Einleitung
Einer der Schlüssel in der Annäherung an die Verlagsgeschichte des Gustav Kiepenheuer Verlags nach 1945 ist die Rolle des Verlegers und des Einflusses auf Programm und Ausrichtung. So war, bei allen Eingriffen durch die Kulturpolitik der Sowjetischen Militäradministration (SMA) sowie der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), der Kiepenheuer Verlag bis 1977 zunächst ein Privatunternehmen, welches zudem auf einer gewichtigen Tradition aufbauen konnte.
Mit dem Tod Gustav Kiepenheuers am 6. April 1949 schien das Schicksal des Verlags jedoch besiegelt. Es kam zur Ausgründung des Verlags Kiepenheuer & Witsch in der Bundesrepublik Deutschland, der dort an die Rolle als Mittler zeitgenössischer deutscher Literatur anknüpfen konnte, ohne allerdings Auswirkungen auf die Produktion des in der DDR verbleibenden Verlags zu zeitigen. In der DDR wurden die Geschäfte von Noa Elisabeth Kiepenheuer fortgeführt, die Rolle der selbständig agierenden Verlegerin wurde ihr jedoch von der zentral gesteuerten Kulturpolitik nur bedingt zugestanden.
Vielmehr wurde 1949 mit Johannes Nohl ein Lektor eingesetzt, der aus der Sicht der SED-Kulturfunktionäre den Verlag in "fortschrittlichstem Sinne" gestalten sollte. Das 1950 in der Würdigung Gustav Kiepenheuers vorgelegte Publikationsverzeichnis über den Zeitraum 1910–1950 enthält dann zwar noch die Programmatik, auch zukünftig "stets Künder seiner Zeit zu sein"
Die Widersprüchlichkeit zwischen dem Versuch der parteilichen Einflussnahme bzw. Steuerung und der verlegerischen Standortsuche lässt sich bereits über zentrale Personalien des Verlags Ende der 40er-Jahre, wie Theodor Plievier und Johannes Nohl
Zentrales Moment der hier verfolgten Fragestellung sind die verlegerischen Ziele in der Auseinandersetzung mit der staatlichen Kulturpolitik in der SED-Diktatur. Letztere erscheint bei einem ersten Blick auf die Publikationen des Verlags merkwürdig ausgeblendet. Ja, es entsteht das Bild eines erfolgreichen Nischendaseins, welches gerade durch die Abwendung von der zeitgenössischen deutschsprachigen bzw. der DDR-Literatur möglich geworden sein könnte. Diese Frage bildet den Leitfaden für die folgende Annäherung an die Geschichte des Kiepenheuer Verlags Ende der 1940er-, Anfang der 50er-Jahre. Dabei sollen weniger die politischen Rahmenbedingungen und die Ausformung der Diktatur in Bezug auf das Verlagswesen denn das Agieren des Verlags selber in den Blick genommen werden.
Versuche des Neuaufbaus
Undatierte Aufnahme des Verlegers Gustav Kiepenheuer. (© Foto: Heinrich Poellot. dpa/Picture Alliance)
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Undatierte Aufnahme des Verlegers Gustav Kiepenheuer. (© Foto: Heinrich Poellot. dpa/Picture Alliance)
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Bereits unmittelbar nach Kriegsende unternahm Gustav Kiepenheuer den Versuch, den Verlag auf der Basis seiner verlegerischen Tätigkeit der 1920er-Jahre wieder aufzubauen.
Herzfelde hatte mit dem 1944 begonnenen Verlag eine Reihe von Autoren gewinnen können, die in den 1920er- und beginnenden 30er-Jahren dem Verlag Gustav Kiepenheuer verbunden waren. Dazu zählten unter anderen Bertolt Brecht, Franz C. Weiskopf oder Lion Feuchtwanger. Entsprechend bemühte sich auch Kiepenheuer um eine Übereinkunft mit Herzfelde. Dieser entschied sich jedoch für die gleichzeitige Übergabe der Rechte an den Münchener Verleger Kurt Desch und den Aufbau-Verlag. Für Aufbau verhandelten Erich Wendt und Max Schroeder; letzterer hatte die Jahre der Emigration, wie Wieland Herzfelde, in New York verbracht. Neben der finanziellen und strukturellen Ausstattung war somit auch ein personelles Netzwerk vorhanden, mit dem Kiepenheuer als im Lande Gebliebener kaum konkurrieren konnte.
Lediglich mit Nachauflagen, so von Theodor Plievier, Anna Seghers und Arnold Zweig, konnte zunächst an die Tradition des Kiepenheuer Verlags der Weimarer Republik angeknüpft werden.
