Verena Becker und das Buback-Attentat
Am 30. September 2010 begann vor dem Oberlandesgericht Stuttgart der Prozess gegen das ehemalige Mitglied der "Rote Armee Fraktion" (RAF) Verena Becker. Die Anklage der Bundesanwaltschaft wirft ihr vor, am Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seinen beiden Begleitern Georg Wurster und Wolfgang Göbel am 7. April 1977 beteiligt gewesen zu sein. Ihr konkreter Tatbeitrag sei gewesen, den Tatort ausgespäht und hinterher die Bekennerschreiben verschickt zu haben. Becker steht aber beim Nebenkläger Michael Buback, Sohn des Ermordeten, wie einigen anderen Beobachtern des Falles auch im Verdacht, sogar persönlich die tödlichen Schüsse vom Soziussitz des Tatmotorrades aus abgegeben zu haben. Dieser Verdacht stützt sich auf Zeugenaussagen, die auf dem Motorrad eine Frau als Beifahrerin und Schützin wahrgenommen haben wollen, sowie darauf, dass bei Verena Becker und Günter Sonnenberg bei ihrer Festnahme am 3. Mai 1977 in Singen die Tatwaffe sowie ein Schraubenzieher aus dem Bordwerkzeug des Tatmotorrades sichergestellt wurden. Die Bundesanwaltschaft dagegen teilt diese Sicht nicht. Für sie saßen auf dem Tatmotorrad zwei Männer, also unter keinen Umständen Becker.
Der Prozess ist mit den herkömmlichen Vorstellungen von RAF-Verfahren nicht zu verstehen. Man muss wissen, dass Verena Becker ab einem bestimmten Zeitpunkt Informantin, wenn nicht sogar V-Frau des Verfassungsschutzes (VS) war. Gesichert ist, dass sie ab 1981 umfangreiche Aussagen vor dem Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln gemacht hat. Unklar ist bislang, wie lang dieser Kontakt anhielt – und vor allem, wann er anfing. Bestand er bereits vor dem Attentat von 1977, würde das bedeuten, dass möglicherweise eine VS-Informantin in das Attentat auf den höchsten Ermittler der Bundesrepublik verwickelt war bzw., dass der Inlandsnachrichtendienst zumindest Informationen über das Attentat gehabt haben müsste.
Auf der Anklagebank in Stuttgart sitzt also möglicherweise nicht nur eine Terroristin, sondern gewissermaßen auch der Staat. Das macht das gesamte Verfahren so heikel.
Indizien könnten dafür sprechen, dass Verena Becker sogar bereits ab 1972 für den Verfassungsschutz tätig war. Sie war damals Mitglied der Terrororganisation "Bewegung 2. Juni". Dem Verfassungsschutz gelang es, mehrere Mitglieder der "Bewegung 2. Juni" zu einer Zusammenarbeit zu bewegen. Er hatte sie in Haft kontaktiert – warum nicht auch Becker? Eine Terroristin und eine VS-Informantin. Es ist die Kombination beider Rollen, in der der politische Sprengstoff dieses Verfahrens liegt. Denn wenn Becker nicht Informantin des VS war, warum sträubt sich dann die Bundesanwaltschaft so sehr dagegen, sie könnte die Todesschützin gewesen sein? Und umgekehrt: Wenn sie nicht die Todesschützin war, warum wird dann um ihre VS-Tätigkeit ein solches Geheimnis gemacht?
Im Verfahren schweigen bisher beide Seiten. Verena Becker macht im Prozess vor dem OLG Stuttgart keine Aussagen. Eine Reihe ehemaliger RAF-Mitglieder, unter anderen Brigitte Mohnhaupt, Knut Folkerts, Günter Sonnenberg und Stefan Wisnewski, tat es ihr gleich. Und das Bundesamt für Verfassungsschutz und sein Dienstherr, das Bundesinnenministerium, weigern sich, dem Gericht trotz dessen wiederholten Antrags Unterlagen über den Fall Becker–Buback zur Verfügung zu stellen.
Auf die Ereignisse und die Beweislage dieses Prozesses soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden.
