I.
Eine Autobiographie
Dass Joachim Gauck nur ein gutes Jahr später von einer heftigen Woge bürgerschaftlicher Begeisterung vor die Tore des Berliner Schlosses Bellevue getragen wurde, markiert den Verdruss an einer politischen Klasse, die nicht einmal der Rücktritt des Bundespräsidenten zu erschüttern vermochte. Aber der Rostocker Pfarrer, Bürgerrechtler und erste Namensgeber einer sonst unaussprechlichen nationalen Geschichtsinstitution (Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik) wurde nicht zufällig zur Projektionsfläche der Hoffnungen auf politisch-rhetorische Ursprünglichkeit und freiheitlichen Bürgersinn. Vorausgegangen war Gaucks Nominierung als Präsidentschaftskandidat der rot-grünen Opposition eine Bewerbungstour ganz besonderer Art. Sie hatte den späteren Kandidaten fast durch die ganze Republik geführt, freilich mit einer nur hintergründig politischen Wirkungsabsicht. Vordergründig ging es um die Vorstellung eben dieses zu den Jubiläen von 2009 auf den Markt gekommenen Erinnerungsbuchs mit dem schönen, aber nicht auf den kommenden Bestseller hindeutenden, weil komplizierten Titel: "Winter im Sommer – Frühling im Herbst".
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Die Lesereise wurde zu einem weit über das Buch hinaus weisenden geschichtspolitischen Ereignis der Nation, waren doch Gaucks Lesungen, die kurzfristig zu einer Art Präsidentschaftswahlkampf mutierten, Impulse für die innere Einheit. Ebenso wenig wie er sich als "linker, liberaler Konservativer" (S. 326) politisch festlegen mochte und so eine parteipolitische Karriere ausschloss, ist Gauck nämlich auf der Ost-West-Linie festzumachen. Jeglicher Ostalgie abhold, mit ostdeutschen Wunschträumen und westdeutscher Verdrossenheit gleichermaßen ins Gericht gehend, akzentuiert er markant die West-Optionen seiner ostdeutschen Biographie, etwa in den Passagen über seine Erfahrungen vor dem Mauerbau mit einer jugendlichen Stippvisite in Paris. Vor allem aber zeigt dies das emotionale Kernstück des Buchs: die familiäre Verlustgeschichte, in der drei von vier Kindern des Ehepaars Gauck vor 1989 in die Bundesrepublik gingen. Die Frage von "Gehen oder Bleiben" ist schon zuvor, seit der Verschleppung von Gaucks Vater durch sowjetische Dienststellen und seiner Rückkehr aus dem Gulag 1955, virulent. Aber der Vater fühlt sich "innerlich frei", sodass ihm die "politische Unfreiheit in der DDR nicht das Wichtigste war" (56). Gauck übernimmt diese Dialektik von Freiheit in der Unfreiheit, wenn auch nicht explizit. Er relativiert sie sogar, wenn er sich selbstkritisch fragt, ob er bei allem Stolz, vom System nicht mehr "zu kränken oder zu demütigen" zu sein, sich vielleicht doch nur "längst mit dem kleinen Glück" in der Nische abgefunden habe (76). Die Spannung wächst mit dem sukzessiven Exodus der beiden Söhne und einer Tochter. Neuerlich verharrt er in der Verweigerung von Trauer um die weggehenden Kinder: "Ich [...] wollte die Trauer der Bleibenden nicht teilen [...], weltschlau und gefühlsgelähmt" (95). Gauck hat in den Lesungen wiederholt berichtet, wie traumatisch gerade diese Erinnerung an seine Verhärtung war; das Buch sei an diesem Trauma fast gescheitert, wenn die Zusammenarbeit mit Helga Hirsch nicht darüber hinweg geholfen hätte. Das gelungene Buch ist auch ein Beleg, dass man im Gespräch über die eigene Vergangenheit die sich sträubende Erinnerung bewältigen kann.
