Dokumentation einer Veranstaltung des Berliner Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und des Inforadio Berlin in Zusammenarbeit mit der Stiftung Stadtmuseum Berlin und der Gedenkstätte Berliner Mauer in Berlin am 26. Januar 2011
Gekürzte und geringfügig redigierte Abschrift. Die Veranstaltung wurde am 30. Januar 2011 ausgestrahlt im "Forum" des Inforadio des RBB: [...] Der 13. August, jener Tag, an dem die Sektorengrenze in Berlin hermetisch abgeriegelt wurde, das ist 50 Jahre her, 2011. Die Magie der runden Zahl [...]. Hier [...] in der [Berliner] Nikolaikirche, versuchen wir, in Erinnerung zu rufen, was auf den Mauerbau zulief, wie sich weltpolitische Pläne der Supermächte, politisches Handeln vor Ort und die Entscheidungen der Menschen, zu bleiben oder zu gehen, miteinander verwoben haben.
Herzlich willkommen darf ich meinen Gästen sagen, Zeitzeugen wie Historikern. – Ich freue mich auf Klaus Schütz. Neben vielen anderen wichtigen Tätigkeiten waren Sie Regierender Bürgermeister von Berlin in den Jahren 1967 bis 1977. Als die Mauer gebaut wurde, waren Sie Abgeordneter des Deutschen Bundestages. – Helga Schubert ist bei uns, Schriftstellerin, Psychologin, Jahrgang 1940. Als die Mauer gebaut wurde, studierten Sie an der Humboldt-Universität. Sie blieben in Berlin (Ost). Sie veröffentlichten ab Mitte der 70er-Jahre literarische Texte. Manches, auch über die Mauer, erschien nur im Westen. – Manfred Wilke ist bei uns, ehemals einer der beiden Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin, heute beim Institut für Zeitgeschichte München-Berlin. Im Mai erscheint sein neues Buch "Der Weg zur Mauer". – Und schließlich Jens Schöne, der Stellvertreter des Berliner Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Er hat in seiner Dissertation ["Frühling auf dem Lande"] 2004 die beiden Phasen der Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR untersucht, Phasen, denen jedesmal staatliche Krisen folgten, 1953 wie 1960/61. –
Ich sagte es: Magie der runden Zahl. Und doch vielleicht ist der Blick auf den Mauerbau und die Zeit davor auch im Abstand geprägt von neuen Einsichten, durch neue Dokumente, durch neue Fragen der Forschung, aber auch durch die Lebenswirklichkeit, die Lebenserfahrung der letzten Jahre und Jahrzehnte. [...] Fragen wir zunächst bei den Zeitzeugen: Wie hat sich Ihr Blick auf die Mauer über die Jahre verändert? Helga Schubert.
[...]
Schubert: Also, als sie gebaut wurde, habe ich eine vollständige Änderung meiner Lebensperspektive gesehen. Es war im Sommer. Ich war 21 Jahre alt, verheiratet, hatte ein kleines drei Vierteljahre altes Kind [...] und wollte in den Westen gehen. Ich war Studentin und hatte total mir was völlig anderes vorgestellt von meinem zukünftigen Leben. Ich war Berlinerin, habe immer hier gelebt und habe gedacht, ich werde den Studienplatz wechseln, nach West-Berlin gehen. Ich fand das völlig absurd, hier zu leben. Und dann war die Mauer da. Ich habe diese Mauer wirklich als eine totale Demütigung empfunden. Es trat eine völlige Veränderung meiner Lebensperspektive ein. Und dieser Blick hat sich nicht geändert. Nun bin ich einfach unheimlich glücklich, dass das vorbei ist [...]. Ein Albtraum ist es gewesen und ist es immer noch.
Asel: Klaus Schütz, der Blick auf das, was 1961 passiert ist.
Schütz: Also, erstmal gehöre ich zu einer kleinen Gruppe höchstwahrscheinlich. Ich habe mich nie daran gewöhnen können, dass es die Mauer gibt. Ich war, muss ich gestehen, skeptisch, ob es möglich ist, Deutschland wieder zu vereinigen. Aber ich war mir immer sicher, dass das nicht mit Berlin geht, dass das hier so bleiben würde mit der Mauer. [...] Ich war immer der Meinung, sie würde mal weggehen. Und gerade auch in einer Zeit, in der es so aussah, als ob das Land, Deutschland, nie vereinigt werden würde. Hinzu kommt, dass natürlich die Mauer für mich, auch von der Person her, eine besondere Bedeutung hatte. Ich war, als die Mauer gebaut wurde, der Wahlkampfleiter [...] für den Bundeskanzlerkandidaten Willy Brandt. Und ich war [...] in einer Gegend mehr beschäftigt, nämlich Westdeutschland, als hier in meinem eigentlichen Heimatort. Aber da ich hier immer war und immer nur hin und her ging, habe ich diese Mauer doch immer dann eben nur als eine Besonderheit gesehen, die irgendwann mal aufhört. Familiär hat mich die Mauer weniger direkt betroffen, aber ich habe Familie in der späteren DDR gehabt.
Die eigentliche Schwierigkeit nach den ersten Tagen der Mauer war [...], dass für eine gewisse Zeit von drei, vier Wochen man noch mit seinem West-Berliner Ausweis nach Ost-Berlin gehen konnte. Die Ost-Berliner konnten nicht zu uns kommen. Ich weiß das deshalb so genau [...], weil nicht wenige von uns Sozialdemokraten, die wir ja eine einheitliche Parteiorganisation hatten, mit West-Berliner Personalausweisen in der Tasche rüber gegangen und mit den Freunden zurück gekommen sind, die diese Ausweise benutzen konnten. Wir brauchten den Ausweis in den ersten drei Wochen nur vorzuzeigen. Das muss man sehen. Mein bedrückendstes Erlebnis war, als ich in den Stunden und dann in den Tagen nachher in den Büros der Sozialdemokraten war, wo die Kollegen und Genossen saßen und im Grunde genommen schimpften auf die Westmächte, aber vor allen Dingen auf die, die den Stacheldraht denen hier verkauft haben in Ost-Berlin. Also, knapp gesagt: Ich habe die Mauer nie anerkannt, obwohl ich mich darauf eingestellt habe, dass ich auf eine lange Zeit in einem gespaltenen Deutschland leben würde.