Kraushaar: Becker und Verfassungsschutz (© Hamburger Edition, Hamburg)
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Kurz nach Beginn der Hauptverhandlung, im Herbst 2010, legte der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung ein Buch vor: "Verena Becker und der Verfassungsschutz" (Hamburg: Hamburger Edition 2010, 203 S., € 16,–). Es geht darin weniger um das nach wie vor ungeklärte Buback-Attentat, sondern Kraushaar hat alle möglichen Spuren und Indizien zusammengetragen, die Kontakte des Verfassungsschutzes zur "Bewegung 2. Juni" und auch zu Verena Becker belegen sollen. Kraushaar kommt zu der Überzeugung, dass Becker schon zum Zeitpunkt des Attentates auf Buback im April 1977 Informantin des Verfassungsschutzes war. Für ihn steht außerdem fest, dass sie an diesem Attentat selber direkt beteiligt war.
Thomas Moser hat mit Wolfgang Kraushaar über sein Buch und seine Untersuchungen gesprochen. Das Interview wurde am 2. November 2010 geführt. Der Sachstand ist bis heute, April 2011, unverändert.
Interview mit Wolfgang Kraushaar
Thomas Moser: "Verena Becker und der Verfassungsschutz" ist der Titel Ihres Buches. Der scheint etwas spezifisch zu sein. Will das Buch etwas leisten?
Wolfgang Kraushaar: Das Buch will einen Beitrag leisten zu der seit über drei Jahren anhaltenden Diskussion über die Rolle Verena Beckers beim Buback-Attentat.
Nachgewiesen ist, dass Verena Becker vor dem Verfassungsschutz ausgesagt hat. Die Frage, ob sie vor 1977 für den Verfassungsschutz gearbeitet hat, ist ja eine brisante Frage. Die wird zwar überall gedacht, aber bisher nicht öffentlich formuliert. Warum?
Verena Becker auf einem Fahndungsfoto der 1970er-Jahre. (© ullsteinbild)
Verena Becker auf einem Fahndungsfoto der 1970er-Jahre. (© ullsteinbild)
Man rührt bei dieser Frage an ein großes Tabu. Nämlich die Möglichkeit, ob eine Terroristin vor einem Anschlag in irgendeiner Weise mit einem Geheimdienst in Verbindung gestanden haben könnte. Damit bringt man sozusagen den gesamten Staat mit ins Spiel. Bislang hat man sich bei verschiedenen Vorgängen, bei denen es nahegelegen hätte, an so etwas zu denken, sehr schwer getan, das zu thematisieren. Nun gibt es aber im Fall von Verena Becker eine ganze Reihe von Indizien, die dafür sprechen, dass sie mit dem Verfassungsschutz bereits vor 1981 kooperiert haben könnte. Insofern bin ich der Meinung, dass es nötig ist, die Punkte, die dafür, aber auch die dagegen sprechen, gegeneinander aufzustellen und sich ein Urteil zu bilden.
Sie sagten, es ist ein Tabu. Fast hat man den Eindruck, es gibt eine Angst davor, diese Frage zu stellen. Vielleicht, weil man Angst vor einer Antwort hat?
Das kann durchaus sein. Zunächst einmal ist es natürlich so, dass jeder, der mit einer Hypothese, die auf diese Verbindung abzielt, in den öffentlichen Raum geht, selber sozusagen kontaminiert werden kann durch den Vorwurf, er sei paranoid, er sei Verschwörungstheoretiker usw. Das heißt, er wird mit einer ganzen Reihe von Vorwürfen konfrontiert und belegt, die ihm Unwissenschaftlichkeit, Subjektivität und Affektivität unterstellen. Damit muss man in einem solchen Fall natürlich rechnen. Gleichwohl bin ich der Überzeugung, dass man das in Kauf nehmen und möglichst nüchtern auch transparent machen sollte, soweit das möglich ist.
Sie sagten, es gibt jede Menge Indizien dafür, dass Verena Becker auch vor 1977 für den Verfassungsschutz tätig wurde. Ihr wissenschaftliches Urteil lautet: Sie haben eine "begründete Vermutung", dass es so ist. Sie können es nicht beweisen. Ist das nicht zu wenig?
