Einleitung
Ohne Frage erfüllt der Verkehrssektor in modernen Gesellschaften wichtige Aufgaben.
Über eine technische Infrastruktur verfügt auch die Eisenbahn. Dabei handelt es sich z.B. um die Gleis- und Sicherungsanlagen, Brücken sowie Gebäude und bauliche Anlagen. In der historiographischen Forschung ist die Entwicklung des ostdeutschen Verkehrs bis 1989 sowie die zugehörige Politik der hegemonialen Staatspartei, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED), bislang weitgehend ein Desiderat geblieben. Der vorliegende Beitrag versucht, dem für die ortsfesten Bahnanlagen für die zweite Hälfte der Achtzigerjahre abzuhelfen, indem mit dem Konflikt zwischen Alfred Neumann und Günter Mittag paradigmatisch für die gesamte Zeit der SED-Herrschaft aufgezeigt wird, welche Politik die Parteielite auf diesem Gebiet verfolgte, welche Zwänge daraus für die staatliche Ebene entstanden und wie sich die politischen Intentionen auf den wirtschaftlich-technischen Zustand der Eisenbahninfrastruktur auswirkten. Ferner kann an diesem Beispiel nachgewiesen werden, dass die Partei- und Staatsführung zumindest ab 1986 nicht den von der DDR gern beschworenen und von außen wahrgenommenen spannungsfreien, monolithischen Block verkörperte.
Die Rahmenbedingungen in der finalen Dekade der DDR
In der DDR stellte die Eisenbahn über vier Jahrzehnte das politisch präferierte Transportmittel für den Güter- und Personenverkehr dar. Ganz besonders traf das auf die 1980er-Jahre zu.
Anstieg des Gütertransports der Deutschen Reichsbahn 1970–1986. (© ADN-Zentralbild / Bundesarchiv, Bild 183-1987-0828-010, Foto: o.A.)
Anstieg des Gütertransports der Deutschen Reichsbahn 1970–1986. (© ADN-Zentralbild / Bundesarchiv, Bild 183-1987-0828-010, Foto: o.A.)
Der Bezug von Erdöl vom größten Lieferanten im Ostblock, der Sowjetunion, hatte sich für den ostdeutschen Staat deutlich verteuert. Zudem war dieser von der östlichen Schutzmacht dazu aufgefordert worden, die inzwischen stark angewachsene Auslandsverschuldung erheblich abzubauen. Daraufhin setzten die Machthaber Maßnahmen in Gang, um den Verbrauch des flüssigen Energieträgers rigoros einzuschränken. Das hierdurch freigewordene Erdöl sollte unter anderem mit entsprechenden Verfahren tiefer gespalten und weiterverarbeitet werden, um die Produkte gegen die für die Reduzierung der Schulden dringend benötigten Devisen auf dem westlichen Markt veräußern zu können.
Im Verkehrswesen führten die neuen Richtlinien dazu, dass eine Vielzahl primär an Gütertransporten von der Straße auf die Schiene verlagert wurde. Das sollte sich aber überwiegend als unrentabel erweisen. Der zusätzliche Bedeutungsgewinn der heimischen Eisenbahn, die durch die Deutsche Reichsbahn (DR) betrieben wurde, ging aber nicht mit einer adäquaten Ausweitung der Investitionen durch die SED einher. Die Reichsbahn musste deshalb die immense Belastung auf bereits in der Vergangenheit investiv stark vernachlässigten und maroden Bahnstrecken bewältigen. Sie selbst hatte Erdöl einzusparen, indem sie durch eine beschleunigte Elektrifizierung in großem Umfang vom Dieselantrieb auf den durch mit Braunkohle erzeugten Strom übergehen sollte.
Vor diesem Hintergrund haben Neumann und Mittag ihre Auseinandersetzung ausgefochten.
