Die Externer Link: El Alamein Generation
Sharon Adler: Ihre Eltern flüchteten 1934 aus Deutschland ins Exil nach Palästina, das damalige britische Mandatsgebiet, was ihre neue Heimat wurde. Sie selbst sind eine Sabre (Zabarit), eine 1943 im Land geborene jüdische Israelin und gehören damit der Generation der in Israel Nachgeborenen der Shoah an. In welchem Bewusstsein sind Sie aufgewachsen?
Edna Brocke: Ich würde mich nicht als eine Nachgeborene der Shoah verstehen. Das kann man zwar historisch so sagen, aber ich fühle mich so nicht. Erstens, weil zu meiner Zeit in der Grundschule fast alle Lehrer aus Polen kamen, und sie insofern unter der Shoah sehr gelitten haben, oder flüchten mussten. Zweitens waren in meiner Klasse nur Kinder von Menschen, die im Lager waren, Nachgeborene der Shoah. Wir, die Kinder der Geflüchteten, deren Eltern nicht im Lager waren, zählten nicht zu dieser Gruppe und waren in der Schule in der Minderheit. Als Jecken-Töchter im Besonderen. Es gab zwar damals schon einige, die in diesen Jahren aus Deutschland nach Palästina gegangen sind, aber nicht in meiner Klasse.
Ich war die ersten zwei Schuljahre in Jerusalem und dann zwei Schuljahre in Tel Aviv.
Sharon Adler: In Ihrem Buch „Leben in zwei Welten. Erfahrungen einer Israelin in Israel und Deutschland“ schreiben Sie: „Es ist vielleicht die erste jüdische Generation, die über sehr viele Jahre hinweg einen stetigen und wahrnehmbaren Aufstieg erlebte. Die erste Generation, die in einen eigenen jüdischen und demokratischen Staat hineingeboren wurde.“ Wodurch wurde Ihnen das bewusst?
Edna Brocke: Das habe ich erst angefangen zu begreifen, als ich viele Jahre später in Regensburg die Jüdische Gemeinde, die eigentlich eine polnische Gemeinde war, kennengelernt habe. Und mit den Kindern von Überlebenden gearbeitet habe. Das war für mich ein Riesenschritt vorwärts in meiner persönlichen Entwicklung.
Sharon Adler: Welchen Einfluss hat dieses Bewusstsein oder Wissen Ihrer Meinung nach bezogen auf die nachfolgenden Generationen in Israel?
Edna Brocke: Ich glaube, das hat erst mit den Jahren zugenommen. Man hat auch Leute wie meine Eltern, die nicht im Lager waren, als Überlebende der Shoah erst viel, viel später akzeptiert. Immerhin ist ihr Leben so auf den Kopf gestellt worden, dass alles, was sie geplant haben, nicht zustande kam.
Sharon Adler: Wann wurde Ihren Eltern klar, dass sie Deutschland verlassen müssen?
Edna Brocke: Meine Eltern waren Jahrgang 1910 und 1911. Als sie aus Deutschland weggingen, waren sie junge Studenten. Sie waren politisch sehr wach und haben verstanden, dass sie keine Chancen mehr hatten. Aber den Antisemitismus gab es auch vor Hitler. Anders und nicht so brachial, aber den gab es. Das war ihnen auch sehr bewusst. Aber sie haben sich selbst – so habe ich sie jedenfalls verstanden – nie als Opfer gesehen. Sondern sie haben immer gesagt: „Wenn sich die Lage hier so verschlechtert, dann müssen wir nichts wie raus.“ Deswegen haben sie alles dafür getan, um rauszukommen. Was nicht leicht war. Sie wussten nicht, wohin. Sie waren keine Zionisten und hatten keine Verbindungen, um dort Papiere von anderen Emigranten zu bekommen. Auch in anderen Ländern kannten sie niemanden. Deswegen haben sie sich am Ende um Israel bemüht.
Sharon Adler: Ihre Eltern mussten sich in einem unbekannten Land, in unbekannter Sprache und Kultur zurechtfinden und sich auch beruflich neu orientieren. Wie ist ihnen das gelungen, und wo haben sie Arbeit gefunden? Welche beruflichen Pläne hatten sie vor der Flucht?
Edna Brocke: Mein Vater hat noch in Heidelberg sein Jurastudium absolviert, und meine Mutter hat das Physikum im Medizinstudium mit Bestnoten bestanden. Meine Eltern hatten beide eine klassische deutsche Bildung genossen, sie konnten zwar sehr gut Lateinisch und Altgriechisch, aber weder Englisch Palästina war damals noch britisches Mandatsgebiet noch Hebräisch, was dann für ihre Kinder die „Muttersprache“ wurde.
Sie trafen am 5. Januar 1935 in Jaffa ein. Meine Schwester wurde 1937 in Jerusalem zu Hause geboren, und ich bin 1943 im Hadassa-Krankenhaus auf dem Skopus nahe Jerusalem zur Welt gekommen. Dann stießen auch die Eltern meiner Mutter dazu, die mit dem letzten Schiff aus Triest in Italien weggekommen sind. Die Transportfirma in Hamburg hat die aufgegebenen, bezahlten und versicherten Teile ihres Eigentums nie nach Israel gebracht. Und die Versicherungsfirma hat den Schaden nie beglichen. Mein Vater hat nach 1945 mehrfach, aber über einen nicht sehr langen Zeitraum, versucht, das Eigentum meiner Großeltern zurückzubekommen. Doch man hat mit einer solchen Arroganz auf seine Briefe reagiert, dass er meinte, es „hätte keinen Sinn“, denn „dieser Antisemitismus sitzt so tief, die können uns nicht unser Recht geben.“ Ihm war schnell klar, dass sie weder bezahlen noch suchen würden, wo ihr Besitz ist.