Das haben auch einige in den Besprechungen des Buches bemerkt. Das kann man ihnen nicht verübeln, zu diesem Urteil kann man gelangen. Aber ich glaube, dass es wichtig ist, das am Ende so zu formulieren, denn ich versuche ja zwischen zwei Dingen grundsätzlich zu unterschieden: einmal zwischen Tatsachenbehauptungen und zum anderen zwischen Hypothesenbildungen. Man sollte Beides nicht miteinander vermischen. Ich kann auf einer niedrigen Ebene eine Menge von Indizien aufbringen, die die Tatsachenbehauptungen belegen. Auf der anderen Seite aber ist es mir nicht möglich, über eine bloße Hypothesenbildung hinauszugehen, weil ich keine Belege dafür habe, keine Dokumente habe, dass sie tatsächlich ab 1972, wie ich nahelege, bereits für den Verfassungsschutz gearbeitet hat.
Sie rekonstruieren ziemlich genau den Fall Ulrich Schmücker. Ulrich Schmücker war zusammen mit Verena Becker in der Terrororganisation "Bewegung 2. Juni" aktiv. Welche Rolle spielt denn für die Identifizierung von Verena Becker dieser Fall Schmücker?
Mir fiel auf, dass das in der gesamten Debatte zunächst überhaupt keine Rolle gespielt hat, obwohl es nahegelegen hätte, weil Verena Becker ja zu derselben Subzelle der "Bewegung 2. Juni" zählte wie Ulrich Schmücker. Und man hätte seit längerer Zeit wissen können, dass der Verfassungsschutz erhebliche Anstrengungen unternommen hat, diese Zelle zu infiltrieren. Das ist vor allen Dingen durch einen V-Mann-Führer vorgenommen worden, nämlich Michael Grünhagen, der im Jahre 1972, nachdem die meisten Mitglieder dieser Zelle verhaftet worden waren, sie in Bad Neuenahr aufgesucht hat, um sie in der Haft entsprechend zu bearbeiten. Und bei zweien ist es ihm ja auch gelungen, sie für eine Mitarbeit zu gewinnen, nämlich bei Harald Sommerfeld und Ulrich Schmücker. Insofern gehe ich davon aus, dass Herr Grünhagen das auch im Falle von Verena Becker, die dann etwas später, im Juli 1972, verhaftet worden ist, versucht hat.
Sie sprechen von einer "Blaupause".
Ich spreche deshalb von einer Blaupause, weil wir es mit einem Phänomen zu tun haben, das folgendermaßen zu beschreiben ist: Von staatlicher Seite hat es Überlegungen gegeben, aufgrund des Informationsmangels über terroristische Organisationen, was ihre Anschlagsplanungen, ihre Aktionsplanungen anbetraf, wie man weitere Informationen gewinnen könnte. Bei der RAF war das in der Anfangszeit ja gelungen. Da gibt es den berüchtigten Fall von Karl-Heinz Ruhland, der frühzeitig festgenommen worden war und der dann weitflächige Aussagen gemacht hat, der aber auch nur eine Randfigur war, über Vieles nicht Bescheid wusste und auch widersprüchliche Aussagen gemacht hat. Und ich glaube, dass aus dem Umstand heraus, dass es für den Staat sehr schwierig geworden war, die RAF zu infiltrieren, man es dann auf dem Umweg über die "Bewegung 2. Juni" gemacht hat. Denn es war klar, dass immer mehr Mitglieder der "Bewegung 2. Juni" zur RAF übergewechselt sind. Das hat sich dann im Laufe des Jahres 1972 insbesondere auf diese Zelle um Ulrich Schmücker, Inge Viett, Harald Sommerfeld, Wolfgang Knupe und Verena Becker konzentriert. Die hat das vor allen Dingen betroffen. Darüber hat zum ersten Mal Inge Viett in ihren Erinnerungen, die in den 90er-Jahren erschienen sind, relativ ausführlich geschrieben. Dabei geht auch die Rolle von Michael Grünhagen ziemlich stark hervor, der bei Viett allerdings Peter Rühl heißt. Sie hatte offenbar nicht die Information, um wen es sich dabei in Wirklichkeit handelte.
Bisher wusste man, dass Verena Becker im Jahr 1981 vor dem Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln umfangreiche Aussagen gemacht hat. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass sie vom Herbst 1981 bis Ende 1983, also über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg, Aussagen gemacht hat. Woher wissen Sie das?