Asel: Die historische Beschäftigung mit Mauerbau, mit dem, was dazu führte und was dann folgte, [...] folgt ja auch, wie alle Historiografie, manchmal Schwerpunkten, manchmal auch Moden, Moden der Methodologie. Was können Sie sagen, gerade durch die Öffnung von Aktenkammern, durch die Öffnung von Archiven: Was an Erkenntnisfortschritt in den letzten zwei Jahrzehnten kann man festmachen? Jens Schöne.
Schöne: Ich denke, Herr Wilke kann dann noch mehr zu den internationalen Aspekten sagen. Bis 1989 hatten wir ja mehr oder weniger die üblichen Mythen. Im Osten wurde gepflegt "Der antifaschistische Schutzwall", auf den sich das ja dann immer zuspitzte. Der Westen spekulierte viel über die Hintergründe, warum es dann nun zum Mauerbau kam, wer insbesondere verantwortlich zu machen ist. Da gibt es ja bis heute noch den Streitpunkt: War nun [Walter] Ulbricht der Treibende? Oder war [Nikita] Chruschtschow derjenige, der aus Gründen des Kalten Krieges hier vorpreschte? Und erst die Öffnung der Archive in der DDR und auch, zum Teil zumindest, in der früheren Sowjetunion hat es uns ermöglicht, mehr Erkenntnisse zu gewinnen. Beispielsweise, Herr Schütz, wenn ich da gleich mal anknüpfen darf, weil Sie davon sprachen, dass man bis zu einem bestimmten Zeitpunkt mit dem westdeutschen oder West-Berliner Personalausweis nach Ost-Berlin gehen konnte – das ging exakt bis zum 22. August, weil nämlich in der Politbürositzung am 22. August, und dann mit Gültigkeit 23. August, beschlossen wird, dass das nicht mehr geht. Und wie wir eben heute zum Beispiel wissen, liegt das unter anderem daran, dass die DDR-Bevölkerung natürlich zuhauf argumentierte: Ihr sagt, ihr habt jetzt hier einen antifaschistischen Schutzwall errichtet. Aber warum zeigen die Waffen, warum zeigen die Panzer alle nach Osten? Und warum dürfen die Schieber und Diversanten (und wie das dann alles hieß in der SED-Propaganda) aus West-Berlin dann noch frei hier rüber kommen? Und das war dann schon eine erste Reaktion darauf. [...]
Also, es gibt eine ganze Fülle von Dingen, die wir vorher nicht wussten, die wir jetzt wissen. [...]
Wilke: Zur Frage der West-Berliner Personalausweise noch eine Anmerkung: Die DDR hatte angeboten, dass sie die Passierscheine für West-Berliner ausstellen wollte in West-Berlin. Das hat der damalige Senat abgelehnt, weil das in der Konzeption der SED sozusagen der erste Schritt war, konsularische Einrichtungen in West-Berlin zu etablieren. Und die Westmächte haben das dann ebenfalls verboten, sodass also formal die SED sagen konnte: Wenn ihr euch auf unsere Bedingungen eingelassen hättet, hätten die West-Berliner nicht bis '63 auf die Passierscheine warten müssen. – Aber das war mit ein Teil dieses Druckpotenzials zur Teilung der Stadt.
Nun auf Ihre Frage zu antworten: Die ersten 20 Jahre seit Öffnung der Akten, und zwar nicht nur der MfS-Akten, sondern der SED-Akten, haben sich die Forschungen natürlich konzentriert auf das, was die DDR getan hat. In den letzten zwei Jahren sind durch die Bemühungen von österreichischen Forschern und von der deutsch-russischen Historiker-Kommission jetzt auch entscheidende Akten in Moskau freigegeben worden. Und da stellt sich nun ein Bild heraus, das die in der damaligen Zeit Verantwortlichen im Westen sowieso hatten: Das hat nicht allein Ulbricht entschieden, das hat Moskau entschieden. [...] Damit ergibt sich ein neues Bild auf die Mauer. Nämlich zum Ersten, dass es ein weltpolitischer Konflikt war (das war jedem damals schon klar) zwischen den Amerikanern und den Russen. Und auf der anderen Seite die Not der DDR. Wenn mein Vorredner gesagt hat, dass der Ulbricht gedrängt hat, so ist das richtig. Ab dem Januar 1961 verlangte er von Chruschtschow, das West-Berlin-Problem zu lösen. Aber er wurde gedrängt von den Flüchtlingszahlen und von der Besorgnis, dass es in der DDR nicht ruhig bleiben würde. Und diese doppelte Krise in der DDR war dann das – nachdem klar war, dass die Amerikaner nicht die Forderungen der Sowjets erfüllen werden –, was dann Chruschtschow veranlasste, die Entscheidung zu treffen: Die Grenze in Berlin wird zugemacht.
Asel: Was von dem, was die heutige historische Forschung herausfindet, haben damals Politiker, etwa Willy Brandt und im Berliner Senat oder auch in Bonn, geahnt, vermutet, gewusst?
Berlins Regierender Bürgermeister a.D. Klaus Schütz auf dem Podium am 26. Januar 2011 in der Berliner Nikolaikirche. (© Gedenkstätte Berliner Mauer)
Berlins Regierender Bürgermeister a.D. Klaus Schütz auf dem Podium am 26. Januar 2011 in der Berliner Nikolaikirche. (© Gedenkstätte Berliner Mauer)
Schütz: Man wird im Rückblick ehrlicherweise sagen: Wir haben so gut wie nichts gewusst. Ich spreche jetzt von den letzten acht Wochen vor dem Bau der Mauer. Wir haben im Grunde genommen jeden Tag darüber gesprochen: Was werden die machen? Sie können doch eigentlich nicht diesen Flüchtlingsstrom zulassen. – Wir haben eine Vielzahl von Konstrukten gehabt, dass etwa extra Ausweise für Reisen nach Berlin ausgegeben werden durch die DDR, dass Leute gehindert werden, da hinzukommen, und ähnliche Dinge. Wir haben alles Mögliche diskutiert. Freimütig gesagt: Wir sind durch den Bau der Mauer [...] überrascht gewesen. Wir warteten immer, dass man uns endlich sagt, was hier geschieht. Wie wollt ihr [...] das lösen, das Problem, das ihr habt? Wir sahen, dass ein Problem auf uns zukommt. Das ist ja in den Bildern hier nur angedeutet. Hier war der Teufel los mit Tausenden von Flüchtlingen.