Der Schriftsteller Theodor Plievier in Berlin, 2.2.1954. (© dpa/picture-alliance)
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Der Schriftsteller Theodor Plievier in Berlin, 2.2.1954. (© dpa/picture-alliance)
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Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde die Diskrepanz zwischen dem Anspruch Kiepenheuers an seine Rolle als Verleger und den Erwartungen der sich festigenden SED-Kulturpolitik an einen "fortschrittlichen" Verlag deutlich. So eröffnete ihm der als Mitgesellschafter agierende Theodor Plievier im Mai 1947, dass seine Tätigkeit als Gesellschafter des Verlags im Auftrag der SMA auch in der politischen Kontrolle bestehe. Dies wurde mit dem Argument, dass Kiepenheuer dann ja einem belasteten Nazi gleichgestellt sein würde, mit größtem Unverständnis aufgenommen. Gleichwohl muß Plieviers Mitteilung durchaus plausibel gewesen sein: Ihm wurde angeboten, in veränderter Stellung zum Verlag, als dessen Geschäftsführer, weiterhin als "politischer Aufpasser" zu fungieren. Einen solchen Schritt lehnte Plievier jedoch entschieden ab.
Wenn es jedoch einen Bereich gab, in dem der Kiepenheuer Verlag der ersten Nachkriegsjahre in der der SBZ spezifischen Kulturentwicklung zu verorten ist, dann ist es die Wiederveröffentlichung des "kulturellen Erbes". In diesem Rahmen wurden Neuausgaben von Heinrich Heine, Nikolaj Gogol oder Johann Gottfried Herder vorgelegt. In Johannes Nohls Nachwort zur Neuauflage Heines "Buch der Lieder" von 1947 liest sich die Programmatik folgendermaßen: "Infolge des barbarischen Verbots von Heinrich Heines Schriften im Dritten Reiche konnte das Unglaubliche geschehen, daß sein 'Buch der Lieder' heute bereits einer ganzen Generation unbekannt ist".
Durch den Tod Gustav Kiepenheuers am 6. April 1949 endete die kurze Phase des Neubeginns und Versuch des Anknüpfens an die eigene Tradition. Dieses spielte zwar auch in der weiteren Verlagsgeschichte immer wieder eine Rolle, letztlich prägt aber jeweils der Verleger den Verlag, und hier zeichnete ab diesem Zeitpunkt Noa Elisabeth Kiepenheuer verantwortlich.
Überlebensfragen
Der Lektor Friedrich Minckwitz und die Verlegerin Noa Kiepenheuer in den Weimarer Verlagsräumen. (© Pavillon-Presse Weimar – Druckgrafisches Museum)
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Der Lektor Friedrich Minckwitz und die Verlegerin Noa Kiepenheuer in den Weimarer Verlagsräumen. (© Pavillon-Presse Weimar – Druckgrafisches Museum)
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Mit der Übernahme des Verlags durch Noa Kiepenheuer
Johannes Nohl, 1947. (© Quelle: Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, Bestand 21097 Gustav Kiepenheuer Verlag Nr. 51, Bl. 2)
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Johannes Nohl, 1947. (© Quelle: Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, Bestand 21097 Gustav Kiepenheuer Verlag Nr. 51, Bl. 2)
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Noa Kiepenheuer setzte Mitte Juni 1949 Johannes Nohl als Cheflektor ein. Nohl war durch Plievier mit Gustav Kiepenheuer in Verbindung getreten
Tatsächlich wirkte Nohl den Bemühungen um Anknüpfung an die Tradition des Verlags entgegen. Dies schlug sich sowohl in seinen Vorstellungen der zu verlegenden Literatur nieder als auch in den Ablehnungen, die er formulierte. So schrieb er unmittelbar nach Antritt seiner Stelle als Cheflektor ein ablehnendes Gutachten zu Joseph Roths "Die weißen Städte" und damit zu einem Autor, der bereits vor 1933 Teil des Kiepenheuer-Programms war. Darin heißt es: "Ein in einem prachtvoll konzentrierten Stil geschriebenes Buch von hohem Niveau, das aber mit seiner einseitigen Verherrlichung des Altertums und Mittelalters und seiner Skepsis gegenüber allen progressiven Aufbaukräften der neuen Zeit unmöglich von einem links gerichteten Verlag herausgebracht werden kann. [...] Bei unserm empfindlichen Mangel an gut geschriebenen Büchern ist es mir bitter, dieses Urteil fällen zu müssen. Ich las das Werk stellenweise mit großem Genuß, was mich aber nur noch mehr in meiner Überzeugung stärkte, daß es im höchsten Maße gefährlich und irreführend ist."