Meine Mutter wollte ursprünglich Ärztin werden, mein Vater Rechtsanwalt. Aus diesen Träumen konnte natürlich nichts werden. Es gab zwar eine Universität in Jerusalem, aber keine klinischen Fächer, und für zwei junge jüdische Einwanderer war es mehr als ein Traum, die Studiengebühren aufzubringen. Beiden standen lange harte Jahre bevor, bis sie jeweils Arbeit fanden. Und wenn man die Sprache des Landes nicht kann, sind die Chancen, irgendwo einen Job zu kriegen, prinzipiell geringer. Ihre finanzielle Situation war schwierig.
Mein Vater hat kurz vor der Auswanderung in der Nähe von Heidelberg einen Glaserkurs gemacht, und damit wurde er in Jerusalem auch als Mitarbeiter angenommen. Meine Mutter ist mit einem kleinen Kit-Töpfchen hinter ihm hergelaufen und hat geholfen, wenn er irgendwo ein Glas repariert oder ausgetauscht hat. Das war für sie sehr anstrengend bei dem Klima und hat sich finanziell auch nicht wirklich gerechnet. Später hat mein Vater bei den British Instituts drei Jahre lang einen Fernkurs als Auditor absolviert, was zwar viel Geld gekostet hat, aber nach dem Abschluss bekam er eine Stelle bei einer britischen Firma, die später eine Bank wurde. Diese Bank wurde größer und ging nach Tel Aviv, wo mein Vater einer von den drei Direktoren wurde. Das blieb er sein Leben lang.
Sharon Adler: Sie sind nach der Schulzeit zur Armee gegangen. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?
Edna Brocke 1961 zu Beginn ihrer Zeit des Militärdiensts in der israelischen Armee und zum Ende ihrer Dienstzeit 1963. Edna Brocke: „Ich wurde am 31. August achtzehn Jahre alt, und am 2. September war ich schon beim Militär. Tagsüber lernten wir schießen, unter Bodenzäunen durchzukriechen und alles Mögliche. Zum Frühstück waren wir schon total erledigt, aber da fing der Tag erst an.“ (© Fotos: Edna Brocke, privat, 1963. Foto: Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Edna Brocke 1961 zu Beginn ihrer Zeit des Militärdiensts in der israelischen Armee und zum Ende ihrer Dienstzeit 1963. Edna Brocke: „Ich wurde am 31. August achtzehn Jahre alt, und am 2. September war ich schon beim Militär. Tagsüber lernten wir schießen, unter Bodenzäunen durchzukriechen und alles Mögliche. Zum Frühstück waren wir schon total erledigt, aber da fing der Tag erst an.“ (© Fotos: Edna Brocke, privat, 1963. Foto: Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Edna Brocke: Ich wurde am 31. August achtzehn Jahre alt, und am 2. September war ich schon beim Militär. Die Eingewöhnung war für alle Mädchen gleich. Wir haben in Zehner-Zimmern übernachtet. Es gab nur eine Dusche. Damit wir es zeitlich schaffen – und weil uns sonst das warme Wasser ausgegangen wäre –, haben wir unter uns eine Reihenfolge ausgemacht, wer darf am Sonntag, wer darf am Montag und so weiter. Ich war die einzige Zabarit in unserem Zimmer. Somit konnten viele der anderen kein Hebräisch. Es war eine besondere Einheit innerhalb der Panzereinheit, die „Intelligence Unit“. Das war sehr interessant, aber ich wollte von da weg. Das gelang nur dadurch, dass ich in den Offizierskurs gegangen bin. Ich strebte keine Militärkarriere an, ich wollte nur den Vorgesetzten loswerden, ein typischer Mann, der Frauen beherrschen wollte. Der Offizierskurs war sehr schön. Ich habe eine Menge gelernt, auch in den juristischen Teilen. Der Unterricht fand meistens abends statt, wo einem schon die Augen zufielen, denn wir wurden jeden Morgen um fünf Uhr geweckt. Tagsüber lernten wir schießen, unter Bodenzäunen durchzukriechen und alles Mögliche. Zum Frühstück waren wir schon total erledigt, aber da fing der Tag erst an.
Enge Vertraute von Hannah Arendt
Sharon Adler: 1955 haben Sie in Israel Ihre Großtante kennengelernt, die politische Philosophin Hannah Arendt,
Edna Brocke: Ich lernte sie kennen, als sie zusammen mit meiner Mutter nach einer gemeinsamen Reise durch Griechenland nach Israel kam. In der Familie hieß Hannah Arendt nur „die große Hannah“, weil sie meine Mutter und meinen Vater miteinander bekannt gemacht hatte, und mit denen sie eine lebenslange Freundschaft verband. So wurde auch meine ältere Schwester Hannah genannt, die dann die „kleine Hannah“ wurde.
Als ich im Alter von zwölf Jahren abends zum Flughafen mitfahren durfte, um meine Mutter und die „große Hannah“ abzuholen, war ich vollkommen überrascht, eine zierliche, gutgekleidete Dame kennenzulernen, und verstand dann auch, wieso sie diesen Beinamen bekommen hatte. Sie hat sich bei ihrem ersten Besuch 1955, als sie mich kennenlernte, in dieses süße Kind verliebt. Das habe ich damals auch gemerkt und kann mich auch in der Rückschau gut daran erinnern. Für mich war das viel schwerer, denn sie war eine berühmte Frau. Es wurde mit so einer Ehrfurcht von ihr gesprochen. Das kann ein zwölfjähriges Kind nicht so schnell replizieren. Ich fand sie auch sehr nett, aber nicht in dieser Emotion, wie sie mich aufgenommen hat.
Sharon Adler: Was machte Ihre Beziehung und Ihren Austausch aus, worüber haben Sie beide sich damals vor allem ausgetauscht?