Es gibt einige, wenn auch nur wenige Informationen, die ich ohne Quellenangabe in meinem Buch verwandt habe, und das möchte ich auch in diesem Fall so behandelt wissen.
Aber es ist eine glaubwürdige Quelle für Sie?
Ja.
Das würde aber bedeuten, dass die Diskussion, die wir um dieses Verfassungsschutz-Dossier haben, erweitert werden müsste. Denn bisher wusste die Öffentlichkeit, dass die Aussagen bzw. die Zusammenfassungen der Aussagen von Verena Becker vor dem Verfassungsschutz 1982 an die Bundesanwaltschaft gingen. Dort sind sie verloren gegangen. Sie wurden jetzt zwar nachgeliefert, aber es müsste dann über den Zeitraum von 1982 bis 1983 weitere Protokolle geben. Oder nicht?
Auf jeden Fall ist nicht auszuschließen, dass es weitere Protokolle gibt. Man muss aber ein paar Dinge unterscheiden, und man muss vorsichtig bei der Etikettierung dieser Kooperationen sein: Also, war es eine Vernehmung oder waren es Gespräche? Und sind die dann auch entsprechend aufgezeichnet und transkribiert worden? Das sind ja alles unterschiedliche Vorgänge. Dass sie aufgezeichnet worden sind, davon gehe ich einmal aus. Aber ob sie dann entsprechend auch transkribert worden sind, eins zu eins, das ist eine Frage, bei der man zu einer unterschiedlichen Bewertung kommen kann. Aber insgesamt gibt es begründete Zweifel daran, dass das, was bislang auch dem Nebenkläger Michael Buback vorgelegt worden ist, nämlich diese beiden Verfassungsschutz-Vermerke, von denen ja in der Presse immer mal wieder die Gerede ist, dass die vollständig sind. Herrn Buback ist ja aufgefallen, dass die Behauptung, Verena Becker habe bei diesen Gesprächen gesagt, Stefan Wisniewski sei der Todesschütze beim Buback-Attentat gewesen, dass diese Behauptung gar nicht in dem ursprünglichen Befragungsvermerk drinsteht, sondern nur in dem Auswertungsvermerk zu Rede kommt. Und da fragt man sich natürlich, wo kommt das eigentlich her. Das heißt, es muss eigentlich eine zusätzliche Quelle dafür geben.
Wenn Verena Becker ab 1972 oder zumindest schon vor 1977 für den Verfassungsschutz tätig war, welche Aufgabe hatte sie denn Ihrer Meinung nach?
Ich vermute, dass sie die Aufgabe hatte, Mitglieder der RAF auszuspionieren und Erkenntnisse über Planungen von verschiedenen Aktionen und Anschlägen zu gewinnen. In diesem Zusammenhang ist mir aufgefallen, dass sie zum Beispiel 1974 die Möglichkeit hatte, einen privilegierten Zugang zu Ulrike Meinhof zu finden, der eigentlich allen Sicherheitsregelungen widersprochen hat. Sie bekam durch einen gemeinsamen Umschluss die Möglichkeit, Ulrike Meinhof zu kontaktieren und mit ihr unkontrolliert zu kommunizieren. Dass das nur möglich gewesen wäre, wenn es umgekehrt von Frau Meinhof ausgegangen wäre, ist ganz abwegig. Ich glaube, dass es ein aktives Interesse daran gegeben hat, Verena Becker in diesen Kontakt mit Frau Meinhof zu bringen, um sie abzuschöpfen.
Und welche Rolle spielte der Verfassungsschutz Ihrer Meinung nach beim Buback-Attentat?