Damit ist der Nexus dieser Lebensgeschichte entfaltet: Der Preis der inneren Freiheit in der äußeren Unfreiheit ist hoch, aber er zahlt sich aus. Dass die mehrfach ausgeschlagene West-Option überdies dem altwestdeutschen Leser jede Illusion nimmt, dem Ostdeutschen irgendetwas voraus zu haben, bestätigt nur Gaucks bekanntes Aperçu, man habe im Osten vom Paradies geträumt und sei in Nordrhein-Westfalen aufgewacht. Endlich einmal eine ostdeutsche Autobiographie, in der die Gleichwertigkeit der Lebenswelten von Ost und West jenseits der politischen Systeme nicht verkrampft postuliert, sondern mit der gebotenen Selbstverständlichkeit gelebt wird.
Diese Anstrengung der historischen Selbst-Besinnung begründet und beglaubigt die das Werk durchziehende Linie von den Erfahrungen der Freiheit und Freiheitssehnsucht in der winterkalten Diktatur der Fünfzigerjahre, im nonchalant erinnerten Alltag der DDR, im frühlingshaften Aufbruch von 1989/90 und im vereinten Deutschland, mit der sich Gauck in diesem Buch als "reisender Demokratielehrer" (327) exponiert. Die programmatische Explikation des autobiographischen Projekts bietet das vorletzte Kapitel "Freiheit, die ich meine". Hier wird das eigene Er-Leben mit den Erfahrungen der Epoche so integriert, dass die mannigfachen Unzulänglichkeiten der Demokratie und ihrer so wenig glanzvollen Werktagsfreiheit hell erstrahlen im Licht einer heilen, unabweisbar schönen, glänzenden Freiheit, wie die Freiheit nur ihm und Seinesgleichen mit einer "osteuropäischen Verlustgeschichte" eben leuchten kann (341). Wieder stehen sich die Menschen in Ost und West mit der sie quälenden anthropologischen Urangst vor der Freiheit, die Gauck mit Erich Fromm diagnostiziert, viel näher als sie denken. Mit einem idyllischen Schlussbild transformiert Gauck diese Botschaft von der Theorie zurück in die beglaubigende Erinnerung: Ein Knabe, man mag an den zehnjährigen Joachim denken, skandiert auf dem Heimweg die neueste Schandbotschaft, die ihm in der Schule der ganz jungen DDR eingetrichtert worden war, in jenen Jahren des Kalten Kriegs, und er drischt mit den verächtlichen Worten "Das Bon-ner Grund-ge-setz. Das Bon-ner Grund-ge-setz" sowie einem kräftigen Holzknüppel auf das Maigras ein, um alle Bonner Kapitalisten mächtig einzuschüchtern. Und ist es nicht wahr, so ist es schön erfunden. Der Demokratielehrer bleibt natürlich die erinnernde Nutzanwendung nicht schuldig: "Schneller als erwartet" würde der Knabe, der weder das Grundgesetz kannte noch wusste, dass er es 50 Jahre später als Urkunde der Freiheit erkennt, "auf Abstand gebracht worden" sein, noch "ehe er den Abstand gesucht hatte" (344).
Der Literaturwissenschaftler Dennis Tate hat angesichts des nationalen Respekts vor seiner großen Autobiographie dem Romancier Günter de Bruyn
Der "Fall Gauck" markiert also die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Das gilt vice versa auch für den öffentlichen Umgang mit der gewaltigen Zahl von "Erinnerungen an die DDR", die seit 1990 die Buchhandlungen und Bibliotheken, oft auch nur Verlagslisten und Bibliotheksverzeichnisse füllen. Denn bei aller Hingabe des geisteswissenschaftlichen Mainstreams der letzten 20 Jahre an den Topos des Erinnerns, gespeist durch empirische Befunde der Hirnforschung und beflügelt durch kulturwissenschaftliche Theorien des kollektiven, kulturellen oder kommunikativen Erinnerns von Assmann bis Welzer: Die wissenschaftliche Wahrnehmung der tatsächlich zu Hunderten vorliegenden Erinnerungstexte zu dem verloren gegangenen Objekt DDR bleibt in den meisten Fällen in einer merkwürdigen Schwebe zwischen Interesselosigkeit und Kopfschütteln ob so viel Rechthaberei und mangelnder Reflexionsfähigkeit.
II.