Edna Brocke: Sie war sehr neugierig, meine Meinung über Israel zu hören. Sie wusste, dass ich eine Zionistin bin, aber sie wollte das authentisch von mir hören. Sie war auch sehr neugierig zu hören, wie die zwei Jahre beim Militär waren. Und sie war sehr interessiert zu erfahren, ob und was wir über Eichmann in der Schule gelernt haben. Das war sehr einfach zu beantworten: Über Eichmann haben wir in der Schule nichts gelernt. Eichmann als Person war nicht die interessante Figur. Für uns stand die Frage der Shoah im Mittelpunkt. Und dann hat Hannah erzählt, von ihren Eindrücken der Prozesse. Sie konnte mich ja ein paar Mal in den Gerichtssaal mitnehmen. Danach war sie immer erstaunt, dass ich so technisch interessiert war.
Die Judaistin und Großnichte der politischen Theoretikerin Hannah Arendt, Edna Brocke, überließ dem Deutschen Historischen Museum anlässlich der Ausstellung „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“ im Jahr 2020 eine Schenkung von Gegenständen aus dem persönlichen Besitz Hannah Arendts, darunter Briefe, Schriften, Urkunden und Auszeichnungen, eine Kamera, Fotografien, Kunstwerke und Schmuck sowie die hier abgebildete Aktentasche. (© Daniel Penschuck/DHM)
Die Judaistin und Großnichte der politischen Theoretikerin Hannah Arendt, Edna Brocke, überließ dem Deutschen Historischen Museum anlässlich der Ausstellung „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“ im Jahr 2020 eine Schenkung von Gegenständen aus dem persönlichen Besitz Hannah Arendts, darunter Briefe, Schriften, Urkunden und Auszeichnungen, eine Kamera, Fotografien, Kunstwerke und Schmuck sowie die hier abgebildete Aktentasche. (© Daniel Penschuck/DHM)
Sharon Adler: Hannah Arendt hat damals für die Zeitschrift The New Yorker
Edna Brocke: Der Prozess selbst war ja DAS Ereignis der Zeit und für mich eine große Ehre, mit ihr in den Saal gehen zu dürfen. Bei den Simultan-Übersetzungen waren – glaube ich – acht kleine Kabinen, wo Frauen und Männer saßen, die in oder aus einer Sprache übersetzt haben. Am Eröffnungstag, jedenfalls nach meiner Erinnerung, hat der Generalstaatsanwalt Gideon Hausner uns darauf vorbereitet, dass einhundert Zeugen da seien. Uns beiden war klar, dass diese Menschen, egal, in welchem Lager sie gewesen waren, zu der Person Eichmann nicht viel sagen konnten. Er konnte juristisch nicht dafür bestraft werden, was ihn persönlich nicht betraf. An der Konstruktion der Prozesse hat sich Hannah – wie ich fand – zu Recht gestoßen. Darüber haben wir im Anschluss ausführlich diskutiert. Vor allem, weil die Zeugen uns wirklich sehr leid getan haben.
Sharon Adler: Sie selbst waren Zionistin, und Hannah Arendt kam aus linksliberalen New Yorker Kreisen und war damals eher antizionistisch eingestellt. Hat sie ihre Sicht später revidiert?
Edna Brocke und ihre Großtante Hannah Arendt 1972 in Tegna in der Schweiz. Edna Brocke traf Hannah Arendt, die sie während des Eichmann-Prozesses 1961 in Jerusalem mehrfach in den Gerichtssaal mitnahm, erstmals 1955 in Israel. (© Fotos: Edna Brocke, privat, 1972. Foto: Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Edna Brocke und ihre Großtante Hannah Arendt 1972 in Tegna in der Schweiz. Edna Brocke traf Hannah Arendt, die sie während des Eichmann-Prozesses 1961 in Jerusalem mehrfach in den Gerichtssaal mitnahm, erstmals 1955 in Israel. (© Fotos: Edna Brocke, privat, 1972. Foto: Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Edna Brocke: Für sie waren viele Themen, die Israel betrafen, fremd oder fern geworden. Sie lebte inzwischen in New York, in linken Intellektuellenkreisen, vorwiegend mit jüdischen Emigranten aus Europa. Ihre zionistische Phase schien bereits der Vergangenheit anzugehören; doch hatte sie viele Freunde und Verwandte in Israel und war daran interessiert, junge Israelis kennenzulernen und deren Verständnis von „Nationalstaat“, den sie aus der europäischen Realität, aufgrund ihrer persönlichen Erfahrung, deutlich ablehnte.
In einem Kibbuz, fünf Autominuten von der Grenze zum Gaza-Streifen, wo die Freundin meiner Schwester heute noch lebt, haben wir unmittelbar nach dem Sechstagekrieg mit Hannah zu Mittag gegessen. Das war normal damals. Ihr war das so unangenehm, dass sie sich politisch dazu nicht geäußert hat. Dort haben wir ihr vorgeschlagen, ihr Gaza-Stadt zu zeigen.
Meine Mutter, Hannah, meine Schwester, mein Schwager und ich passten problemlos in unser großes Auto. Wir haben versucht, Flüchtlingslager zu finden, was aber so einfach nicht war. Das hat sie überrascht festgestellt. Das, was man Flüchtlingslager nennt, sind sechsstöckige Häuser mit vielen Bewohnern, aber keine Zelte. Was daran ist ein Flüchtlingslager? Die Armut war schrecklich, aber als wir dann weiter nach Gaza-Stadt gefahren sind und gesehen haben, wie die Nomenklatur dort in Saus und Braus lebt, da wurde einem auch klar, wie sehr die Fatah ihr eigenes Volk ausbeutet. Das hat Hannah sehr verunsichert. Auf der Rückfahrt, nach den Besuchen in Gaza, Ostjerusalem, Nablus und der West Bank, sagte sie uns nachdenklich: „Ich hatte immer die Hoffnung, dass es Frieden geben könnte. Heute habe ich erstmalig begriffen, dass diese beiden Völker, die Israelis und die Palästinenser, nicht zusammenpassen, wenn man ihren Alltag sieht. Die können nicht zusammenleben.“ Diesen Satz kann ich bis heute nicht vergessen. Wir waren überrascht und erfreut darüber, dass sie das gesagt hat. Hannah war ein bisschen zerknirscht, dass sie etwas gegen ihre Emotionen kapiert hatte.