Auf dem Trauerstaatsakt für Generalbundesanwalt Siegfried Buback, seinen Fahrer Wolfgang Göbel und den Justizhauptwachtmeister Georg Wuster in Karlsruhe gedenkt Bundeskanzler Helmut Schmidt der Toten. (© Ludwig Wegmann / Bundesregierung, B 145 Bild-00000796)
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Auf dem Trauerstaatsakt für Generalbundesanwalt Siegfried Buback, seinen Fahrer Wolfgang Göbel und den Justizhauptwachtmeister Georg Wuster in Karlsruhe gedenkt Bundeskanzler Helmut Schmidt der Toten. (© Ludwig Wegmann / Bundesregierung, B 145 Bild-00000796)
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Ich glaube nicht, dass der Verfassungsschutz eine direkte Rolle dabei gespielt hat. Ich halte diese Interpretation für überzogen. Man muss da vor allen Dingen zwischen dem Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln und dem Landesamt für Verfassungsschutz in Berlin unterscheiden. Ich gehe davon aus, dass Frau Becker für das Berliner Landesamt tätig gewesen ist. Und dann darf man sich das nicht so vorstellen, wie das einige der Kommentatoren gemeint haben tun zu können, dass sie nun vom Verfassungsschutz oder von irgendeiner anderen staatlichen Quelle aus beauftragt gewesen sein könnte, sich an diesem Attentat zu beteiligen bzw. das Attentat selber durchzuführen. Das halte ich nach all dem, was ich sehen kann, für unsinnig. Ich gehe eher davon aus, dass man mit Erschrecken festgestellt hat, dass Frau Becker in dieses Attentat verwickelt war und dass man deshalb den Versuch unternommen hat, sie aus den Ermittlungen herauszuhalten. Vor allem sollte eines verhindert werden: Dass sie nämlich nach ihrer Festnahme in Singen im Mai 1977 angeklagt und vor Gericht gestellt wird. Denn wenn das geschehen wäre, wäre man Gefahr gelaufen, dass dann vor Gericht diese Dimension hätte sichtbar werden können. Das hätte allen möglichen Spekulationen über eine Beteiligung staatlicher Seite bei dieser Attentatswelle im Jahre 1977 Tür und Tor geöffnet.
Also, dass der Verfassungsschutz verwickelt war, wider Willen sozusagen, eine Art Verhängnis, weil die V-Frau auserkoren war, am Mordkommando mitzumachen und sich nicht verweigern konnte, ohne enttarnt zu werden.
Genau.
Sie sprechen ein Urteil über die Anklagebehörde, die Bundesanwaltschaft. Sie sagen, die Bundesanwaltschaft ist dem Fall Buback-Attentat/Verena Becker nicht gewachsen, hat versagt. Für Sie steht sie sogar "im Zentrum des Verdachtes". Wessen verdächtigen Sie die Bundesanwaltschaft?
Ich verdächtige die Bundesanwaltschaft ja weniger konkreter Vergehen, sondern es ist auffällig, dass diese Behörde, die die Aufgabe hätte, die Anklage im Fall des Buback-Attentates zu erheben, dass die das einfach nicht getan hat. Und das ist verwunderlich. Obwohl sie bei ihrer Festnahme in Singen im Besitz der Mordwaffe waren, sind Verena Becker und Günter Sonnenberg nicht wegen dieses Buback-Attentates angeklagt und vor Gericht gestellt worden. Das ist ein Versäumnis, ein hochrangiges Versäumnis, und es muss dafür eine Erklärung geben, warum das nicht geschehen ist. Derjenige, der dafür verantwortlich war, war [der Buback-Nachfolger im Amt des Generalbundesanwalts] Kurt Rebmann. Kurt Rebmann hat das offenbar nicht getan. Ich weiß nicht, aus welchen Gründen. Mir stehen Informationen zur Verfügung, wonach Herr Rebmann davon überzeugt war, dass der Anfangsverdacht gegen Frau Becker, ebenso wie gegen Herrn Sonnenberg, erheblich war, sie seien die Täter des Buback-Attentates gewesen. Und dass er davon ausgegangen sei, dass sie dafür abgeurteilt werden würden. Das alles ist aber nicht geschehen. Das ist sozusagen mein Hauptvorwurf, den ich erheben muss. Der zweite Vorwurf besteht darin, dass später von einem der Nachfolger Bubacks bzw. Rebmanns, von Kai Nehm, 1994 dann angeordnet wurde, die Spurenakten im Fall Buback zu vernichten. Angeblich, wie dann im Jahre 2010 als Information dazu abgegeben worden ist, aus Platzgründen. Das kann mich aber nicht überzeugen. Wir haben die Möglichkeit einer Mikroverfilmung, wir haben alle Möglichkeiten, das inzwischen digitalisiert zu speichern etc. pp. Also der Verweis auf Platzgründe klingt sehr vorgeschoben.