Sie müssen wissen: Als wir den Mauerbau erfuhren, Willy Brandt und wir, da war ich mit ihm zusammen in einem Wahlsonderzug, der von Nürnberg [...] zur Eröffnung des bundesdeutschen Wahlkampfes nach Kiel fuhr. Und wir wurden in Hannover vom Bahnhofsvorstand aus dem Zug geholt, weil wir einen Kontakt mit Berlin haben sollten. Und da hörten wir es. Gingen dann, nachdem Brandt ein paar Anweisungen gegeben hat, zum Flugzeug. Und im Flugzeug sind schon eine Vielzahl von DDR-Bürgern zu uns gekommen und haben gesagt: Was sollen wir jetzt machen? – Bis dahin konnten sie als DDR-Bürger nicht irgendwie nach Westdeutschland reisen. Sie konnten dies immer nur über West-Berlin und von West-Berlin mit dem Flugzeug. Und jetzt saßen sie hier. Und wir konnten ihnen keine Antwort geben.
Also, ich will sagen, wir wussten nichts. Wir mussten lange rumstochern. Diese ganzen Diskussionen um die Botschaften der DDR und die Stützpunkte der DDR sind ja dann vergrößert und vergröbert worden dadurch, dass die DDR eine Gesamtkontrolle über die Reichsbahn und das Flussgelände in Berlin hatte. Und sie war dann bereit, ihre Passierscheinstellen in den jeweiligen Bahnstationen, S-Bahn-Stationen, einzurichten [...]. Aber das ging natürlich auch nicht, denn das wäre genau dasselbe gewesen, nämlich ein Stützpunkt der DDR. Wir wussten also im Grunde genommen nichts, was wir machen konnten [...]. Wir stocherten, wie gesagt, im Dunkeln rum. Und das hat sich auch in den Monaten danach nicht groß aufgeklärt.
[...]
Wilke: Was mich jetzt in der Antwort von Ihnen, Herr Schütz, ein bisschen überrascht, ist, dass Sie auf die Berlin-Krise, die seit '58 die europäische Politik beherrschte, nicht eingegangen sind. Denn die Verhandlungen über eine Lösung des Berlin-Problems zwischen den Amerikanern und den Russen, und auch dem Westen, fanden ja in dieser ganzen Zeit immer wieder ansatzweise statt. Und im Vorfeld des Treffens Kennedy–Chruschtschow in Wien, was wir wohl als eine der Schaltstellen auf dem Weg zur Entscheidung identifiziert haben, gab es ein Memorandum des amerikanischen Botschafters Llewellyn Thompson in Moskau, der dem Kennedy klar sagte: Wir werden wohl den Ostdeutschen erlauben müssen, dass sie die Grenze zumachen. – Das ist im März '61. Also, wenn die Amerikaner ihre Präsenz hier verteidigen wollten, dann mussten sie auf den Status von Berlin als Vier-Mächte-Stadt zurückgreifen, sozusagen einen Deal mit den Russen machen: Ihr macht, was ihr in eurem Sektor machen wollt, und wir bleiben dafür in West-Berlin. – Das Ziel der Sowjetunion in dieser Berlin-Krise war, die Westmächte zum Abzug aus Berlin zu veranlassen und sie zu zwingen. Das war bis zum Wiener Gipfel Anfang Juni die Linie der sowjetischen Politik.
Asel: [...] Klaus Schütz hat vorhin gesagt: Wir waren überrascht über das, was da passiert ist am 13. August. Helga Schubert, als eine junge Studentin, die in einer Stadt lebt, in der [...] täglich Hunderttausende aus beruflichen Gründen, um zu studieren, um einzukaufen die Sektorengrenze überschritten haben in beide Richtungen. Wie überrascht waren Sie? Haben Sie da was kommen sehen? Hat man das sozusagen unter Freunden diskutiert: Das geht nicht mehr lange gut.
Schubert: Also, es ist ja eine Gefahr gewesen, in der wir gelebt haben. Wir wussten ja schon, dass es Strafrechtsbestimmungen gab, es gab ja schon Gefängnis. Das darf man auch nicht vergessen, dass sich diese Bestimmungen alle drei Jahre verschärften [...]: Erstmal, 1951, kriegte man drei Monate Gefängnis, wenn man seinen Pass nicht abgab, wenn man in den Westen fuhr. Dann, '54, kriegte man schon Gefängnis bis zu drei Jahren, wenn man ohne Genehmigung die DDR in Richtung Westen verließ, da gab es das Passgesetz der DDR schon. [...] Am 11. Dezember 1957 gab es ein Strafrechtsergänzungsgesetz, da kriegte man schon Zuchthausstrafe dafür. Später dann, nach dem Bau der Mauer, '68, gab es für den ungesetzlichen Grenzübertritt fünf Jahre. Das will ich nur in Klammern sagen. Wir wussten ja alle, dass es strafbewehrt war. Ich wusste das. Wir hatten eine Untermieterin, der habe ich noch geholfen, Sachen mit rüber zu bringen. Die Hälfte meiner Abiturklasse in Köpenick war in den Westen gegangen. Also, man wusste, dass ganz viele gingen. Und man wusste, dass in einer perfiden Weise auf den Westen geschimpft wurde von der Ostseite her. Und auch die Grenzgänger wurden schlechtgemacht. Leute wurden unter Druck gesetzt, wenn sie in West-Berlin studierten. Also, es ging immer weiter. Und das ist das Typische an der Diktatur, das habe ich damals auch empfunden, dass man erstmal sieht: Was lässt sich die Bevölkerung gefallen? Wo müssen wir jetzt mit Terror vorgehen? – Es ging ja immer in kleinen Schritten. [...]