Die 1970er- und 1980er-Jahre in Österreich und Deutschland aus jüdischer Sicht
Sharon Adler: Sie sind Anfang der 1970er-Jahre erst nach Wien, dann nach Deutschland, nach Regensburg gegangen. In Wien haben Sie zwei Semester Staatswissenschaften studiert und das erste staatsrechtliche Rigorosum abgelegt, danach arbeiteten Sie an der Universität in Regensburg. Wie kam das und welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?
Nach ihrem Militärdienst in der israelischen Armee studierte Edna Brocke Politikwissenschaft, Amerikanistik und Judaistik an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Edna Brocke: „Ich war die Einzige in Jerusalem, die auf der Vespa durch die Stadt fuhr!“ (© Fotos: Edna Brocke, privat, 1963. Foto: Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Nach ihrem Militärdienst in der israelischen Armee studierte Edna Brocke Politikwissenschaft, Amerikanistik und Judaistik an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Edna Brocke: „Ich war die Einzige in Jerusalem, die auf der Vespa durch die Stadt fuhr!“ (© Fotos: Edna Brocke, privat, 1963. Foto: Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Edna Brocke: Ich studierte in Israel damals „Political Sciences“ und mein Exmann arbeitete an seiner Promotion. Er hatte vorgeschlagen, für zwei Semester an das Judaistische Institut in Wien zu gehen. Meine einzige Bedingung war, dass wir danach wieder nach Hause, nach Israel, zurückkehren. In Wien habe ich neben dem Studium der Staatswissenschaften bei dem katholischen Alttestamentler Professor Rudolf Mayer gearbeitet. Er war ein Einzelgänger und uralt. Er beauftragte mich damit, zwei Exemplare eines Tanachs, das „Alte“ Testament in Hebräischer Sprache, Seite für Seite auseinanderzuschneiden und diese jeweils gegenüber in eine Kladde einzukleben. So könne er „den hebräischen Text fortlaufend lesen und hätte keine Rückseiten“. Ich bin zwar keine religiöse Jüdin, aber doch eine sehr bewusste, sodass ich versuchte, ihm zu erklären, weshalb ich eine hebräische Bibel nicht zerschneiden könne, und weigerte mich, das zu tun. Er war zwar sehr nett, aber verstand nicht, warum ich das Zerschneiden nicht ausführen konnte, und gab mir schließlich eine andere Aufgabe.
Sharon Adler: Wie wurden Sie als Israelin, als Jüdin wahrgenommen?
Edna Brocke: Dass ich aus Israel kam, wussten nur wenige Leute an der Fakultät. Die meisten sind mir mit besonderer Vorsicht begegnet. Aber dagegen kannst du dich nicht wehren, denn das ist deren Schutzmechanismus. Vor lauter Bemühen, dass sie in Ordnung sein wollten, lagen sie schon wieder haarscharf daneben. Wien war insofern für mich eine Überraschung, weil die Menschen dort einem so steif begegneten, dass ich verwundert war. Aber dann sind wir nach Regensburg gezogen, und dort war alles etwas anders. Die Uni war ganz neu und die meisten Leute waren Zugereiste, Deutsche, aber aus anderen Städten. Auch mehrere Schweizer waren darunter, auch ein paar Kleriker. Wir waren der Club der Auswärtigen. Es war eine schöne Zeit und eine nette Gruppe, wir haben sehr viel gelacht.
Bayern empfand ich damals, und das möchte ich unterstreichen, als schwer zu ertragen. Es war ein armes Land, das nur davon lebte, was die anderen Bundesländer den Bayern überwiesen haben. Sie hatten keine Industrie und wirklich wenig. Erst später ist Bayern so gewachsen. Das hat Franz Josef Strauß mit Verve aufgebaut. Immer wenn er in den Wahlkämpfen nach Regensburg kam und im Jahn-Stadion gesprochen hat, ging ich hin. Ich wollte ihn nicht nur vom Fernsehen kennen, sondern ihn live hören. Das konnten die anderen dieser Gruppe, zu der ich gehörte, nicht verstehen. Ihnen gegenüber musste ich mich dafür entschuldigen, dass ich Strauß hören wollte. Aber im Nachhinein würde ich heute lieber nach Bayern gegangen sein als nach Nordrhein-Westfalen.
Die Jüdische Nachkriegs-Gemeinde in Deutschland
Sharon Adler: Wie haben Sie das jüdische Leben, die jüdische Gemeinschaft in Deutschland zu der Zeit vorgefunden und empfunden? Waren die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Regensburg mehrheitlich Überlebende aus den Lagern oder Remigrant*innen?
Ende der 1960er-Jahre kam Edna Brocke nach Deutschland: „In Regensburg habe ich erstmalig eine jüdische Diaspora-Gemeinde kennengelernt. Die Mitglieder stammten aus zwei polnischen Orten und kannten sich größtenteils. Die Situation in der Gemeinde war nicht einfach.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Ende der 1960er-Jahre kam Edna Brocke nach Deutschland: „In Regensburg habe ich erstmalig eine jüdische Diaspora-Gemeinde kennengelernt. Die Mitglieder stammten aus zwei polnischen Orten und kannten sich größtenteils. Die Situation in der Gemeinde war nicht einfach.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Edna Brocke: Die Präsenz von Juden in Deutschland habe ich primär über die Gemeinden und über Organisationen und nicht über Themen erlebt. Natürlich habe ich Literatur von in Deutschland lebenden Juden gelesen. Aber ich habe mich mehr um das Erzieherische und Kulturelle gekümmert. In Regensburg lernte ich erstmalig eine jüdische Diaspora-Gemeinde kennen. Die Mitglieder stammten aus zwei polnischen Orten und kannten sich größtenteils. Die Situation in der Gemeinde war nicht einfach. Die Kinder von den polnischen Zuwanderern nach Regensburg, alles Überlebende aus den Lagern, hatten vielfach Kinder aus ersten Ehen gehabt. Die auch ermordet worden waren. Die Überlebenden haben dann in Regensburg in dieser Gemeinschaft neue Partnerinnen oder Partner gefunden und neue Kinder geboren. Das war ein extremes Phänomen. Diese Kinder hatten oftmals Angst, dass die Eltern sie als eine Art Ersatz sehen würden für die Kinder, die sie irgendwo in Polen gelassen haben.
