitzende Vorstandsvorsitzende von [dem hessischen Kalikonzern] Kali und Salz auf ein Fusionskonzept einigten, in dem für Bischofferode kein Platz mehr war. Dabei hatte ein paar Monate zuvor, am 6. Juli, Thüringens Ministerpräsident [Bernhard] Vogel bei einem Besuch versichert, Bischofferode wird nicht geschlossen. Schließlich waren 1991/92 noch Investitionen in Millionenhöhe getätigt worden. Umso härter traf uns das Aus". Die Kalikumpel wussten, dass der "Stamm-Markt" für ihre Produkte vor und nach 1990 Nord- und Westeuropa waren. Sie waren sich, ungeachtet der Versicherung von Treuhandpräsidentin Birgit Breuel, die Anstalt habe 40 eventuell interessierte Unternehmen vergeblich kontaktiert, einig: "Da wir eine starke Konkurrenz darstellen, müssen wir ausgeschaltet werden."
Wie im Falle des Hungerstreiks von Bischofferode gelang es auch in den meisten anderen Fällen durch basisdemokratischen Aktionen nicht, die autokratisch regierende Treuhand zu korrigieren, bestenfalls kam es zu einer Verzögerung der Schließungen. Ein Überblick über Umfang der Proteste und Durchsetzungsvermögen der protestierenden Belegschaften fehlt bis heute. Einzelbeispiele aus dem Bereich der metallverarbeitenden Industrie hat die "taz"-Journalistin Annette Jensen in einer Publikation gebündelt.
Im Vergleich war der Anteil jener Proteste, die Szabó als "die öffentliche Ordnung störend" einstuft, in den neuen Bundesländern besonders hoch: 62 Prozent im Vergleich zu 55 (Polen) und 33 Prozent (Ungarn und Slowakei). Es ist sicherlich berechtigt, aus der Intensität der Proteste in der ehemaligen DDR auf das besonders rigorose Vorgehen der Privatisierungsbehörde in den neuen Bundesländern zu schließen. Die Zahlen könnten aber auch dafür sprechen, dass die Proteste hier in stärkerem Maße spontanen Charakter trugen als etwa in Polen. Tatsächlich waren nach Szabós Angaben im Falle Polens 49,1 Prozent der von ihm aufgelisteten Proteste von den Gewerkschaften organisiert, in Ostdeutschland dagegen nur 16,5 Prozent.
Auf einer Demonstration am 19.12.1990 forderten Mitglieder der IG Metall, Betriebsräte und Belegschaftsmitglieder der Maxhütte Unterwellenborn GmbH von der Treuhand, den Stahl-Standort Unterwellenborn zu erhalten. Auf dem Transparent heißt es: "Wie weit treibt die Treuhand das Spiel mit unseren Arbeitsplätzen". (© Bundesarchiv, Bild 183-1990-1219-006, Fotograf: Klaus Franke)
Auf einer Demonstration am 19.12.1990 forderten Mitglieder der IG Metall, Betriebsräte und Belegschaftsmitglieder der Maxhütte Unterwellenborn GmbH von der Treuhand, den Stahl-Standort Unterwellenborn zu erhalten. Auf dem Transparent heißt es: "Wie weit treibt die Treuhand das Spiel mit unseren Arbeitsplätzen". (© Bundesarchiv, Bild 183-1990-1219-006, Fotograf: Klaus Franke)
Im Herbst 1990 waren die ostdeutschen Industriegewerkschaften, die sich im 1. Halbjahr 1990 vom Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) abgekoppelt hatten, in die Westgewerkschaften integriert worden. In deren Vorständen, so eine IG Metall-Funktionärin aus dem Osten, die in den Vorstand dieser vereinigten Gewerkschaft gewählt worden war, habe man "natürlich auch ab und zu über die Messenentlassungen im Osten gesprochen, doch die allgemeine Reaktion sei gewesen: 'So ist das nun Mal in der Marktwirtschaft'".
6. Schlussbetrachtung
Wären Privatisierung und wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands anders verlaufen, wenn die Entscheidungen über das Schicksal der ehemaligen VEB weniger autokratisch und stärker demokratisch gefällt worden wären? Die Frage lässt sich bis heute schwer beantworten, zumal diesbezügliche vergleichende Untersuchungen über die wirtschaftlichen Ergebnisse der Privatisierung in anderen ehemaligen ostmitteleuropäischen Planwirtschaften noch ausstehen. Bedenkenswert ist jedoch, dass Polen, dessen Privatisierungsprozess deutlich demokratischere Strukturen aufwies
Doch bemerkenswert sind nicht nur materiellen Auswirkungen der Treuhand-Privatisierung. Die Ostdeutschen machten in den Jahren, da die "allmächtige Treuhand" im Osten bestimmte, unmittelbare und keineswegs ermutigende Erfahrungen mit der repräsentativen Demokratie und sahen im Zuge der Auseinandersetzungen um Sanierung oder Stilllegung hinter die Kulissen der Sozialen Marktwirtschaft, was sich mental bis heute in einer (im Vergleich zur Bevölkerung Westdeutschlands) deutlich geringeren Wertschätzung