Manfred Wilke auf dem Podium am 26. Januar 2011 in der Berliner Nikolaikirche. (© Gedenkstätte Berliner Mauer)
Manfred Wilke auf dem Podium am 26. Januar 2011 in der Berliner Nikolaikirche. (© Gedenkstätte Berliner Mauer)
Es war eigentlich klar, dass irgendwas passiert, passieren muss. Wir lebten ja in dieser offenen Stadt wie auch heute, bloß dass wir im Osten eine Währung hatten, die genau 1:6 überhaupt nur wert war. Es war eine Sache von kurzer Zeit, bis die DDR irgendwie zusammengebrochen wäre (was ja ganz schön gewesen wäre). Aber man wusste ganz genau: Die Sowjetunion steht dahinter. Die wird sie auf jeden Fall stützen, diese SED-Regierung. – Also, irgendwas musste passieren. Und uns war auch bewusst, dass wir in Berlin eine andere Situation hatten, als Berliner, auch als Ost-Berliner, gegenüber den Leuten in der DDR. Die sind ja überhaupt nur über das Schlüsselloch Berlin in den Westen gekommen, wenn sie fliehen wollten, die sind ja tatsächlich nur mit ihrem Ausweis gekommen und hatten ja kaum was bei sich, ihre Kinder noch, wenn sie fliehen wollten. Es war eine Zeit, in der man von allen Seiten immer hörte: Die sind jetzt weg, und die sind jetzt weg. – Also, irgendwas musste passieren. Die Intellektuellen flohen, die Ärzte flohen. Es war so ein bisschen wie ein Damoklesschwert. Und vor allen Dingen hat man sich selbst immerzu gefragt: Kannst du hier noch bleiben? – Es ist ja nicht nur, dass man die Gefahr sah, die einem drohte, und die Freunde, die alle weggingen, sondern man selber hat sich ja gesagt: Du musst doch blöde sein. – Es hieß ja: DDR – der doofe Rest. Der Letzte macht das Licht aus. – Diese Sachen sagte man damals auch schon.
Asel: 1960 verließen fast 200.000 Menschen die DDR und Ost-Berlin Richtung Westen, mindestens drei Viertel über Berlin. Seit 1949 hatten 2,7 Millionen Menschen das Land verlassen. Es waren vor allen Dingen sehr viele junge Menschen. Ab Mitte Juli und im August '61 waren es täglich zwischen tausend und zweieinhalbtausend registrierte Flüchtlinge. Ich sage "registriert", denn man kann an den Unterlagen sehen, dass nur von montags bis samstags Flüchtlinge registriert wurden. Ich würde gerne an das anschließen, was Sie, Helga Schubert, eben angesprochen haben, die spezifische Situation von Berlin. Die innerdeutsche Grenze war bereits seit 1952 wesentlich stärker befestigt. Wir schauen immer gerne auf die Zentren. Sie haben eben auch gesagt: Die Intellektuellen gehen weg. – Ich würde, weil Jens Schöne darüber sehr intensiv gearbeitet hat, mal den Blick auf das flache Land werfen und fragen: Wie ist das eigentlich in der Fläche gewesen? Ich habe am Anfang kurz Ihre Arbeit über die Kollektivierung der Landwirtschaft, diese zwei Phasen, angesprochen. Da ging es ja unter anderem auch darum, dass der Staat und die Partei auf dem flachen Land quasi einen Fuß in der Tür haben sollten. Für die SED war die erste Kampagne nicht so erfolgreich, weil nur knapp 50 Prozent der Bauern sich in die LPGs haben bringen lassen. Wie sehr ist die Situation auf dem Lande Teil dieser Krisenerfahrung, die Helga Schubert eben formuliert hat?
Schöne: Es ist ganz eindeutig so, dass seit 1958 ja nicht nur das Berlin-Ultimatum oder die sogenannte zweite Berlin-Krise läuft, sondern [...] auch die ökonomische Hauptaufgabe läuft seit 1958, seit dem V. Parteitag [der SED], die eben heißt: Bis 1961 müssen wir West-Deutschland im Pro-Kopf-Aufkommen an wichtigen Industriegütern und Nahrungsmitteln überholen. Und wir dürfen nicht vergessen: Wir bewegen uns ja immer noch, gerade in der DDR, in der Mangelgesellschaft. Die letzten Lebensmittelkarten sind zwar abgeschafft, offiziell seit 1958, aber es gibt Brotlisten, es gibt Butterlisten und und und [...]. Das Land spielte noch eine ganz andere, größere Rolle, als wir das heute im Blick haben. Und als die SED dann versucht, mit Nachdruck die Produktion anzukurbeln, da bleibt ihr aus ideologischen Gründen nur ein Weg, nämlich die Vollkollektivierung. Und als dann im Jahr 1960 der sogenannte "sozialistische Frühling" kommt, in dem alle Bauern in die LPG zum Eintritt gezwungen werden [...], sagt die Theorie: Jetzt wird alles besser. Jetzt wird alles aufwärts gehen. Jetzt werden die Produktionen steigen. Aber es passiert aus rein logisch nachvollziehbaren Gründen genau das Gegenteil: Die Produktion bricht ein. Und das ist dann natürlich sehr klar zu sehen in jedem einzelnen Geschäft, bis hin in Berlin, weil nämlich die Versorgung nicht mehr gesichert ist. Hinzu kommen viele andere Probleme. Viele der Bauern verlassen dann über Berlin [...] die DDR. Es ist plötzlich sehr viel Geld im Umlauf, weil die Bauern beispielsweise gar kein Geld mehr ausgeben für Futter, für Düngemittel und ähnliches. Dem steht aber wiederum kein Warenangebot gegenüber. Also, die Regale sind noch leerer sozusagen. Und insofern wird die Kollektivierung ein ganz wichtiger [...] Katalysator auf dem Weg zum Mauerbau. Das kann man gar nicht voneinander trennen, weil die Wirkungen, wie gesagt, in jedem einzelnen Ort spürbar sind. Noch hinzu kommt, dass es [...] ganz eindeutig sich zeigt, dass es der SED keineswegs gelungen ist, sich in der Bevölkerung zu verankern, sich dort eine Mehrheit zu verschaffen. Es gibt seit 1946 keine freien Wahlen mehr. Das hat ja auch seine Gründe, warum das so ist.