Solche Ängste müssen nicht mit der Realität übereinstimmen, aber es gab sie. Sie befürchteten, die Eltern würden sich auch emotional nicht für sie interessieren. Man kann das nicht im Detail beschreiben, man kann nur sagen, dass das alles nicht spannungsfrei war, auch bei den Eltern untereinander. Ich bin als junge Israelin in eine Situation geraten, die ich überhaupt nicht erahnt habe.
Damals hatte ich eine Schülerin, deren Eltern noch in Polen Schulfreunde waren. Sie hatten früher keine Kinder, sie bekamen in Regensburg einen Sohn und eine Tochter. Über die Mutter wurde in der Gemeinde hinter der Hand geflüstert, dass sie in dem Lager, wo sie war, eine Kapo war. Ich habe nie gewagt, irgendwen danach zu fragen. Aber ich merkte, dass sie ein bisschen außerhalb der Gemeinschaft stand ... Ich wusste nicht, ob die Kinder irgendwas von diesem Gemunkel gehört haben. Ich habe niemals, mit keinem von beiden, darüber gesprochen. Ich weiß nicht, ob das stimmte. Aber ich weiß, dass viele das behauptet haben. Und du verurteilst diesen Menschen, ob du willst, oder nicht. Wenn du ein bisschen mehr über das Leben und Sterben in so einem nationalsozialistischen Lager gelernt hast, dann weißt du, was ein Kapo war.
Das waren damals meine Erlebnisse und neue Sichten auf Jüdische Gemeinden und auf Juden, die in Deutschland leben. So einen Typ Gemeinde kannte ich gar nicht. Einmal, weil ich nicht aus einem frommen Elternhaus komme, und zweitens, weil die Gemeinden in Israel zu einer Synagogengemeinde gehören. Aber damit hatte ich nie etwas zu tun. Insofern kam meine Arbeit mit diesen Kindern wirklich aus der tiefen Tiefe meines Herzens und ich war eng mit ihnen verbunden. So sehr, dass viele bis heute mit mir in Kontakt stehen. Und deren Kinder auch.
Sharon Adler: Zu den Aktionen des von Ihnen gegründeten Jugendclubs in der Jüdischen Gemeinde gehörte eine von Ihnen initiierte öffentliche Demonstration gegen die UNO-Resolution 3379,
Edna Brocke: Als am 10. November 1975 die UNO-Resolution in New York beschlossen wurde, haben wir viele Stunden in unserem selbstangepinselten Clubraum verbracht, im Dachgeschoss im alten Bau von 1912. Das war unser Reich. Dort haben wir über dieses Thema ausführlich gesprochen. Und als ich vorschlug „lasst uns doch eine Demonstration in der Innenstadt machen“, waren alle sofort Feuer und Flamme. Ich bin dann zur Polizei und habe uns angemeldet, worauf wir in der Fußgängerzone in Regensburg einen Tisch mit Infomaterial aufgestellt haben. Wir haben mit vielen Passanten diskutiert, und es war ein Riesenerfolg.
In den Kreisen des christlich-jüdischen Umfelds solidarisierte sich die Mehrheit mit uns und fand das auch schrecklich. Es gab natürlich aber auch eine nicht zu unterschätzende Minderheit, die das nicht so richtig verstanden hat. Die Resolution offen zu unterstützen und hart zu argumentieren, traute sich 1975 aber kaum jemand. 1991 haben fast alle nicht-arabischen Staaten diese verwerfliche Meinung über den Zionismus revidiert und die UNO-Resolution 4686
Sharon Adler: In den 1970er- und 1980er-Jahren erteilten Sie Religionsunterricht in der Jüdischen Gemeinde Regensburg. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?
Edna Brocke: Die Gruppen waren klein, es waren nicht sehr viele Kinder. Die ganze Gemeinde bestand aus 120 Mitgliedern. Mir war wichtig, den Kindern die Geschichte des jüdischen Volkes beizubringen, natürlich anhand der Bibel und anhand der Feiertage, die im jüdischen Kalender das jüdische Jahr prägen, und die Bedeutung von jedem Feiertag im Leben zu verdeutlichen. Das war sehr schön. Ein Vorwissen gab es kaum, aber viel Frömmigkeit. Beten und so etwas. Das, was mir nicht lag und mir nicht wichtig war. Für mich als Israelin war die Hauptsache, dass sie das Leben als Juden in der Diaspora bestehen konnten. Und dazu muss man viele Dinge begreifen und spüren – und dann entsprechend reagieren.
Sharon Adler: Seit mehr als zwei Jahrzehnten erteilen Sie Religionsunterricht in der Jüdischen Gemeinde Krefeld. Auf was sind Sie stolz?
Edna Brocke: Ich habe durchgesetzt, dass auch Mädchen zur Tora gerufen wurden.
Leiterin der Begegnungsstätte Alte Synagoge in Essen: Erinnerungsarbeit und Vermittlung von lebendigem Judentum
Sharon Adler: Von 1988 bis 2011 haben Sie die Begegnungsstätte Alte Synagoge in Essen aufgebaut und geleitet. Wie kam es dazu?
