I. Gefangen in Legenden
Der Strittmatter der späten Jahre begegnet vielfach verdüstert und voller Skepsis gegenüber allen großen Projektionen. Es wird Teil seines Rückblicks auf das eigene Leben sein. Sozial bestimmten es zwei große geschichtliche Phänomene. Die NS-Zeit mit dem Krieg. Der "Neuanfang" mit dem DDR-Sozialismus.
Dem DDR-Sozialismus ist Erwin Strittmatter im Laufe der Jahre kritisch begegnet. Er schreibt sich ihm gegenüber nicht in einen Unbeteiligten um. Anders der Krieg. Ihn neutralisiert er sich in den biografischen Bekundungen mit einer Rolle am Rande. Im Roman öffnet sich die Tür der "Wandlung" und einer Bekenntnisrhetorik, die allerdings auf die literarischen Figuren beschränkt blieb. Einer der, es anders hielt, war Franz Fühmann. Die Last, die er annahm, gehört zu dem, das ihn erdrückte.
Strittmatter richtete sich in Legenden ein. Sie zeichnet ein weiter Abstand zur Realität aus und sie gewannen eine Macht, die der Autor nicht brechen konnte und wollte. Das Erinnerungsbuch von 1985 "Grüner Juni" bot die Chance, sich von der Erpressung durch die Vergangenheit durch ihre wahre Darstellung zu befreien. Strittmatter entschied sich, den Weg neuer Legenden zu gehen. Sie reichten so tief, dass er noch im September 1993, wenige Monate vor seinem Tode im Januar 1994, die Anmutung einer "konsequenten", aus der Arbeiterbewegung stammenden Antikriegshaltung, samt der Feststellung des Interviewers, "gegen Ende des Krieges desertiertest du von der Wehrmacht", ohne die leiseste Korrektur entgegennahm.
Die angebliche Desertion Strittmatters war mehr als fragwürdig
Die zwei Jahre zuvor im August 2006 bekannt gewordene Mitgliedschaft von Günter Grass in der Waffen-SS löste eine begrenzte Diskussion aus, dann fand sie ihren angemessenen Platz in seiner Biografie. Die Affäre sagte wenig Neues über den Staat aus, in dem Grass geschwiegen hatte. Anders der Fall Strittmatter. Als Teil der festgefügten antifaschistischen Ikonografie der DDR, stellte er Fragen, die zu den umgangenen gehörten. Den charakteristischen DDR-Abstand zwischen Schein und Sein initalisierte der Fall Strittmatter in einer literarischen Variante.
Im Mai 1959 schrieben eine Kommission des SED-Zentralkomitees und der Autor eines der wichtigsten Kapitel dieser Geschichte. Die Kommission beriet hinter verschlossenen Türen über Strittmatters "Einsatz als 1. Sekretär des Schriftstellerverbandes". Der Kandidat hatte ihr nur einen sehr begrenzten Einblick in seine wirkliche Kriegsvergangenheit gegeben, allgemein Einsatzorte wie "Oberkrain" oder die "Cykladeninsel Naxos" genannt und war so auch mit seinem militärischen Status umgegangen. Zwar war er im April 1941 zur "Schutzpolizei" eingezogen worden und als "Reservist" zum Polizei-Bataillon 325 gekommen, doch das Schlüsselwort "Ordnungspolizei" fehlte ebenso wie die Tatsache, dem "SS-Polizei-Gebirgsjäger-Regiment 18" angehört zu haben.
"Bevor es eine Deutsche Demokratische Republik gab, kannte niemand den Namen Erwin Strittmatter in der Literatur. Heute ist Erwin Strittmatter zweifacher Nationalpreisträger, Vizepräsident und 1. Sekretär des Deutschen Schriftstellerverbandes. Die Auflagenziffer seiner Bücher in unserer Republik hat bald eine halbe Million erreicht [...].
Die braunen Machthaber und ihren Krieg haßte er. Dennoch, als sie ihn in die Soldatenuniform steckten, marschierte er in ihren Krieg mit Schopenhauer und Rilke im Tornister, mißmutig und ratlos. Noch immer hatte er tausend Fragen und wenig Antworten. Sie führten dazu, daß er schließlich desertierte.
Als das Volk aus dem Krieg getaumelt kam, verführt und aus allen Wunden blutend und ohne Hoffnung, da tat nichts bitterer not als: Brot und Wahrheit [...].
Von Zeit zu Zeit unternimmt Erwin Strittmatter längere Reisen durch die Republik, um zu erfahren, welche Probleme die Menschen in anderen Orten bewegen. Ohne diese Beziehung zum Leben der Arbeiter und Bauern, ohne die aktive Teilnahme an ihrem Leben könnte Strittmatter unsere Gegenwart nicht gestalten."