Und ich glaube, [...] dass wir [...] uns bemühen [müssen], einfach mal uns hineinzuversetzen in die Zeiten, nicht mit unserem jetzigen Wissen, sondern mit dem Wissen der Zeitgenossen. [...] Wir sitzen heute hier und sagen: Na, das war ja klar, dass da eine Mauer kommt, und dann wird da ummauert. Aber wenn Sie die Zeitgenossen fragen, stellt sich das anders da. Deswegen leuchtet mir auch völlig ein, dass Sie sagten, Herr Schütz: Wir wussten alle, irgendwas passiert. Aber wir konnten uns nicht vorstellen, was dann am Ende passiert. Und zu dem Zeitpunkt durch eine ja immer noch pulsierende Großstadt eine Mauer zu ziehen, und zwar einmal drum herum, das war für die Zeitgenossen nicht wirklich vorstellbar. Das wurde in verschiedenen Modellen zwar vorher schon mal durchgespielt. Ulbricht versuchte ja schon zu Stalins Lebzeiten, dafür eine Genehmigung zu bekommen, und drängte immer weiter. Aber [...] dieses Flirren fast der Luft vor Gerüchten: Was passiert? Was tut Ulbricht? Was tut Chruschtschow? Was machen die Russen?, das ist da. Aber das heißt ja noch lange nicht, dass die Leute dann dasaßen und dachten: Na gut, jetzt wird wohl die Mauer gebaut. Beispielsweise reisten, wie Sie, Frau Schubert, schon sagten, die Leute nach Berlin an. Es gab ja [...] auch den Ring um Berlin, wie das so schön hieß, also die Anreisenden wurden ja schon am Ring rund um Berlin kontrolliert. Auch das war ja eine Möglichkeit, die bis zum 13. August in der Bevölkerung diskutiert wurde, ob vielleicht dieser Ring dichtgemacht wird. Denn: durch die Stadt eine Mauer? Straßenbahn- und Buslinien fahren ja schon nicht mehr über die Sektorengrenze. Aber die U-Bahn und die S-Bahn [...], die fahren ja noch. Und es war nicht vorstellbar, wie man das jetzt halt einfach unterbrechen könnte. Insofern nur mein Plädoyer dafür: Denken wir darüber nach, wie damals die Realitäten tatsächlich gewesen sind.
Schubert: Ich wollte noch sagen: Wir Deutschen müssten jetzt endlich mal lernen aus der Geschichte, was Diktaturen können. Das ist sozusagen die zweite große Lehre gewesen, die man irgendwann mal annehmen muss: was eine Diktatur macht. Die macht die verrücktesten Sachen. [...] Man guckt erstmal so. Man macht die Grenzgänger schlecht, man hetzt auf die Imperialisten, man erzählt einen absoluten Mist in den Zeitungen (daran, dass das, was der RIAS sagte, genau das Gegenteil von dem war, was in den Zeitungen stand, sah man auch überhaupt erst, wie man desinformiert wurde), und schrittweise, schrittweise, dann wird eine Stacheldrahtrolle gemacht zwischen Ost- und West-Berlin und dann wird eben dieses kleine Mäuerchen erstmal gebaut, und dann unterhalten die sich darüber noch, und dann stehen sie mit der Leiter drüber und zum Schluss werden sie abgeknallt. Das macht eine Diktatur. Dass man sich endlich mal klarmacht, was man anrichten kann mit diesem Schlechtmachen der offenen Gesellschaft und diesem Lächerlichmachen der Wahlen und der langsamen Vorgänge in offenen Gesellschaften. Dass die Deutschen irgendwann mal diese Gefahr für ihr Leben erkennen, für ihre politische Kultur.
[...]
Schütz: Die Frage hinsichtlich des 13. August ist natürlich immer gewesen [...], ob die Berliner Führung möglicherweise ein Konzept gehabt hat. Ich glaube nicht, dass sie eins hatte. Es gab auch kein Konzept in Bonn. Ich frage mich auch rückblickend, ob es ein Konzept bei den Amerikanern gab. Ich habe immer den Eindruck gehabt, dass die Sowjets ein Konzept hatten.
Blick auf das Podium der Veranstaltung: Moderator Harald Asel im Gespräch mit Klaus Schütz und Manfred Wilke (v.r.).
Foto/©: Gedenkstätte Berliner Mauer. (© Gedenkstätte Berliner Mauer )
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Blick auf das Podium der Veranstaltung: Moderator Harald Asel im Gespräch mit Klaus Schütz und Manfred Wilke (v.r.).
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Wilke: Spät, aber sie hatten eins.
Schütz: Sie hatten eins. Sie sind auch schon mal rangegangen und haben immer gemerkt, sie konnten es nicht durchsetzen. Sie sind hergekommen und haben hier in Berlin, das wird ja immer vergessen, die deutschen Parteien gegründet, und zwar nicht nur für ihre Sowjetische Besatzungszone, sondern sie wollten sie für ganz Deutschland gründen, usw. Und die anderen hatten da kein Konzept. Und im Grunde genommen ist ja der Ärger, der hier am 13., 14., 15. August in der Stadt war, angefangen von der Führung bis nach unten, dass es eigentlich kein Konzept auf westlicher Seite gab. Sehen Sie, in dieser Situation hat der Regierende Bürgermeister von damals, also Willy Brandt, etwas getan, was meines Wissens nie wieder vergleichbar so geschah, er hat einen Brief an den amerikanischen Präsidenten geschrieben und hat ihm gesagt: Was ist eigentlich los bei euch? Wir sind hier eine Vier-Mächte-Stadt, ihr seid eine davon, und nichts passiert hier. Ihr lasst euch an der Nase rumführen wie mit einem Ring, wie irgendwelche Tiere rumgeführt werden.