Edna Brocke: Als mich eines Tages der damalige Kulturdezernent der Stadt Essen anrief und fragte, ob ich mir das vorstellen könne, war ich erstmal perplex, weil ich daran überhaupt nie gedacht habe. Ich selbst kannte die Alte Synagoge seit 1986/87, als zwischen der damaligen Leiterin des Hauses, der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und der Jüdischen Kultusgemeinde ein heftiger Streit tobte und ich vergeblich versuchte, zu vermitteln. Ich kannte die Streitigkeiten, die Menschen ... also gut.
Da ich zu diesem Zeitpunkt jedoch in der Jüdischen Gemeinde Krefeld den Religionsunterricht für die Kinder übernommen hatte und an der Universität in Duisburg Hebräisch unterrichtete und zudem an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bochum einen Lehrauftrag für Judentumskunde erhalten hatte, fragte ich ihn, ob eine Zweidrittelstelle möglich wäre.
Nicht nur aus Zeitgründen. Ich sagte ihm: „Ich kann nicht im ehemaligen jüdischen Haus, der Begegnungsstätte Alte Synagoge in Essen, eine Ausstellung und ein Programm aufbauen, ohne Rückbindung an eine lebendige Jüdische Gemeinde.“ Ich erklärte damals auch: „Wenn ich in Essen nur Trauerarbeit machen soll, dann bin ich fehl am Platz.“ Dann hat der Kulturdezernent mit dem Oberstadtdirektor gesprochen. Der war von dem bisschen, was er in Gesprächen von mir so mitbekommen hatte, so angetan, dass er gesagt hat: „Sie kriegt diese volle Stelle und sie muss diese zwei Nachmittage nicht nachholen.“ Kurz: Ich habe im Januar 1988 die Stelle angetreten.
Sharon Adler: In welchem Zustand befand sich bei Ihrem Arbeitsantritt die ehemalige Synagoge?
Edna Brocke: Die Alte Synagoge war zu dieser Zeit eine klassische „Mahn- und Gedenkstätte“. Das, was ich vorgefunden habe, war damals schon nicht mehr das Museum „Haus Industrieform“. Es war eine städtische Einrichtung, die alles, was dort stattfand, vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs einordnete. Darunter die Dauerausstellung über Menschen, die von den Nazis gequält oder ermordet worden sind, „Widerstand und Verfolgung in Essen 1933-1945“. Das war eine ganz und gar unjüdische Ausstellung. Jüdisches kam so gut wie nicht vor. Auch von der ursprünglichen Nutzung als Synagoge war kaum etwas zu erkennen. Vor dem historischen Gebäude wurde der Aufgang durch einen großen Sarkophag, der auf einem massiven Sockel in der Mitte des Aufgangs zum Eingang stand, weithin sichtbar verunstaltet. Die Inschrift auf dem Sarkophag, der von 1960 bis 2008 den Eingangsbereich verschandelte, lautete: „Mehr als 2500 Juden der Stadt Essen mussten in den Jahren 1933–1945 ihr Leben lassen.“
Dass man einen Sarg dort hingebaut hat, kommt aus der christlichen Tradition, wo eine Kirche in einem Friedhof oder ein Friedhof um eine Kirche herum sein kann. Das geht im Judentum schon allein wegen der Reinheitsvorschriften nicht. Ein Jude käme wohl kaum auf die Idee, solch einen Sarkophag als Erinnerung aufzustellen.
Ich habe dann sehr bald meine erste Schrift verfasst, in der ich darlegte, warum die Alte Synagoge zu einem Haus jüdischer Kultur(en) umgewandelt werden müsse. Inhaltlich und physisch. Doch meines Wissens hat sie niemand in dem Kulturdezernat je gelesen. In diese Zeit fiel mein 60. Geburtstag, an dem mir die katholische Akademie in Aachen eine Tagung widmete und lauter Fachleute aus dem christlich-jüdischen Dialog und Professoren Vorträge zu meinen Ehren hielten. Auch eine Festschrift wurde mir überreicht. Sie trug den Titel „Eine Grenze hast Du gesetzt“ und enthielt 29 sehr spannende Beiträge zu theologischen und politischen Fragen des Dialogs zwischen Christen und Juden. Ich hörte zufällig, wie der Kulturdezernent verwundert sagte: „Ich wusste gar nicht, was für eine Mitarbeiterin ich habe.“
Weil die Stadt Essen 2010 Kulturhauptstadt Europas sein würde, konnten wir von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und von unserer neugegründeten Förderstiftung Alte Synagoge Essen Gelder einwerben, auch vom Land haben wir Geld bekommen. Insgesamt haben wir elfeinhalb Millionen eingeworben, um das Haus bautechnisch und ausstellungsmäßig zu verändern. Das war ab 2008 unsere Arbeit. Wir waren zu dritt, Peter Schwiderowski, Martina Strehlen und ich.
Das Haus jüdischer Kultur
Sharon Adler: Was sah Ihr neues Konzept für die Alte Synagoge Essen vor? Wie ist es Ihnen gelungen, das Haus von seinem musealen Mahnmal-Konzept zu befreien?
Edna Brocke leitete von 1988 bis 2011 die Begegnungsstätte Alte Synagoge Essen. Blick in den Hauptraum der Alten Synagoge Essen mit dem Toraschrein nach der Restaurierung und nach dem Umbau als „Haus jüdischer Kultur“ im Jahr 2010. (© Martina Strehlen, Alte Synagoge Essen, 2023)
Edna Brocke leitete von 1988 bis 2011 die Begegnungsstätte Alte Synagoge Essen. Blick in den Hauptraum der Alten Synagoge Essen mit dem Toraschrein nach der Restaurierung und nach dem Umbau als „Haus jüdischer Kultur“ im Jahr 2010. (© Martina Strehlen, Alte Synagoge Essen, 2023)
Edna Brocke: Die Umbaupläne bestanden darin, den Charakter der ehemaligen Synagoge ansatzweise wiederherzustellen. Dafür wurde ein Ausstellungs- und Raumkonzept entwickelt. Es ist ein wunderschöner Ort geworden. Die Farben sind Aprikot, Lila und ein zartes Rosé. Es ist sehr modern. Wir verschweigen nicht, dass es mal eine Synagoge war, aber es muss nicht so etepetete wie eine ehemalige Kirche aussehen. Ich verstehe, warum die Juden damals so eine Kirche gebaut haben. Aber das müssen wir heute nicht machen. Eine Synagoge ist ein Ort, wo man betet und in dem man auch Freudentänze veranstaltet.