Das erste große Projekt, welches zunächst noch in der Tradition des Verlags der Weimarer Republik stand, war eine Würdigung des Verlags und Verlegers Gustav Kiepenheuer. Geplant wurde die Herausgabe eines Verlagsverzeichnisses für den Zeitraum 1910–1950 sowie ein Almanach mit Texten ehemaliger und aktueller Kiepenheuer-Autoren
1951 konnte der Almanach schließlich erscheinen. Die daran geknüpften Bedingungen sind jedoch in der Einleitung eindrücklich festgehalten, die sich vom "intellektuellen Formalismus" eines Teils des früheren Verlagsschaffens distanziert. Ziel der vorliegenden Auswahl sei es gewesen, "das Wertvolle von dem Überlebten zu trennen" und "das verhängnisvolle individualistische Erbe [...] völlig und endgültig" zu überwinden.
Johannes Nohl hielt es trotzdem noch Anfang der 1960er-Jahre für nötig, darauf hinzuweisen, dass er an der Zusammenstellung des Almanachs nicht beteiligt gewesen sei,
Seine Kündigung wirft denn auch ein anderes Licht auf die innere Verfassung des Verlags, als die Vorgänge um den Almanach vermuten lassen. In seinem ausführlichen Begründungsschreiben führt Nohl aus, dass es vor allem die nicht eindeutige politische Linie des Verlags gewesen sei, die ihn zur Aufgabe seiner Tätigkeit bewegt habe: "Als Frau Noa Kiepenheuer nach dem Tode ihres Mannes mit der Verlagsarbeit neu begann, war die Situation eine andere als heute. Damals war es in der Tat geboten, daß mit tausend Hemmungen, Vorurteilen und Vorbehalten belastete bürgerliche Publikum allmählich an die Probleme unseres Aufbaus heranzuführen. Angesichts der gegenwärtigen Situation bin ich der Meinung, daß es der Gustav-Kiepenheuer-Verlag seinem Namen und seiner Tradition schuldig ist, im Dienste der Friedenspolitik klar und offen an der vordersten Kulturfront zu kämpfen. Danach muß sich die Wahl der Autoren richten".
Ähnliche Vorwürfe waren bereits zu Lebzeiten Gustav Kiepenheuers erhoben worden. Die Ablehnung von nunmehr sowjetischen bzw. stalinistischen Autoren – hier war vor 1949 allgemeiner gehalten die Rede von "fortschrittlicher" Literatur – bildet dabei eine Kontinuität in der unideologischen Ausrichtung des Verlags.
Möglichkeiten
Mit dieser Erfahrung des Scheiterns, sowohl in der Frage des Almanachs, als auch in der internen und externen Durchsetzung von Manuskripten des alten Autorenstamms, wurde es notwendig die Möglichkeiten des Verlages konkreter zu bestimmen. Grundsätzlich mussten zunächst alle Fragen des Fortbestehens ausgelotet und Strategien für die weitere Arbeit durch den Verlag entwickelt werden. Ein Ergebnis dieses internen Diskussionsprozesses bestand in der Entwicklung eines Strukturplanes für den Verlag: Nicht mehr die Person des Verlegers sollte den Verlag repräsentieren, sondern eine Verlagsleitung, die sich aus Geschäftsführung, Lektorat und Buchproduktion zusammensetzte. Dabei wurde ausdrücklich darauf verwiesen, es sei "in der sich entwickelnden Gesellschaftsordnung sehr schwer, sich als selbständiger Verlag zu behaupten".
Zudem forderte im November 1950 der Kulturelle Beirat für das Verlagswesen in Person von Vilmos Korn dazu auf, eine Denkschrift zur zukünftigen Verlagsarbeit auszuarbeiten.
In der bereits vier Wochen später vorliegenden Schrift wird erstmals ausführlich das Programm skizziert, welches im weiteren Verlauf der Verlagsgeschichte in weiten Teilen maßgeblich sein sollte. Zwar ist hier auch noch die Rede von moderner Literatur, die auch die westdeutschen Leser anspricht bzw. diesen die zeitgenössische Literatur der Volksdemokratien vermittelt, daneben steht aber bereits ein weiterer deutlicher Schwerpunkt. Hier heißt es, dass Werke verlegt werden sollen, die "die Entwicklung des Fortschritts in der Geschichte dokumentieren und deshalb für die Gegenwart von besonderer Aktualität sind." Dabei sollten sowohl Zeitdokumente in Neubearbeitung als auch moderne Darstellungen berücksichtigt werden.