II. Spurentilgung
Mehr als zwei Jahrzehnte später war die lebensgeschichtliche Legende zum festen Bestandteil eines Werkes geworden, das sich den Anschein persönlicher und zeitgeschichtlicher Wahrhaftigkeit gab. In diese Rolle war es nicht irgendwo eingetreten. Der Ort war das Land, das die Verbrechen der NS-Zeit, den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust verantwortete. Ihr Ausmaß hatte Adorno und Celan zweifeln lassen, ob ein "Schreiben nach Auschwitz" überhaupt möglich sei. Die Holocaustüberlebende Ruth Klüger formulierte eine Alternative. Sie schien ihr in der nichts aussparenden Wahrheit zu liegen. Ihr Essay "Fakten und Fiktionen" ging Konsequenzen für das Erzählen nach. In diesem Bereich herrsche ein besonders sensibles Verhältnis zwischen dem geschichtlichen Fakten und dem Erzählen. Der Einwand: "So war es nicht, hier stimmt etwas nicht!", erscheine hier zu unrecht naiv. Er wiege in diesem Fall schwerer. als bei sonstigen historischen Fiktionen. Ruth Klügers Diktum: "Wer über Wirkliches schreibt, kann sich nicht über Wirkliches hinwegsetzen."
In dieses Umfeld trat Strittmatters mit dem autobiografisch gehaltenen Text "Grüner Juni. Eine Nachtigall-Geschichte" 1985 ein.
Die Stasi nahm das Anliegen auf ihre Weise entgegen. Sie notierte aus einem Gespräch zwischen dem DDR-Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann und dem Autor im März 1985: "Strittmatter sei bezüglich seines neuen Manuskriptes zu keinerlei Kompromissen bereit [....] Strittmatter betonte, daß er dabei sei, sein Leben in der Reihe der 'Nachtigallengeschichten' – zu denen auch der 'Grüne Juni' gehöre, memoirenhaft aufzuarbeiten[,] und dabei könne er nichts anderes schreiben, als was er erlebt hat."
Das Kriegsende sieht Strittmatter im "Grünen Juni" in der "Gegend" des südböhmischen Oberplan in der Rolle eines Deserteurs. Er habe mit anderen Einwohnern des Ortes im Mai 1945 die weiße Fahne auf dem Kirchturm aufgezogen, sollte aber nach dem Einmarsch der Amerikaner "dann doch noch erschossen werden". Von Strittmatters Kriegseinsatz zwischen 1941 und 1945 werden die Septemberwochen 1943 in der griechischen Ägäis behandelt. "Bisher hatten die Italiener, die Verbündeten Hitlers, die Ägäischen Inseln besetzt gehalten [...]. Die Männer unseres Bataillons werden ziemlich vereinzelt auf die Inseln verstreut".
Die Quellen aus dem südböhmischen Wallern, wo sich Strittmatter im Mai 1945 befindet, kennen weder den vorgeblichen Deserteur noch seine Beteiligung am Hissen der weißen Fahne auf dem Kirchturm.
Die kryptische Behauptung, dass er in Wallern "dann doch noch erschossen werden sollte", die sein Biograf Günther Drommer als Racheakt von belgischen Zwangsarbeitern fortschreibt,
Bewohner von Wallern (Südböhmen) bei der Bestattung von Opfern eines Todesmarsches jüdischer KZ-Insassinnen. Zu der Bergung und Bestattung der Toten mussten die Einwohner von US-Soldaten gezwungen werden. (© USHMM, Courtesy of National Archives and Record Administration.)
Bewohner von Wallern (Südböhmen) bei der Bestattung von Opfern eines Todesmarsches jüdischer KZ-Insassinnen. Zu der Bergung und Bestattung der Toten mussten die Einwohner von US-Soldaten gezwungen werden. (© USHMM, Courtesy of National Archives and Record Administration.)
Von den Personen des Umfeldes in Wallern wird nur eine Bäuerin erwähnt, die ihn versteckt haben soll. Biograph Drommer nennt eine mehr, Hein Bethmann, "der begabte Maler",
III. SS-Polizei-Gebirgsjäger auf den Zykladen
Parallel zu den Operationen läuft eine Propagandaoffensive. Das an allen Fronten zurückweichende NS-System will gerade im Fall der "wortbrüchigen" Italiener seine Stärke demonstrieren.