[...] Und das ist eigentlich am 13. August auch noch deutlich geworden, dass all die Ereignisse, die davor waren [...], sich auch alle im Grunde genommen entwickelt haben, ohne dass es eine westliche Konzeption gab. Es gab so etwas wie eine Führungsposition in West-Berlin, immer. Das sehen Sie in jedem einzelnen Punkt. Aber Sie finden eben kein Konzept. Zum Beispiel: Brandt ist hingegangen in die Kommandantur, da waren ja die Sowjets nicht mehr drin als Kommandanten, die waren ja ausgezogen, aus irgendeinem Grunde [...].
Wilke: 1948.
Schütz: Aber da hing noch immer das letzte schöne Bild, große Bild des damaligen Kommandanten. Und da hat er gesagt: Jetzt komme ich hier hin, zu euch. Ihr lasst euch hier an der Nase rumführen in der Welt. Und ich sehe noch immer, dass der sowjetische Kommandant euch gütig in den Räumen, von den Wänden her anguckt. – Das ist ein bisschen die Grundstimmung gewesen, diese Grundstimmung, die dann einen fatalen Einfluss auf die Befugnisse und auf die Befindlichkeit der Berliner Bevölkerung hatte. Wir hatten keine gute Stimmung. Wir wussten, wogegen wir sind. Aber es war für uns nicht die gute Stimmung. Wir hatten auch niemanden, der uns das zeigen konnte. Die ist erst im Jahre 1963, zwei Jahre später, überwunden worden, und zwar durch zwei Ereignisse ganz besonderer Art. Das erste war der Besuch von John F. Kennedy, [...] einer der unvergessenen Besuche.
Schubert: Ich bin ein Berliner.
Schütz: Ja, mit diesem Satz. Aber dazu muss man auch die Schilderungen der amerikanischen Korrespondenten gesehen haben. Einige von den Hartgesottensten [...] sahen auf einmal Tausende weinende Berliner, die auf diesen Kennedy sahen. Man muss das vor dem Rathaus selber erlebt haben, was dort los war. Dies ist das Erste. Und das Zweite, das auch wichtig war, ist, dass es uns gelungen war, im Dezember des Jahres 1963 das erste Passierscheinabkommen zu schließen, das heißt, zu beweisen, dass die andere Seite, was immer sie vorhatte, auch mit uns bereit und in der Lage ist, ein Abkommen zu schließen. Das war [...] das erste Mal, dass eine wie immer geartete westdeutsche Institution mit einer DDR-Institution ein Abkommen unterschrieb. Und wir unterschrieben dieses Abkommen dann mit einer qualifizierenden Einschränkung, denn wir sagten (so etwas habe ich noch nie in einem Abkommen seitdem oder davor gesehen): Wir beide unterzeichnen dieses Abkommen, obwohl wir beide uns gegenseitig nicht anerkennen. – Das heißt, dieser ganze Weg musste erst gegangen sein. Und dazu gehört auch, dass die Führung in der Stadt in den Händen einer ziemlich geschlossenen Gruppe lag, ich meine auch parteimäßig, wir waren da drei Parteien, die schon wussten, dass sie zusammenstehen müssen, ob es passt oder nicht und ob es nett ist oder nicht. Da gab es den Schock des Mauerbaus und den Schock, dass andere nicht reagieren konnten, die aber unserer Meinung nach hätten reagieren müssen, die nämlich hätten rüberfahren können. [Lucius D.] Clay hatte so etwas Ähnliches vor, das hat man ihm dann verboten. Der wollte ja mit den Panzern hier beim Checkpoint Charlie rüber und wollte demonstrieren: Ich bin da. – Das hatte man ihm dann verboten. Diese Stimmung ist dann überwunden worden. [...] Nur: Dazu gehört natürlich das Grunderlebnis des Mauerbaus.
[...]
Asel: Manfred Wilke, wir haben vorhin die Frage ganz kurz angerissen: Hatte der Westen ein Konzept? Und wenn man sich John F. Kennedy anschaut – Klaus Schütz hat seine Wirkung im Jahr 1963, unter anderem mit der berühmten Rede vor dem Schöneberger Rathaus, erwähnt. [...] – 1961, habe ich den Eindruck, ist der Wechsel im Präsidentenamt auch eine Phase, in der zumindest die Sowjets denken: Aha, da sind die USA möglicherweise mit sich selbst beschäftigt. Da können wir agieren. – Und John F. Kennedy hat ja diverse Probleme, insbesondere in beiden Amerikas, zu händeln. Wie ist die Frage nach dem Konzept bei John F. Kennedy zu beantworten?
Wilke: 1961 passieren einige Dinge, die die Weltpolitik gründlich verändern. Der Vietnamkrieg beginnt und der Bruch der Russen mit den Chinesen, was in dem Kontext der allgemeinen Berlin-Diskussion in der Regel gar nicht erwähnt wird, was aber zentral ist für das sowjetische Verhalten in dieser Zeit, als es um den Mauerbau, und in der Zeit danach, ging. Denn das westliche Konzept war im Grundsatz das (das galt seit dem Ultimatum von Chruschtschow): Wir behaupten den Status quo. Die Russen wollen Veränderungen, nicht wir. – Wie das zu machen ist, war bei den Westmächten sehr unterschiedlich. Wen ich besonders loben möchte im Jahre 1961 ist Charles de Gaulle, der seinen Streit mit den Briten hatte, der aber dem Kennedy sagte, und auch den Briten: Wir haben in Berlin nichts zu verhandeln. Jede Verhandlung des Westens mit den Russen über Berlin schwächt unsere Position. – Während die Amerikaner dann auf die Idee kamen (das ist Kennedys Idee): Wir suchen einen Deal mit den Russen, und zwar wollen wir die Internationalisierung der Transitwege, die Ulbricht vor allem unter Kontrolle haben wollte. – Das lehnte Chruschtschow im Januar '61 intern schon ab, mit einem einzigen Wort: Unsinn. Wir wollen mit den Amis verhandeln, aber wir wollen kein Abkommen mit den Amerikanern. Wir brauchen West-Berlin als Druckhebel gegen die Westmächte. – Das ist explizit und ziemlich wörtlich Chruschtschow im Januar '62. Und die Mauer ist das Optimum dessen, was wir erreichen konnten. Das ist sozusagen in gewissem Sinne der Abschluss dieser ganzen dreijährigen Berlin-Krise. Der Westen war [...] in sich völlig gespalten. Wobei: Die Macht, die der Sowjetunion am meisten entgegenkommen wollte, waren die Engländer, die der Meinung waren: Na ja, Zypern wird jetzt unabhängig (einige Diplomaten haben das so formuliert), und die West-Berliner sind auch 2,5 Millionen, warum sollen die nicht eine unabhängige Stadt bilden. – Dass sie den Deutschland-Vertrag mit unterschrieben hatten, wo sie für die Einheit Deutschlands waren, das spielte damals überhaupt keine Rolle.