Christian Führer (© Ullstein Buchverlag)
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Wenige Monate vor Joachim Gauck hatte Christian Führer, ebenfalls passend zum 20. Jubiläum der Friedlichen Revolution, seine Erinnerungen vorgelegt, und auch er variiert Goethe, allerdings mit einem geflügelten Wort aus der "Campagne in Frankreich". Der Titel "Und wir sind dabei gewesen" verkündet stolz die Teilhabe an einem welthistorischen Ereignis; sie wird im Untertitel zum Besitzanspruch an den Ereignissen vom Herbst 1989. Es geht um die "Revolution, die aus der Kirche kam."
Während Gaucks Buch erst im Oktober 2009 auf den Markt drängt, als etliche Erinnerungstage schon absolviert sind, trägt Führers Buch im Impressum noch das Jahr 2008, aber das Vorwort ist auf Epiphanias 2009 datiert (S. 10), die üblichen Vorab-Rezensionen finden sich entsprechend ab März 2009. Sein Buch begleitet das Erinnerungsjahr 2009 von Anfang an, das spätestens mit der Gedenk-Markierung der Kommunalwahl-Fälschungen vom Mai 1989 als Initialbeschleuniger des demokratischen Aufbruchs in der DDR einsetzt. Anders als Joachim Gauck ist Christian Führer ab September 1989 ein international wahrgenommener Protagonist der Friedlichen Revolution. Und eigentlich hat er die spannendere Geschichte zu erzählen, denn schließlich entschied sich in Leipzig und nicht in Rostock Welthistorisches. Es war Pfarrer Führer, der wenigstens für einige Monate so berühmt war, dass sich Günter Grass bei niemand anderem als bei ihm einquartierte, als er 1990 einige Tage in Leipzig wohnte.
Bei aller Erinnerungsfreude fehlt dem Buch aber der existentielle Bruch einer Ich-Entfaltung ebenso wie eine kritische Spannungslinie. Nicht das Heraustreten aus der Kirche, hinein in die sich ermächtigende Bürgerbewegung und den Prozess von der Revolution zur Vereinigung trägt Führers Erinnerung, sondern die sichere Grundierung einer fröhlichen Gottesnähe. Insofern ist vieles, was bei Gauck zweifelhaft und fragwürdig ist, bei dem Leipziger selbstverständlich und beinahe mit Leichtigkeit klar und entschieden. Wo Gauck sich selbst im Prozess der Revolution fortlaufend transformiert und den Wandel in sich selbst – bis hin zur Trennung von seiner Frau, die bemerkenswert karg erinnert wird – aushandelt, lebt Führer in den Prinzipien, die ihn 1989 getragen haben, ruhig weiter. Dazu gehört auch eine sympathische Portion Sturheit, etwa wenn der britischen Königin, die 1992 die Stätten der Friedlichen Revolution mit ihrem Besuch ehrt, ein Extraplatz verwehrt wird: "An Sitzplätzen fehlt es uns in der Nikolaikirche nun wirklich nicht [...] In der Kirche Jesu Christi gibt es keine Menschen erster oder zweiter Klasse" (129).
Führers Geschichte nach 1989 füllt viele Seiten des Buchs, sein Engagement für die im Irak entführten Leipziger Ingenieure, sein Einsatz für soziale Gerechtigkeit, gegen Neonazis und für Arbeitslose. Aber immer ist die historische Instanz von 1989 die Richtschnur, genauer: wird das eigene ethische Handeln aus denselben theologischen Gründen hergeleitet wie das Handeln von 1989. Mit den Friedensgebeten, die er bis zu seiner Emeritierung 2008 weiterführt, findet sich auch eine Kontinuität in der Form. Gewiss, nur 1989 hebt Führer heraus, gibt seinem Buch die Verve, die es sogar in die Bestsellerlisten führt. Aber nie wird dieses Insistieren peinlich. Sogar die heikle Passage, in der sich Führer intensiv und stolz mit Frank Beyers Verfilmung von Erich Loests Roman "Nikolaikirche" beschäftigt – also die Reprise der eigenen Person – verliert sofort alles Schamhafte, weil Führer sich nie als Akteur, sondern stets als Werkzeug Gottes sah. Insofern ist für ihn 1989/90 viel weniger Zäsur als Bestätigung und gelungener Ausdruck eines theologischen Prinzips: der offenen Gottesnähe, in der alle gleich sind.
III.