In sorgfältigem Abstand zur Einsatzgeschichte der SS-Polizei-Gebirgsjäger ist Strittmatter im "Grünen Juni" bei der sich im August 1943 abzeichnenden Kapitulation der Italiener auf "Urlaub". Die "Truppe" wird vom Polarkreis nach Griechenland verlegt, er muss ihr "nachreisen". Es gibt keine Eroberung der Zykladen. "Alsbald bin ich in der Inselwelt". Der einzige Konflikt, der mit der Ablösung der italienischen durch die deutsche Besatzung verbunden ist, spielt unter den Inselbewohnern. "Die griechischen Inselfrauen liebten die italienischen Soldaten, wie die finnischen Frauen die deutschen Soldaten liebten. [...] Es war viel Weinens unter den Inselfrauen, als die italienischen Soldaten abzogen und die deutschen Soldaten anrückten."
"Welt tut sich auf", empfand der Kritiker Rulo Melchert beim Erscheinen des Textes, "Wirklichkeit und Mythos vermischen sich, das Erzählen ist durchstrahlt von Licht, man ist ergriffen und belächelt nichts." Der "Grüne Juni" setze die Bemühungen fort, "das Ich eines unverwechselbaren Lebens, eines Menschen- und Schriftstellerlebens, wie es uns Erwin Strittmatter vorlebt, in all seiner Widersprüchlichkeit schonungslos und ehrlich hinzustellen, daß wir uns daran reiben und messen können ..."
Propagandapostkarte: Landung des 18. SS-Polizeigebirgsjägerregiments auf Andros. Zeichnung von Hein Bethmann. (© Archiv Roland Pfeiffer, Soest.)
Propagandapostkarte: Landung des 18. SS-Polizeigebirgsjägerregiments auf Andros. Zeichnung von Hein Bethmann. (© Archiv Roland Pfeiffer, Soest.)
Natürlich kannte der schonungslos ehrliche Autor, der aus dem Nichts zu seiner Truppe stieß, um alsbald in der Inselwelt zu sein, die Wahrheit. Das SS-Polizei-Gebirgsjäger-Regiment 18 traf Mitte August in Griechenland ein, um für den Fall der Kapitulation Italiens zur Verfügung zu stehen. Die Italiener hielten wichtige militärische Positionen auf dem Festland und in der Ägäis. Am 17. September 1943 wurde Strittmatters III. Bataillon aus einem Küstenverteidigungsabschnitt südöstlich von Athen, wo es seit Anfang September im Verband der 11. Luftwaffenfelddivision eingesetzt war, herausgelöst und dem Befehl des Kommandierenden Generals Attika unterstellt. Am Abend des 22. September nahm das III. Bataillon mit drei Kompanien und dem Bataillonsstab, in dem Strittmatter nach seinen Bekundungen die Funktion eines "Schreibers" ausübte, auf Minensuchern Kurs auf Andros, dessen italienischer Kommandant die Übergabe abgelehnt hatte.Bei der Landung in den frühen Morgenstunden des 23. im Hafen von Kastron wurden die SS-Polizeigebirgsjäger mit heftigem Feuer empfangen, die Lage war heikel. Der Kommandeur des SS-Polizeigebirgsjäger-Regiments 18, SS-Obersturmbannführer Hermann Franz, beklagte später, das sich auf den Schiffen nur geringe Kräfte befunden hätten, darunter der "Btl. Stab", wo der Platz des Batailonsschreibers und Kriegstagebuchführers war, den Strittmatter nach seinem Bekunden einnahm.
IV. Ägäische Phrasen
Im "Grünen Juni" gibt es alle diese Ereignisse nicht. Die bereinigte Szene schafft Platz für hochfliegende Interpretationen. Der vernebelte Krieg drängt sich den alternativlosen Rezensenten als poetische Leistung auf. Dem Germanisten Klaus Werner begegnet "der Umstand, daß sich oberhalb des Berichteten eine schwer zu benennende Atmosphäre erhält, die das Tatsächliche in einen Schwebezustand überführt, es von seinen zeitgeschichtlichen Kontexten gleichsam befreit: Es wird auf eine Ebene gehoben, auf der sich irdisches Leben und Menschen-Zeit plötzlich mit Welten-Raum und Universalgefühl verknüpfen".