Ich will aber eigentlich noch eine Geschichte erzählen, die mir sehr am Herzen liegt, und die knüpft an an das, was Herr Schöne gesagt hat. Es gab nicht nur die Fluchtwellen. Es gab auch was anderes. Am 1. August 1961 verhandeln Chruschtschow und Ulbricht die Modalitäten, wie das in Berlin mit der Mauer – damals noch: dem Stacheldraht – durch die Stadt, werden sollte. Und da fragt der Chruschtschow den Ulbricht: Sag mal, die westlichen Informationen sagen mir, dass der Westen beruhigend auf die Situation einwirkt, weil sie fürchten, es kommt in der DDR zum Aufstand und dann kommen die russischen Panzer und walzen den nieder. Also, wir haben den 17. Juni plötzlich gegenwärtig. – Und der Ulbricht antwortet ihm: Ja. Einen Aufstand wird es nicht geben, den hat [Erich] Mielke unter Kontrolle. Aber es kann Unruhen geben, die uns sehr schaden. – Und dann erzählt er die Geschichte aus Hennigsdorf, aus dem Lokomotiv-Elektro-Werk, vom 1. Juni, wo ein Ingenieur einen offenen Brief an Ulbricht formuliert, in dem er in knapper From darauf hinweist: Rationierung. Es fehlen Lebensmittel, vom Brot angefangen bis zur Wurst. Und ob das der Lohn ist für zehn Jahre Aufbauarbeit der DDR-Wirtschaft. Und dann verlangt der Ingenieur drei Dinge. Erstens: Abstellung dieser unmöglichen Zustände. Zweitens: Aufklärung, wer daran schuld ist. Und drittens: Ablösung aller Funktionäre, die dafür verantwortlich waren. Und dann tut er etwas, was an den 17. Juni, an den Anfang in Berlin erinnert: Er geht im Betrieb rum, sammelt Unterschriften. Der Parteisekretär sammelt die Unterschriften und den Brief ein und zerreißt ihn, wozu die Stasi anmerkt, dass damit die Feststellung der Leute, die das unterschrieben haben, nicht möglich war. Der Ingenieur geht nach dem Westen und der RIAS wird am 21. Juni diesen Brief verbreiten. – Und diesen Vorgang in Hennigsdorf erzählt der Ulbricht als Beleg dem Chruschtschow, wobei er ein bisschen lügt, denn er sagt dem Chruschtschow, dass der Unterschriften gesammelt hat gegen einen Friedensvertrag. Er hat wohl verschwiegen, dass es im Grunde ein Hungerprotest war, ein Versorgungsprotest, Unzufriedenheit, die nach innen ging. – Nach dem Gespräch werden in Henningsdorf sechs Leute verhaftet, von denen das Potsdamer Bezirksgericht fünf für neuneinhalb Jahre und fünf Jahre ins Zuchthaus steckt. Und das ist nochmal das, woran Frau Schubert dankenswerterweise erinnert hat: Wir sollten nicht die Strafgesetzgebung der DDR gegen die sogenannte Republikflucht und gegen Leute, die dagegen etwas gemacht haben, vergessen. Also, auch dieses gehört mit in das Bild der Zeit vor der Entscheidung, die Chruschtschow erst am 20. Juli trifft, in Berlin die Grenze zu schließen.
Schöne: Da würde ich gern gleich anknüpfen und auch eine Geschichte erzählen zu dem Punkt, weil ich da einige Dinge dann doch [...] ein bisschen innenpolitischer betrachte. Am 16. August 1961 fällt in Berlin der Strom aus, und zwar ist das im gesamten Stadtgebiet zu verzeichnen. Das Ministerium für Staatssicherheit macht hinterher natürlich eine große Untersuchung, weil zunächst angenommen wird: Sabotage und ähnliches. Es stellt sich heraus: Im Umspannwerk Ragow, wo auch immer das sein mag, explodiert ein Schalter. Und dann folgt eine Kettenreaktion. [...] Was das Ministerium für Staatssicherheit [...] feststellt in diesem Zusammenhang, ist, dass in dem Moment, wo der Strom ausfällt, wo das Licht ausgeht in den Betrieben, flächendeckend zwei Vermutungen sofort von den Arbeitern vorgetragen werden. Die erste Vermutung ist: Jetzt kommt der Krieg. Das ist sozusagen die Negativvermutung. Die zweite ist, und, wie gesagt, flächendeckend: Jetzt beginnt der Generalstreik, jetzt kommt der Volksaufstand. Also diese Idee, die Verwerfungen, diese innenpolitischen Verwerfungen, sind ganz extrem zu diesem Zeitpunkt. Und ich glaube, worauf wir [...] noch mehr achten müssen, ist wirklich die Bevölkerung. Das war die große Unbekannte. Ich stimme Ihnen zu, Herr Wilke: Das war vorher zwischen Chruschtschow, Kennedy alles ausverhandelt, also denen war klar, dass mit dem 13. August kein Krieg beginnen würde. Aber die große Unbekannte war die Bevölkerung. "Der Spiegel" etwa [...] schreibt in seiner letzten Ausgabe vor dem 13. August [...] eine große Abhandlung über die Frage, die wir hier ja auch schon besprochen haben: Warum tut der Osten nichts? Warum macht der Osten nicht Berlin dicht? Und er sagt dann auch: Das würde er nur um den Preis eines Volksaufstandes machen können. Also, insofern will ich nur nochmal darauf hinweisen: Der eine Aspekt sind die großen internationalen Beziehungen, Verhandlungen, Geheimgespräche, und was da alles läuft. Aber wir dürfen nicht aus dem Blick verlieren, [...] dass eben innerhalb der DDR so viele und so massive Probleme vorhanden sind. Wir hörten ja schon: Ich glaube, am 12. August ist die höchste Zahl, in Marienfelde kommen zweieinhalbtausend Flüchtlinge innerhalb eines Tages an, zweieinhalbtausend Flüchtlinge. Das konnte das Land nicht länger aushalten. Und deswegen hat Ulbricht massiv versucht, eben bei Chruschtschow, mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, zu intervenieren und ihn sozusagen etwas vor sich her zu treiben.