Das letzte, was ich dann noch durchsetzen musste, gegen den Willen der Behörde, war, den Sarkophag woanders hinzuschaffen. Er kam in den Garten zwischen dem Rabbiner-Haus und unserem Haus. Dort haben wir ihn in eine Ecke gestellt und davor eine Sitzbank platziert. Vorne am Aufgang zum Eingang gibt es nun Pflanzen und keinen Sarkophag. Alles gut. Am 13. Juli 2010 wurde die Externer Link: Alte Synagoge als das Haus jüdischer Kultur eröffnet.
Sharon Adler: Was haben Sie in der ersten Dauerausstellung gezeigt?
Edna Brocke: Für mich war klar, dass für die ehemalige Synagoge eine völlig neue Dauerausstellung nötig sein würde, eine, die sich mit der jüdischen Geschichte, mit jüdischem Leben beschäftigen sollte. Wir planten eine Ausstellung, die nicht nur „den Opfern“ gewidmet war und nicht nur „tote Juden“ in den Vordergrund stellt, sondern verschiedene jüdische Welten sichtbar und erlebbar machen sollte.
Die Ausstellung zeigte unterschiedliche Themen auf verschiedenste Weise. Dazu gab es fünf Ausstellungsbereiche, verteilt auf das Erdgeschoss, die ehemalige Frauenempore und das darüberliegende Mezzanin, wo über die Schwerpunkte jüdische Traditionen, jüdische Feiertage, die Geschichte des Hauses und die Geschichte der Jüdischen Gemeinde Essen informiert wird. In einem Treppenaufgang werden Bilder jüdischer Prominenter gezeigt. Im Hauptraum wurde in einer der sechs Nischen ein Gedenkbuch eingelassen mit einer Liste der Essener Ermordeten und Briefe, die junge Essener an Überlebende geschrieben haben.
Die neue Ausstellung versucht nicht, DAS Judentum zu präsentieren, sondern einen Teil der vielen „Judentümer“. Wir haben damals auch einige moderne elektronische Mittel eingesetzt, sodass auch jüngere Besucher vieles auf spielerische Weise erfahren und entdecken konnten und auch Erwachsene genau dies für sich als „enthemmend“ erlebten und sich mit Interesse den verschiedenen Angeboten zuwandten. Im Ausstellungsbereich „Jüdischer Way of Life“ hatten wir in der Mitte des Raumes einen „Touch-Tisch“ mit der Möglichkeit, zu jüdischen Orten in der ganzen Welt zu recherchieren: Man konnte erfahren, wo sich eine Synagoge befindet, wo ein koscheres Restaurant ist. Das war damals ganz neu. Hat viel gekostet, aber es war wirklich special.
Christlich-Jüdischer Dialog
Sharon Adler: 1971 nahmen Sie eine Einladung der Arbeitsgemeinschaft „Christen und Juden beim Deutschen Evangelischen Kirchentag“
Edna Brocke: Ich wollte zum einen der Gruppe selbst und zum anderen auf den Kirchentagen zeigen, dass dieses Missverhältnis von Christen zu Juden nicht auf der Grundlage von bösem Willen besteht, sondern dass ihre Theologie eine geklaute ist, die sie insofern verändert haben, dass sie Jesus zu einem Germanen gemacht haben. Alles, was die christliche Botschaft ist, ist auf jüdischer Grundlage zu verstehen und nur mit dieser Mystik verbrämt. Ich wollte, dass sie das Alte Testament mit anderen Augen lesen. Deswegen habe ich mich angeboten, jeden Morgen in einer Gruppe eine Andacht zu einem Text des in diesem Jahr stattfindenden Kirchentages zu halten. Damals habe ich auch vorgeschlagen, dass wir von der Arbeitsgemeinschaft Christen und Juden eine Dialogbibelarbeit anbieten sollten, von einem Christen und einem Juden. Das hat ein sehr tolles Echo gefunden. Alle waren überrascht von dem, was dabei rauskam. Leider hat sich das totgelaufen, weil die Christen das eigentlich nicht wirklich wissen wollten.
Sharon Adler: Ist es Ihnen gelungen, die Denkprozesse in Bezug auf theologische Fragen und Aspekte in Gang zu setzen, die Ihnen wichtig waren?
Die Judaistin Edna Brocke engagierte sich in verschiedenen Gremien im Bereich des jüdisch-christlichen Dialogs: von 1971 bis 1991 war sie Mitglied der „Arbeitsgemeinschaft Christen und Juden beim Deutschen Evangelischen Kirchentag“ und von 1971 bis 2018 im Gesprächskreis „Christen und Juden“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken. 1986 war sie Mitbegründerin der theologischen Dialogzeitschrift „Kirche und Israel“, deren Mitherausgeberin sie bis heute ist. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Die Judaistin Edna Brocke engagierte sich in verschiedenen Gremien im Bereich des jüdisch-christlichen Dialogs: von 1971 bis 1991 war sie Mitglied der „Arbeitsgemeinschaft Christen und Juden beim Deutschen Evangelischen Kirchentag“ und von 1971 bis 2018 im Gesprächskreis „Christen und Juden“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken. 1986 war sie Mitbegründerin der theologischen Dialogzeitschrift „Kirche und Israel“, deren Mitherausgeberin sie bis heute ist. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Edna Brocke: Zum Teil ja, in der damaligen Zeit. Aber nicht auf Dauer. In den beiden Kirchen, der katholischen und der evangelischen, waren die Reaktionen sehr unterschiedlich. Die Evangelischen kennen das Alte Testament viel besser als die Katholiken. Da wurden inhaltlich ganz andere Dialoge zur Bibel als mit den katholischen Partnern geführt. Es war gelungen, aber das Ende des Kalten Krieges hat alles, was wir in punkto Verständigung zwischen Christen und Juden geschafft haben, ausgelöscht. Weil plötzlich andere Emotionen im Vordergrund standen, wie der Anti-Israelismus.