Die Vorwürfe Alfred Neumanns
Alfred Neumann 1984 (© ADN-Zentralbild / Bundesarchiv, Bild 183-1984-0426-34)
Alfred Neumann 1984 (© ADN-Zentralbild / Bundesarchiv, Bild 183-1984-0426-34)
Alfred Neumann, geboren 1909, war in den 1980er-Jahren in der DDR einer derjenigen, die am längsten der kommunistischen Bewegung sowie der Spitze von Staat und Partei angehörten. Seit 1962 hatte er einen Sitz im höchsten staatlichen Organ inne, dem Ministerrat bzw. in dessen Präsidium. Hier agierte er ab 1968 ohne Unterbrechung als einer von zwei Ersten Stellvertretern des Vorsitzenden des Ministerrates. Von 1979 an zählte die Eisenbahn zu seinem originären Aufgabenfeld im Ministerrat. In der für kommunistische Systeme typischen Verquickung hoher staatlicher und parteilicher Ämter gehörte Neumann durchgängig zum engeren zentralen Kreis der SED, dem Zentralkomitee (ZK) – seit 1954 – und in dessen Führungsgremium, dem Politbüro – seit 1958. Unter dem ersten Parteichef, Walter Ulbricht, bis 1971 noch reüssierend, verlor er nach der Machtübernahme Erich Honeckers, mit dem er sich nicht gut verstand, an Reputation und Einfluss im inneren Zirkel der SED. Gleichwohl behielt Neumann sich eigene, für die Partei unbequeme Ansichten vor.
Neumann hatte ab ca. 1985 im Ministerrat hauptverantwortlich die forcierte Elektrifizierung der Strecken der DR zu beaufsichtigen und zu koordinieren. Es gibt – berechtigte – Stimmen, die den Erfolg dieses umfangreichsten Unternehmens in der Geschichte der Reichsbahn der DDR eng mit seinem großen Engagement verknüpfen.
Der Erste Stellvertreter hatte die zentrale Position des Transportmittels in der Wirtschaft erkannt sowie prangerte nun offen dessen desolate Verfassung an. Er ging jedoch erratisch von dem Glauben aus, Mittag würde der Eisenbahn eine ebensolch hohe Wertschätzung zuteil werden lassen. Diese divergierenden Einstellungen sollten bis in den Herbst 1989 hinein bestehen und sich final zu einer Kontroverse zwischen den Beiden auswachsen.
Begünstigt wurde der Streit durch eine ausgeprägte gegenseitige Antipathie, die bereits eingangs der Sechzigerjahre ihren Anfang nahm und bis 1989 fortdauerte. Aufgrund der Machtfülle Mittags und der unangepassten Haltung Neumanns scheint die Auskunft von letzterem glaubhaft, der Wirtschaftssekretär habe ihm speziell in den letzten Jahren der DDR teilweise keine Einsicht mehr in Materialien zu wichtigen Beratungen bei Honecker gewährt und von diesen Treffen gar komplett ausschließen lassen.
Bei den wenigen verbliebenen Gelegenheiten nahm Neumann kein Blatt vor den Mund. Eineinhalb Jahre vor dem Zusammenbruch des SED-Regimes brachte er im Politbüro den Mut auf zu kritisieren, dass bei der Eisenbahn in den letzten 20 Jahren nicht einmal die einfache Reproduktion (Erneuerung bzw. Ersetzung veralteter Anlagen) gegeben gewesen sei; nur 70 Prozent dieser Reproduktion seien erreicht worden. Mehr noch: "Wir fahren die Eisenbahn auf Verschleiß. Können wir der Eisenbahn keine Zukunft geben? Wir müssen der Eisenbahn eine Zukunft geben." Die Elektrifizierung sei zwar begonnen worden, alle anderen Segmente der ortsfesten Anlagen würden aber in ihrer Entwicklung stagnieren. Weiter monierte Neumann Rechentricks, mit denen offensichtlich Erneuerungen zeitlich hinausgeschoben werden sollten: "Die Normative Nutzungsdauer wurde vor 20 Jahren durch die Staatliche Plankommission auf 60 Jahre erhöht. Wollen wir herauskommen, dann hilft doch nicht, wenn wir frisieren. Es muss eindeutig entschieden werden, was muss gemacht werden."