Ich möchte noch mal kurz auf einen Vorwurf kommen, den Sie am Anfang unseres Interviews schon selber benannt haben: den Vorwurf der Verschwörungstheorien. Sie sind kein Verschwörungstheoretiker?
Also zunächst mal gehe ich davon aus, dass niemand freiwillig ein Verschwörungstheoretiker sein will, insofern können Sie von mir auch nicht erwarten, dass ich behaupten würde, ich würde ein Verschwörungstheoretiker sein wollen. Nein, ich möchte mich insofern auch sehr viel weitgehender abgrenzen. Ich möchte auch gar nicht über diesen Fall spekulieren. Deshalb spreche ich ja von einer "begründeten Vermutung", die ich formuliere. Es geht mir um eine kontrollierte Hypothesenbildung, um nichts anderes. Ich glaube, dass der Fall so wichtig, so zentral ist, dass man diese Ungereimtheiten und Widersprüche, die zutage getreten sind und nun seit Jahren in aller Öffentlichkeit erörtert werden, vorwärts und rückwärts – es hat ja Hunderte von Artikeln darüber gegeben –, dass man das möglichst systematisch und stringent durcharbeiten muss, um sich ein Bild zu machen. Wir haben ja das große Problem, dass wir täglich oder wöchentlich mit neuen Detailinformationen konfrontiert werden, aber in der Gesamtschau das eigentlich nicht mehr richtig bewerten und auswerten. Ich habe den Versuch unternommen, das aus einer historisierenden Perspektive zu tun. Und natürlich ist das auch ein Beitrag zu der gesamten Debatte über die Legitimität des erneuten Prozesses gegen Verena Becker und die Auseinandersetzung, die dort stattfindet.
Dieser Begriff Verschwörungstheoretiker wird ja allen möglichen Leuten um die Ohren gehauen. Man könnte ja sagen: Das Attentat auf Siegfried Buback war auf jeden Fall eine Verschwörung und man braucht eine Theorie, um das zu erklären.
Damit wäre ich vorsichtig. Natürlich kann man auch in einem konstruktiven Sinne den Begriff der Verschwörung verwenden. Aber das klingt ja im Grunde genommen nach einer Art von Putschunternehmen, nach einer Art von quasi Staatsanschlag. In einer solchen Richtung wird ja der Begriff der Verschwörung verwendet. Ich würde im Zusammenhang mit der RAF soweit nicht gehen wollen. Die Zielsetzung, die die RAF bei ihrer sogenannten "Offensive 77" verfolgt hat, bestand ja darin, Gefangene der eigenen Organisation freizupressen. Das ist langwierig im Laufe des Jahres 1976 im Jemen in einem Ausbildungslager des PFLP Special Command unter Wadi Hadad vorbereitet worden. Und dann hat man begonnen, das umzusetzen. Das würde ich nicht mit einer Kategorie der Verschwörung besetzt oder benannt sehen wollen, weil mir das eigentlich zu stark interpretationsbedürftig ist und zu wenig in der Argumentation kontrolliert werden kann.
Streng wissenschaftlich sagen Sie, gegen den Vorwurf der Verschwörungskonstrukte gelte es die Missing Links, die fehlenden Kettenglieder, zu kennzeichnen. Was sind die zum Beispiel?