Dieses Ansinnen stieß jedoch auf wenig Gegenliebe, wurden hier doch verlegerische Akzente durch Noa Kiepenheuer gesetzt, die zwar ihrer eigenen Interessenlage entsprachen, nicht jedoch der kulturpolitischen Stoßrichtung der SED. Entsprechend deutlich fiel die Ablehnung durch den Kulturellen Beirat aus: Dem vom Verlag 1951 gesetzten Schwerpunkt, in der Jahresplanung für 1951 mit Titeln von Honoré de Balzac, Emile Zola, Guy de Maupassant, Charles Dickens etc. untersetzt, wurde eine klare Absage erteilt. Von 33 geplanten Publikationsvorhaben wurden 19 abgelehnt. Der Verlag sollte sich im Rahmen der Gesamtplanung in der DDR verstärkt um die "Herausgabe moderner, literarisch wertvoller Bücher" bemühen, sowohl "fortschrittlicher" Autoren des Westens als auch der Literatur der Sowjetunion und der Volksdemokratien.
Der Tod Stalins und die damit einhergehenden Entschleunigung des "Aufbaus des Sozialismus" in der DDR, sowie die kulturpolitischen Lockerungen nach dem 17. Juni 1953 eröffneten dem Kiepenheuer Verlag erstmals die Möglichkeit, zumindest in der Frage der Verlagsschwerpunkte, eigene Ziele abzustecken. Nachdem die Verlagsplanung für 1954 im Frühjahr 1953 zunächst noch im Rahmen der "Empfehlungen" des Amtes für Literatur und Verlagswesen verlief, wurden diese ab Dezember 1953 neu diskutiert: "Wir hatten schon gleich nach dem 11. Juni daran gedacht, eine Erweiterung und Differenzierung unseres Planes vorzunehmen, wollten jedoch, ehe wir daran gingen, die erste Planbesprechung im Zeichen des neuen Kurses abwarten."
Tatsächlich gelang es, die Phasen der politischen Entspannungen zwischen 1953 und 1956 zu nutzen, um das Verlagsprofil im Sinne oben genannten Vorschlages gegenüber dem 1954 gegründeten Ministerium für Kultur zu verankern. So hieß es 1954 von Seiten des Verlags: "Wir begrüßen es sehr, daß uns für die Verlagsplanung 1955 vom Amt für Literatur und Verlagswesen ein weitaus größeres Aufgabengebiet als bisher zugewiesen worden ist. Dadurch sind wir nicht nur imstande, der Tradition unseres Verlages wieder in weitaus größerem Umfang zu entsprechen, sondern vermögen vor allem auch den großen Initiativen, die der 4. Parteitag der SED nicht zuletzt auch auf dem Gebiet der Kultur gegeben hat, nach Kräften zu entsprechen."
Verantwortet hatte diesen Vorschlag nicht die Verlegerin allein, die verlegerischen Ziele wurden dem Ministerium für Kultur 1956 de facto durch den gesamten Verlag erklärt. Das entsprechende Schreiben war sowohl von Noa Kiepenheuer als auch dem Geschäftsführer Paul Stengel, dem Lektor Friedrich Minckwitz und der Verlagsmitarbeiterin Käthe Oehlwein unterschrieben.
Nische in der Diktatur
Mitte der 1950er-Jahre hatte der Kiepenheuer Verlag somit tatsächlich seine Nische in der Diktatur gefunden. Dazu hatte zunächst rein formal die juristische Weitsicht Gustav Kiepenheuers selbst beigetragen, der den Gesellschafteranteil Theodor Plieviers rechtzeitig übernommen und Noa Kiepenheuer zur Alleinerbin eingesetzt hatte. Eine "stille Übernahme" durch die SED war somit Anfang der 50er-Jahre zunächst nicht möglich. Zudem bestand auf Seiten der SED die wohl als Fehleinschätzung zu bezeichnende Ansicht, dass durch den Geschäftsführer Paul Stengel die Interessen der Partei gewahrt würden. Gleichzeitig kann unterstellt werden, dass die Beschränkung der Verlagslizenz in Bezug auf Werke des "kapitalistischen Auslands" und die mangelhafte Versorgung mit Papier zu einer schleichenden Aushöhlung des Verlagsgeschäftes hätte führen sollen.
Entgegen dieser Ausgangslage haben Noa Kiepenheuer und ihre Mitarbeiter es jedoch verstanden, das Wechselspiel zwischen Lockerung und repressiver Einschränkung in der Kulturpolitik der SED zur Sicherung des Verlags zu nutzen. Dabei handelte es sich aber nicht um eine geradlinige Strategie. Entscheidend war die Fähigkeit zum Kompromiss ohne die eigenen Ansprüche an einen Verlag preiszugeben.