Die gegenläufigen Intentionen von Neumann und Mittag zur ostdeutschen Bahn eskalierten Ende 1988/Anfang 1989 in einem sehr scharfen schriftlichen Disput. Er wurde indirekt, über die Tische der jeweiligen Dienstherren – rein formal Willi Stoph, Vorsitzender des Ministerrates, (von Neumann) und Honecker (von Mittag), in praxi für beide SED-Chef Honecker – ausgetragen. Die Diskussion eröffnete Neumann mit seinen Überlegungen "zu einigen aktuellen Problemen unserer Eisenbahn."
Danach ging Neumann auf theoretische Grundlagen zu den Anlagen ein, die implizit wiederum einige Faktoren aufscheinen lassen, warum die Eisenbahn in der Wirtschafts- und Technikpolitik der SED eine nachrangige Stellung einnahm. Doch Neumann überhäufte in diesem Zusammenhang erneut die Plankommission mit Vorwürfen: "Die Eisenbahn mit ihrem hohen Anlagevermögen ist kein Bereich, der Fonds
Nicht ganz klar ist, ob Neumann wirklich die Plankommission als Hauptschuldige betrachtete oder ob er sie als taktisches Mittel vorschob, um verdeckt Kritik an der Politik der eigenen Partei zu üben. Trotz seiner teilweise konträren Denkansätze ist Neumann in den Grundfesten stets ein loyales SED-Mitglied geblieben. Daher liegt ersteres, die Kritik an der SPK, näher. Wiederholt bezeichnete er die Elektrifizierung als "Torso", da die sonstigen Bahnanlagen auf den mit Strom betriebenen Trassen nicht mit modernisiert würden. Der theoretische Teil seiner Ausführungen zur Eisenbahn basierte in Sequenzen auf einer Zuarbeitung von Werner Gross, Professor für Ökonomie des Transports an der Dresdener Hochschule für Verkehrswesen, zugleich Direktor des Zentralen Forschungsinstitutes des Verkehrswesens, vom September 1987.
Die Reaktion von Günter Mittag
Günter Mittag, 1984. (© ADN-Zentralbild / Bundesarchiv, Bild 183-1984-0618-408)
Günter Mittag, 1984. (© ADN-Zentralbild / Bundesarchiv, Bild 183-1984-0618-408)
Günter Mittag antwortete auf Neumanns Analyse im Februar 1989 lediglich Erich Honecker. Wahrscheinlich war er von diesem dazu aufgefordert worden. Die Entgegnungen Mittags entfalten eine doppelte Brisanz, die sich aus dessen parteilicher Laufbahn und beruflicher Ausbildung speist. Zum einen war er schon in den Fünfzigerjahren im ZK-Apparat für die Eisenbahn verantwortlich gewesen. Ab 1962 hatte er mit einem kurzen Intermezzo im Ministerrat (1973–1976) bis zum Kollaps der Herrschaft der Hegemonialpartei die Funktion des Wirtschaftssekretärs der SED inne. In dieser Position traf er wichtige Festlegungen zur heimischen Bahn. Unter Honecker avancierte er ab 1976 auf diesem Gebiet und der Wirtschaft in Gänze zum bedeutendsten Entscheidungsträger. Zum anderen hatte Mittag die Profession des Eisenbahners von Grund auf erlernt. Überdies hatte er 1958 an der Verkehrshochschule Dresden zum Transportsektor promoviert.
Doch der ZK-Sekretär verteidigte die bisherige Linie der Partei. Er interpretierte das Elaborat des führenden Vertreters der Regierung als klaren Affront gegen die SED und ihre Wirtschaftspolitik. Der Inhalt des Papiers von Neumann lasse, so Mittag, die Beschlüsse zum Parteiprogramm von 1976, der Parteitage, der ZK-Tagungen und des Politbüros zur Leistungsfähigkeit der Eisenbahn außer Betracht. Unter anderem im langfristig angelegten Parteiprogramm von 1976 war sanktioniert worden, das Transportwesen, auch die Bahnanlagen, lediglich nach den Erfordernissen und Möglichkeiten der Volkswirtschaft weiter zu entwickeln.