Propagandapostkarte: Kämpfe des 18. SS-Polizeigebirgsjägerregiments auf Andros. Zeichnung von Hein Bethmann. (© Archiv Roland Pfeiffer Soest)
Propagandapostkarte: Kämpfe des 18. SS-Polizeigebirgsjägerregiments auf Andros. Zeichnung von Hein Bethmann. (© Archiv Roland Pfeiffer Soest)
Strittmatters Zykladeninsel hieß Naxos. Die blutige Zwischenstation Andros. Von der eine Schlüsselstellung einnehmenden Insel fächerte sich die Invasion auf. Am 27. September erging an die 12. Küstenschutzflottille Attika der Befehl, die begonnene "Bereinigung" der Zykladen-Inseln von italienischen Truppen und Badoglio-Anhängern fortzusetzen. Diese Aktion sei durchzuführen mit dem 3. Bataillon des SS-Polizei-Gebirgsjäger-Regiments. Am 12. Oktober wurde Naxos besetzt. Am 11. November wurde die am Rand der Zykladen liegende Insel Ios erreicht und von dort am Abend des 27. durch den "Kampfgruppenführer Süd" an den italienischen Inselkommandanten von Santorin der Funkspruch gerichtet, die Insel Santorin zu übergeben. Falls nicht innerhalb einer Stunde die Zusage eingehe, werde die Insel von See und aus der Luft angegriffen, worauf die Kapitulation erfolgte und am nächsten Tag ein deutscher Marineverband Santorin anlief.
"Wir werden zu dritt auf der Insel Ios abgesetzt", behauptet Strittmatter im "Grünen Juni".
V. Inseln der Strittmatter-Legende
Die Strittmatter-Legende speiste der "Grüne Juni" aus der Strittmatter-Legende. Die Wortmeldungen der Rezensenten spiegeln die Wirkungen auf das kollektive Strittmatter-Gedächtnis in der DDR. Der Kritiker Klaus Werner unterlag dem beklemmenden Irrtum, "erlebte Wirklichkeit" stehe vor dem Leser auf. Strittmatter lasse Esau Matt "ein durch nichts verbogenes Sehen ausbilden, das luzide Abbilder von Wirklichkeit beschert und eine Realität vor uns hinstellt, die sich in mehrfacher Bedeutung des Wortes selbst beleuchtet: 'Die Stadt Ios glänzt weißer als die Sonne ...'"
Entlang des "Grünen Juni" erzählte Strittmatter den Deutschen einen verträglichen Krieg in der Ägäis. Im Schattenwurf dieser Kunstleistung verschwand die eigene Rolle. Der Dortmunder Historiker Ralph Klein, der in einer umfangreichen Untersuchung die Geschichte des SS-Polizei-Gebirgsjäger-Regiments 18 aufarbeitete, urteilte ohne Umschweife, Strittmatter habe seine Kriegserlebnisse literarisch verarbeitet, "ohne seine Zugehörigkeit zu diesem außerordentlichen Polizeiregiment zu nennen oder das konkrete Kriegsgeschehen zu beschreiben – ganz im Gegenteil. So schilderte er beispielsweise die Besetzung der Zykladen durch das III. Bataillon, zu dem er gehörte, als Postkartenidylle mit blauem Meer, schönem Wetter, leckeren Wein und attraktiven Frauen."
Das Niederlausitzer Heidemuseum in Spremberg eröffnete im November 2010 eine neue Dauerausstellung über Erwin Strittmatter. Auf einer Karte Europas waren die Zykladen, wie die anderen Kriegsorte Strittmatters, nichts anderes als kleine weiße Reiter. Was da geschah, blieb anonym. Hitlers Polizei ohne Einordnung. Das Heidemuseum im Schweigen über seinen Krieg begriffen, wie Strittmatter über ihn schwieg. Hier trägt Strittmatter noch immer Wehrmachtsuniform. Die Frage, welches Wissen die Ausstellung jungen Menschen vermittle, wies der Museumsleiter in einem Interview, als ihn nicht betreffend, an die Schule zurück.
Im Juni 2010 schon hatte sich der Spremberger Erwin-Strittmatter-Verein zum Geburtstag des Autors in diesem Geist ein finales Geschenk gemacht. Er befand über Geschichte per Vereinsbeschluss: "Der Erwin-Strittmatter-Verein hat die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des Schriftstellers für beendet erklärt. Es gebe keine weiteren Untersuchungen zur Rolle Erwin Strittmatters im Zweiten Weltkrieg, sagte am Montag die stellvertretende Vorsitzende Renate Brucke nach einer Mitgliederversammlung des Vereins in Spremberg. Es lägen keine neue Erkenntnisse vor, die ausgewertet werden müssten. Der Vorgang sei für den gegenwärtig 141 Mitglieder zählenden Verein erledigt. Der Verein wolle sich jetzt wieder seinen eigentlichen Aufgaben und den Werken Erwin Strittmatters (1912–1999) widmen."
Die 2008 beginnende Debatte nannten die Bochumer Historiker Silke Flegel und Frank Hoffmann symptomatisch "für die Diskussion um das Erinnern an deutsche Diktaturen".