Mit sechs Wochenplatzierungen, darunter einem Rang 16 (20. Juli 2009), in der Sachbuch-Bestsellerliste
Lothar de Maizière (© Herder Verlag)
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Ganz anders jedoch, um einen dritte wichtige Akteurserinnerung von 1989/90 wenigstens zu nennen, ist die klassische Variante der – auf die zweijährige politische Aktivität beschränkten – Memoiren, die Lothar de Maizière erst zum 20. Jubiläum der Vereinigung im Herbst 2010 vorlegte. Versprach der extrovertierte Titel – "Ich will, dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen" – eine Abrechnung mit der SED-Diktatur, so zeigt der Untertitel – "Meine Geschichte der deutschen Einheit" – die tatsächliche Richtung an: Es geht darum, in der Konkurrenz der Erinnerungen die eigene Position zu markieren, nicht zuletzt, wie im Detail gezeigt werden könnte, gegen Helmut Kohls Erinnerungsduktus an das Jahr 1990.
Nur ein einziger Text ostdeutscher autobiographischer Provenienz hat in der seit 2001/02 zählenden Statistik ("Buchreport") einen noch markanteren Erfolg gehabt: Jana Hensels Ostalgiebuch einer geraubten Kindheitsidylle.
Doch vor der erinnerungskulturellen Signifikanz der Autobiographik bleibe der Fokus noch für einen Moment bei der Perspektive des Erfolgs beim Publikum. Wenn seit langem ein internationaler "Autobiographie-Boom" und eine ausgesprochene "Erinnerungskonjunktur" konstatiert werden,
Dass Jana Hensel und Joachim Gauck in diese Dimensionen hineinragen, ist für die ostdeutsche Autobiographik exzeptionell. Gewiss, Verkaufserfolge gab es auch zuvor – und zwar in einer beachtlichen Breite, aber ohne Jahresbestseller zu generieren. Immerhin kletterte Claudia Ruschs "Anti-Zonenkinder" "Meine freie deutsche Jugend" (2003) auf einen Wochenplatz 11 (25.8.2003) und hielt sich danach noch 30 Wochen in der Spitzengruppe der besten 50. Die erfolgreichen Bücher von aus Ostdeutschland stammenden Schauspielern wie beispielsweise Angelica Domröse ("Ich fang mich selber ein", 2003, ca. 20 Platzierungen, Spitze: Platz 8 am 19.5.2003), Manfred Krug ("Mein schönes Leben", 2003; am 22.9.2003 auf Platz 13, ca. 20 Platzierungen bis März 2004), Winfried Glatzeder ("Paul und ich", 2008, Platz 15 am 17.3.2008, 11 Platzierungen) oder Jan Josef Liefers ("Soundtrack meiner Kindheit", 2009, Platz 12 am 21.12.2009, 21 Platzierungen) markieren erneut das Genre der populären Künstlermemoiren. Allerdings ziehen sie doch immer auch die politische Positionierung als darstellende Kulturschaffende in der DDR mit in Betracht; und wenn ein Ost-Superstar wie Frank Schöbel ein 700-seitiges Erinnerungsbuch mit ausführlichem Rekurs auf seine Stasi-Akte vorlegt, so markiert schon der Umfang, dass nicht notwendig leichte Kost geboten wird.
Blickt man auf die Ebene der politischen Akteure wie der Opfer politischer Aktivitäten in der DDR, so verwundert es vielleicht weniger, dass die aus einem Konvolut von Selbstzeugnissen und Dokumenten 'zusammen gezimmerten' Memoiren der Lotte Ulbricht mit dem irreführenden Titel "Mein Leben" (2003) auf Platz 7 der Bestsellerliste (7.4.2003, weitere 10 Platzierungen) vorstoßen konnte oder Markus Wolf geschickt einen Titel an den anderen reihte, als dass auch Texte, die Widerstand und Resistenz bezeugen, in diese Kategorien reichen. Neben Eva-Maria Neumanns Buch über ihre Erfahrungen im Frauenzuchthaus Hoheneck ("Sie nahmen mir nicht nur die Freiheit", 2007, Rang 26 am 28.5.2007), ist der ausgesprochene Longseller von Erika Riemann gemeint ("Die Schleife an Stalins Bart. Ein Mädchenstreich, acht Jahre Haft und die Zeit danach", 2002, im November 2003 auf den Wochenplätzen 4 und 5, bis 2004 in der 50er-Liste, auch als Taschenbuch erfolgreich).