Neumann wurden die Gegenargumente Mittags zwei Monate später zugesandt. Er bat hernach den Sekretär zu dem Komplex offenbar noch um ein persönliches Gespräch, zu dem es aber nicht kam.
Weitere Motive und Folgen der Infrastrukturpolitik
Schäden an Gleisen auf dem Güterbahnhof Merseburg in einer Aufnahme des Ministeriums für Staatssicherheit. (© BStU, AS 39/63, Bd. 1, Bl. 103)
Schäden an Gleisen auf dem Güterbahnhof Merseburg in einer Aufnahme des Ministeriums für Staatssicherheit. (© BStU, AS 39/63, Bd. 1, Bl. 103)
Zusätzliche Hintergründe für den geringen Stellenwert der technischen Infrastruktur im Allgemeinen in der SED-Führung legte nach 1989 ein Mitarbeiter der zentralen Parteibürokratie offen. Heinz Klempke arbeitete bereits seit den 1950er-Jahren in der zuständigen ZK-Abteilung Verkehr und Verbindungswesen bzw. Transport- und Nachrichtenwesen und war zuletzt ihr stellvertretender Leiter. Er war demnach mit der fachlichen Materie und mit Interna der SED-Verkehrspolitik vertraut. Klempkes Erfahrung nach herrschte bei der Parteielite die falsche Meinung vor, die Infrastruktur sei zu teuer und erzeuge zu wenig konkrete Produkte. Ferner seien die Anlagen von ihr nicht als wachstumsfördernd angesehen worden oder hätten nicht in deren Wirtschaftskonzept gepasst. Dabei wäre, so Klempke, eine leistungsfähige Infrastruktur für eine gute Entwicklung der Volkwirtschaft von sehr großer Bedeutung gewesen.
Stattdessen favorisierten die Akteure und Gremien an der Spitze der Partei über 40 Jahre die Industrie, insbesondere die Investitionsgüterindustrie. Damit orientierten sie sich am sowjetischen Vorbild, betrieben eine "sozialistische Industrialisierung".
Gleisschäden bei Lauchhammer im Cottbuser Braunkohlerevier. Aufnahme des Ministeriums für Staatssicherheit. (© BStU, AS 39/63, Bd. 1, Bl. 172)
Gleisschäden bei Lauchhammer im Cottbuser Braunkohlerevier. Aufnahme des Ministeriums für Staatssicherheit. (© BStU, AS 39/63, Bd. 1, Bl. 172)
Zu welchen wirtschaftlich-technischen Zuständen dieser Kurs bei der ostdeutschen Eisenbahninfrastruktur letztlich geführt hatte, kann am Beispiel der Gleisanlagen veranschaulicht werden: Im Herbst 1989 betrug der Anteil der zwei- und mehrgleisigen Verbindungen am Gesamtnetz der Reichsbahn nur rund 30 Prozent – bei der westdeutschen Bundesbahn lag die Quote zu dieser Zeit bei 46 Prozent. Bei der DR bestanden angesichts von Mängeln auf den Strecken 750 sogenannte "Langsamfahrstellen" von insgesamt 850 Kilometern Länge. Lediglich auf einem Viertel der Strecken konnte die auf ihnen zugelassene Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h wirklich gefahren werden. Die Gleisunterhaltung blieb wegen zu geringer Kontingente weit hinter dem erforderlichen Maß zurück. Ein Großteil der Maschinen und Geräte für Gleisbau und -reparaturen war bereits voll abgeschrieben. Um das DR-Schienennetz auf westlichen Standard zu heben, wurde 1990 mit 70 Milliarden DM kalkuliert.