Sharon Adler: Wie haben Sie die Auseinandersetzung von Christen/Christinnen mit der Rolle der Kirchen in der NS-Zeit und mit jüdischen Themen in der Post-Shoah-Zeit wahrgenommen?
Edna Brocke: Das, was zum Beispiel Joschka Fischer im Außenministerium
Das jüdische Leben in der DDR
Sharon Adler: Sie sind zu DDR-Zeiten dreizehn Jahre in Folge nach Chemnitz und Ostberlin gereist. Wie kam es dazu? Wie haben Sie die Stimmung in der Jüdischen Gemeinde in Ostberlin wahrgenommen?
Edna Brocke: Im September 1979 wurden wir vom Verbund der „Evangelischen und katholischen Buchhändler aus Ost und West“ zu einer Tagung in das Stephanus-Stift nach Ostberlin eingeladen. Wir sollten über unsere Erfahrungen des „christlich-jüdischen Dialogs“ berichten. Ich freute mich über die Einladung, weil mich die Situation von zwei Staaten interessierte, die einst ein Staat gewesen waren und sich nun durch grundlegend unterschiedliche Ideologien deutlich unterschiedlich entwickelten. Auch im darauffolgenden Jahr kam eine Anfrage und ich war dann jedes Jahr auf eigene Kosten in Ostberlin.
Da die Buchhändler jährlich am dritten Wochenende im September tagten, fiel das immer entweder auf Jom Kippur
Sharon Adler: Wie haben Sie die Öffnung der innerdeutschen Grenzen und das Ende der DDR erlebt?
Edna Brocke: Ich war sehr traurig. Ich konnte Berlin auf beiden Seiten besser als geteilte Stadt besuchen. Ich hatte unterschiedliche Freunde auf der einen Seite und auf der anderen Seite. Darunter echte Freunde, bis heute. Die haben meine Besuche schon sehr ernst genommen. Die vierzig Jahre, die diese DDR existiert hat, kann man nicht wegwischen. Für mich war es auch ein lehrreicher Kurs in Politik.
Zuhause und Heimat in zwei Welten
Sharon Adler: Am 31. August feiern Sie Ihren 80. Geburtstag. Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, den Sie sich solidarisch mit der aktuellen Demokratiebewegung in Israel teilen dürften: welcher wäre das?
Edna Brocke: Die aktuelle Regierung in Israel scheint den Weg der liberalen Demokratie verlassen zu haben. Was ich mir wünschen würde, ist, dass Benjamin Netanjahu seinen Egoismus lassen könnte. Er hat drei anhängige Prozesse. Die Angst vor dem Gefängnis lässt ihn eine Koalition mit den Ultra-Orthodoxen und mit den Ultra-Rechten gründen. Man kann nur hoffen, dass er zur Vernunft kommt und diese Extremisten aus der Regierung entfernt. Aber das wird er nicht machen. Es könnte vielleicht das Ende unseres Staates sein. Besonders traurig ist, dass er vor unseren Augen von innen so kaputt geht. Eine große Zahl von Israelis ist sehr besorgt und geht seit vielen Wochen an jedem Ausgang des Schabbat auf die Straßen, in der Hoffnung, das Schlimmste zu verhindern. Solange diese Demonstrationen ruhig bleiben gehöre ich dorthin.
Sharon Adler: Ihr aktuelles Buch, gewidmet Ihrer in Israel lebenden Schwester Hannah Pinto, trägt den Titel „Leben in zwei Welten. Erfahrungen einer Israelin in Israel und Deutschland“ und nicht, wie viele vielleicht vermuten würden, „Leben zwischen zwei Welten“. Warum?
Edna Brockes Buch „Leben in zwei Welten. Erfahrungen einer Israelin in Israel und Deutschland“ hat sie ihrer in Israel lebenden Schwester Hannah Pinto gewidmet. (© Edna Brocke, privat, 1.6.1997. Foto: Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Edna Brockes Buch „Leben in zwei Welten. Erfahrungen einer Israelin in Israel und Deutschland“ hat sie ihrer in Israel lebenden Schwester Hannah Pinto gewidmet. (© Edna Brocke, privat, 1.6.1997. Foto: Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Edna Brocke: Weil ich mich sprachlich und mental in die deutsche Sprache einlesen und einhören und sie relativ schnell als Handwerk nutzen konnte. Auch die Gedanken konnte ich schnell verstehen. Aber Deutschland ist für mich nicht zu einer Heimat geworden. Es ist zu einem Ort geworden, an dem ich fast fünfzig Jahre gelebt habe, wo ich viele Menschen kenne und viele Freunde habe. Ich bin in den vergangenen dreißig Jahren mindestens dreimal im Jahr nach Hause geflogen. Um meine Eltern zu sehen, den Rest meiner Familie und die Freunde. Und überhaupt, um die Atmosphäre des Landes in mir aufzusaugen. Ich will noch in diesem Jahr zurück nach Israel ziehen.
Zur Vita von Edna Brocke >>
Zitierweise: Interview mit Edna Brocke, „Deutschland ist nicht zu einer Heimat geworden“, in: Deutschland Archiv, 23.8.2023, Link: www.bpb.de/539538