Mit diesen Autorinnen ist endlich die Ebene der "ganz normalen Menschen" erreicht; doch tritt in diesen Büchern der "Alltag" der Diktatur dem Leser in spannungsgeladener Drastik und ganz und gar nicht "normal" entgegen. Die Literaturgeschichte der DDR-Zuchthäuser, der Erlebnisberichte über Fluchtversuche, Haft, Stasi-Verhör, Willkür und Gewalt, die kleine Opposition und den alltäglichen Widerstand ist noch nicht geschrieben. Einige Klassiker der Zeit bis 1990.
Und auch für die Höhenkammlinie trifft diese Spannung zu: Sei es die literarische Autobiographie, die am ehesten noch die Aufmerksamkeit der Forschung findet und ab 1991 mit den Titeln von Günter de Bruyn, Heiner Müller, Hermann Kant, Günter Kunert und einem knappen Dutzend weiterer Spitzenautor(inn)en die Gattung der DDR-Erinnerung prägten. Wer wollte es Schriftstellern verargen, dass sie ihre Identitätsmühen zu Markte tragen? Sei es der andere Pol der ostdeutschen Autobiographie-Szene, also die Memoirenwerke (und Interviewbücher) der früheren SED-Größen, zuvörderst fast das halbe Politbüro von 1989 mit Hermann Axen, Werner Eberlein, Kurt Hager, Heinz Kessler, Egon Krenz, Günter Mittag, Hans Modrow, Alfred Neumann, Günther Schabowski, Gerhard Schürer.
IV.
Es liegt nahe zu überlegen, ob die Erinnerungsflut nach 1990 eine Antwort auf das Erinnerungstabu nach 1945 ist. Tritt an die Stelle des kommunikativen Beschweigens einer ungeheuerlichen Vergangenheit das rauschhafte Zerreden einer tragikomischen Erfahrung? Oder darf man der Friedlichen Revolution gar so viel Kraft zutrauen, dass sie Deutsche in Ost und West wirklich ermächtigt hätte, sich ihre Geschichten zu erzählen, um sich besser zu verstehen, wie es Richard von Weizsäcker und Christa Wolf hofften? Bei Joachim Gauck mag dies Modell vielleicht aufgehen. Aber trifft es die Masse der Erinnerungstexte?
Christiane Lahusen hat jüngst zur Strukturierung dieses Erinnerungsbergs ein dreigestuftes Modell vorgeschlagen, wonach sich zu Anfang der 1990er-Jahre mit "Erinnerungstexten vor allem die Opfer aus der Zeit der SED-Herrschaft zu Wort" gemeldet hätten, die bei einer informationsbegierigen, um Rehabilitierung und Entschädigung bemühten, zumal westdeutschen Öffentlichkeit "wahrgenommen" worden seien. Dieses Interesse sei "bereits nach wenigen Jahren deutlich" zurückgegangen, sodass "die ab Mitte der 90er Jahre en masse erschienenen" Lebenserinnerungen ehemaliger DDR-Funktionäre "im Westen kaum noch wahrgenommen" worden seien, zumal sie in einem ostdeutschen Verlagssegment erschienen und vor allem auf "interne Kommunikation" zielten. Dagegen erschienen die "Erinnerungstexte vieler Künstler, Dichter und Schauspieler [...] zumindest anfangs und teilweise auch heute noch in großen Publikumsverlagen des Westens".