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Es ist natürlich naheliegend, warum alle möglichen Leute, die zu Verschwörungstheorien neigen, sich durch diesen Fall Buback–Becker angezogen fühlen. Da steht auf einmal der Staat, da stehen auf einmal Geheimdienste im Raum und das ist die Grundlage für alle möglichen Spekulationen in die eine oder andere Richtung. Angesichts dieser Ausgangslage, die für jeden nüchternen Menschen unbefriedigend sein muss, ist es angeraten, die Dinge sehr sorgfältig abzuwägen und gerade Spekulationen nicht ins Kraut schießen zu lassen. Wenn ich von mangelnden Vermittlungsgliedern in den Argumentationen spreche, dann habe ich eine Reihe von Beispielen vor Augen: Es gibt zum Beispiel eine Journalistin, die über den italienischen Terrorismus in der Verbindung mit der CIA gearbeitet hat; es gibt andere Journalisten und zum Teil auch Wissenschaftler, die über die Verbindung zwischen dem Terrorismus und der Staatssicherheit der DDR, der ehemaligen Staatssicherheit, gearbeitet haben. Da wird sehr schnell kurzschlüssig argumentiert, und allein aufgrund des Vorhandenseins von bestimmten Namen und bestimmten Fakten werden verschiedene Vermittlungsglieder übersprungen und Urteile gezogen, die einer genaueren Überprüfung nicht standhalten. Und ein Beispiel dafür ist, dass im Zusammenhang mit dem Fall Buback dann die Überlegung angestellt wurde, ob nicht der Staat selber den Generalbundesanwalt damals gezielt hätte ermordet haben können. Das halte ich für abwegig. Dafür gibt es überhaupt keinen Anlass. Ich könnte kein Motiv erkennen, ich kann auch keine Indizien erkennen, die dafür sprechen. Sondern ich gehe eher von einer Art Gemengelage aus, von bestimmten Dingen, die dann zu dieser misslichen Situation – für die staatliche Seite misslichen Situation – geführt haben, dass möglicherweise eine Informantin darin verwickelt war und dass man dann überlegt hat, wie man den Schaden, der daraus resultieren könnte, begrenzen könne.
Die Geschichte der RAF ist ja schon x-mal beschrieben worden, aber meistens, ohne die Rolle der Geheimdienste zu beleuchten. Ist so gesehen da eine Art Paradigmenwechsel in der Geschichtsschreibung nötig?
Auch mit dem Begriff des Paradigmenwechsels würde ich sehr vorsichtig umgehen wollen. Solche großkalibrige Worte hat man viel zu oft im Munde geführt. Mir ist aber klar, dass im Zusammenhang mit dem RAF-Terrorismus die Rolle von Geheimdiensten nach wie vor die große Unbekannte darstellt. Man kann zunächst einmal ganz allgemein festhalten, dass Geheimdienste und terroristische Organisationen eine große Gemeinsamkeit haben. Sie scheuen das Licht, sie agieren aus dem Verborgenen, und es ist im Nachhinein schwierig, genau zu rekonstruieren, wer da an welcher Schraube wie gedreht hat. Man muss natürlich in Rechnung stellen, dass staatliche Behörden versuchen, Erkenntnisse zu gewinnen, um möglicherweise antizipieren zu können, was als nächster Anschlag vorbereitet, geplant wird. Von der Frage, wie man sich schützen kann, sind wir ja alle abhängig. Erkenntnisse zu gewinnen, ist legitim. Das Problem bei dieser Erkenntnisgewinnung durch den Verfassungsschutz meinetwegen oder den Bundesnachrichtendienst besteht aber darin, dass diese Erkenntnisgewinnung üblicherweise einen Preis hat. Man versucht, in bestimmte Strukturen einzudringen, vorzudringen, und man kann diese Erkenntnisse, wenn man ganz nah an solchen Organisationen dran sein will, nicht gewinnen, wenn man nicht gleichzeitig partizipiert. Und da ist eben die Frage, wie weit Mitarbeiter – seien es Informanten oder V-Leute – beim Versuch, Informationen abzuschöpfen, gehen dürfen, weil sie sich gleichzeitig am Vorgehen terroristischer Organisationen beteiligen müssen. Das ist ein großes Problem. Wir müssen versuchen, dieses Problem besser und klarer einzuschätzen, die Grenzen klarer zu definieren. Für die Vergangenheit heißt das, dass insbesondere die Vorfälle, bei denen es möglicherweise um eine Grenzverletzung gegangen ist, und mir scheint der Fall Ulrich Schmücker ein Paradebeispiel dafür zu sein, dass die entsprechend beleuchtet und korrigiert werden. Das heißt, die staatlichen Behörden dürfen sich da nicht einfach aus ihrer Verantwortung ausklinken, sondern müssen bereit sein, auch Dinge einzuräumen, damit man das durch parlamentarische Kontrollgremien oder auch durch die Öffentlichkeit dann entsprechend kommentieren und korrigieren kann.