Diese Typologie zielt darauf, drei Kategorien – Chronologie, Verlagsstruktur und Autoren- und Texttypus – miteinander zu verflechten, was notwendig zu Komplexitätsreduktionen, auch zu Verzeichnungen führen muss. Der fast synchrone Auftakt mit so unterschiedlichen Texten wie denen von Günther de Bruyn, Manfred Gerlach, Walter Janka, Gustav Just, Hermann Kant, Krenz, Mittag, Vera Oelschlegel oder Schabowski, aber auch "Unbekannten" wie Helmut Eschwege, Jürgen Haase, Reinhardt Hahn oder Horst Wiener erschwert jedes chronologische Argument. Schwieriger beinahe noch zu bewerten ist die These der Rezeptionskurve von Opfern und Tätern: also ob ein sinkendes Interesse an Opfer-Texten das angeblich fehlende für die Funktionärsmemoiren bedingt? Wäre nicht eher die Prämisse des dominanten Interesses an den "Tätern" zu diskutieren, wenn man an die Etappen des deutsch-deutschen Literaturstreits denkt? Andererseits sind ab Mitte der 1990er-Jahre wertvolle autobiographische Dokumente in den verdienstvollen, in ihrer öffentlichen Wahrnehmung aber leider eher begrenzten Schriftenreihen der verschiedenen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen eher für die Forschung "aufbewahrt" als in die lebendige Erinnerungskultur integriert worden. Was nun die Entwicklung eines ostdeutschen Verlagssegments betrifft, so zielt Christiane Lahusen namentlich für die Funktionäre der mittleren Schiene auf die "Rote Reihe" der "edition ost", die mit Erich Honeckers "Moabiter Notizen" ihren ersten großen Buchmarkt-Erfolg hatte, durchaus auch im Westen. Seit 2001 arbeitet die Edition unter dem Dach der Eulenspiegel Verlagsgruppe, die für die medienbekannten Persönlichkeiten die Formate "Das Neue Berlin" oder "Neues Leben" bereithält sowie – eine Etage darunter – das Label "Verlag am Park". Während die Eulenspiegel-Autoren inzwischen keineswegs ihre Erfolge im Verborgenen feiern, geht es im Schkeuditzer GNN-Verlag etliche Stufen unerbittlicher und DDR-affirmativer zu. Hier muss man am Leipziger Messestand gewärtig sein, einfach weggeschickt zu werden, wenn man nach einem Verlagsprogramm zu fragen wagt. Das Spektrum ist also breiter geworden. Neben verinselten Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaften, die nach außen abgeschottet sind und sich nach innen bestärken, neben den offiziell geförderten LStU-Dokumentenreihen und den roten Paperbacks der ehemaligen Vizeminister und Hauptabteilungsleiter, die sich gegenseitig nicht wahrnehmen, steht der namenlose Berg privater Erinnerungen, die im Selbstverlag, als Books on Demand bzw. in entsprechenden Zuschussverlagen hergestellt werden.
Der Boom autobiographischer Literatur ist ein Subphänomen einer universellen Verschiebung des erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Koordinatensystems in den letzten 30 Jahren, der weit über das Fallbeispiel DDR hinausreicht, aber hier besonders gut greifbar ist. Diese Verschiebung ist mit einer massiven Depotenzialisierung der Geschichtswissenschaft in ihrer Orientierungs- und Leitfunktion verbunden, die längst von sensiblen Repräsentanten des Fachs wahrgenommen worden ist.
Das Ergebnis ist eine fundamentale Re-Individualisierung und De-Professionalisierung von Vergangenheit. Ebenso wie auf dem Buchmarkt das Geschichtsbuch und die fachwissenschaftliche Publikation mit den Memoiren und Autobiographien der Akteure um die Aufmerksamkeit des Publikums buhlen, beherrscht die Konkurrenz zwischen Historikern und Zeitzeugen längst die Szene der öffentlichen Aushandlung von Geschichte. Die Prägekraft von Geschichtsbildern in den audiovisuellen Medien, im Fernsehen und im Kino zuerst, in sublimierter Form im Museum oder im Denkmal, tut ein Übriges.
Wenn gleichwohl mit der These von der "Erinnerung als Integration" eine versöhnliche Einschätzung dieses Phänomens vorgeschlagen und mit Gaucks Buch in einer gleichsam idealtypischen Lektüre als einlösbar und sogar demokratieförderlich postuliert werden soll, so geschieht dies in der Erwartung, dass es den meisten Menschen ernst ist mit der eigenen Erinnerung. Sie ist ihnen zu wichtig, als dass man die Geschichte allein den Fachleuten überlassen würde, weil diese Geschichte noch im lebendigen kollektiven Austausch ist, weil sie noch immer zu "heiß" ist für die Abkühlung der Historisierung. Insofern ist Erinnerung als Integration zu verstehen: als Pochen auf Anerkennung, als Versuch, wenigstens in der eigenen Geschichte zuhause zu sein in dieser zerklüfteten Gesellschaft. Dies mag im Einzelfall eine Provokation sein, vielleicht sogar eine Ungeheuerlichkeit. Die Frage bleibt, ob Schweigen die bessere Alternative wäre.