Asel: Die Bevölkerung – die große Unbekannte. Helga Schubert.
Schubert: Ja. Ich wollte was sagen zu den Konzepten, den fehlenden Konzepten der Westmächte und auch der Bundesregierung, als die Mauer gebaut wurde. Es erinnert mich daran, an dieses immer etwas Spöttische: Die Bundesregierung hatte keine Konzepte, als die Mauer fiel. Ich möchte einfach sagen: Das ist für mich auch etwas Tröstliches. Dieses Paranoide der Diktaturen hat die offene Gesellschaft nicht, also immer damit zu rechnen: Was führt der andere im Schilde? Die offene Gesellschaft, oder: die offenen Gesellschaften des Westens halten sich immer an Verträge und haben ihre langen parlamentarischen bürokratischen Wege. Und das ist für mich etwas sehr Tröstliches, dass die nicht Konzepte hatten, sondern die haben es einfach nicht für möglich gehalten. Und das ist immer so. [...] Also, es ist so, dass die aber letztendlich immer siegen, die offenen Gesellschaften, weil sich Diktaturen auf die Dauer nicht halten. Und wenn es auch ein bisschen dauert, wie zum Beispiel jetzt mit der DDR. Letztendlich, wenn die Bevölkerung ein bisschen weniger Angst hat und auch diese Diktaturen per se schwächer werden, weil sie eben einfach in ihrer Produktivität und auch in der Fesselung aller kreativen Kräfte erdrückend wirken, müssen sie untergehen. Bloß man muss immer ein bisschen warten. Wenn man ein ganzes Leben darin lebt, jahrzehntelang, dann kann man auch mal den Mut verlieren. Aber es ist so, dass man letztendlich darauf vertrauen kann, dass sich die offene Gesellschaft durchsetzt. Und wenn die Bevölkerung nur ein bisschen ermutigt wird – in Pressefreiheit oder irgendeiner Weise, wenn sich ein Richter mal traut oder so –, wenn Ansätze der Gewaltenteilung am Horizont erscheinen, dann bricht diese Diktatur zusammen. Und so ist es gar nicht so schlimm, dass die offenen Gesellschaften keine Konzepte haben für die Verbrechen der Diktaturen. Letztendlich werden sie siegen. Sie dürfen einfach nicht die Gefahr unterschätzen.
Asel: Kein Konzept zu haben, ist etwas Tröstliches, hat Helga Schubert eben gesagt. Für einen Politiker, von dem man dann aber auch erwartet, dass er jetzt handelt, wie man von Willy Brandt das ja auch erwartet hat, ist es nicht unbedingt etwas Tröstliches. Er hat etwas Ungewöhnliches damals gemacht. Er hat eine große Kundgebung angeführt (wenn ich richtig informiert bin: am 16. August), von der niemand genau wusste, ob die dann vielleicht alle gemeinsam zur Mauer gehen und das zu internationalen Konflikten führt. Wie viel Risiko war er bereit einzugehen, um sozusagen auch als Politiker an der Seite der Berliner zu stehen?
Schütz: Die Frage, die wir hier diskutieren, hat mich ein Leben lang beschäftigt. – Dazu muss man sich auch noch einmal zurückerinnern an die Grundstimmung, die es beispielsweise in Washington gegeben hat. Es ist mir auch von außergewöhnlich wichtigen Persönlichkeiten versichert worden, dass um den 13. August die große Angst war, dass die Bevölkerung der DDR nicht einfach weiter so vegetieren wollte, sondern aufstehen würde. Es war eine Angst da, dass etwas Unkontrolliertes kommen würde aus dem sowjetischen Machtbereich und dies alles durcheinanderbringen würde. Und das habe ich auch immer schon verstanden. Der ganze Vorgang ist ja doch faszinierend. West-Berlin damals [...] war ja hier der Hort aller Geheimdienste der Welt. Hier waren westliche und östliche, und alle liefen herum, selbst im Rathaus vermutlich. Zum Beispiel waren bei den Verhandlungen über Passierscheine die Unterhändler bei mir am Vorabend einer Verhandlungsrunde, und als Sie zur Verhandlung kamen, hatten Sie den Eindruck, die wissen schon Bescheid, was da bei dem Schütz beschlossen worden ist. Ich glaube, das ist übertrieben. Aber ich will nur sagen: Hier war der Hort aller Nachrichtendienste. Hier sind auch alle möglichen Leute dann aufgeflogen. [...] Und in dieser ganzen Stimmung, Grundstimmung, als man nicht wusste, war natürlich auch die Frage: Was ist mit der Umgebung los? Was kommt von da her? – Und das führte eben dazu, dass wir in Berlin wollten, dass der Kennedy, wenn es irgendwie geht, nach Berlin kommt, weil wir hier von ihm, sagen wir mal: zusätzlich zu dem kräftigen Standpunkt auch etwas hören wollten, wie es weitergeht. Wie verhandelt man weiter? Er hatte Bemerkungen in den ersten Monaten nach seiner Amtsübernahme gemacht, dass er zu Verhandlungen bereit ist. Aber nichts hat man dabei gesehen. Und dann kam hier etwas, was uns alle verwirrt hat [...]: Er hielt die tollste Anti-Sowjet-Rede, die in West-Berlin je gehalten wurde, vor dem Rathaus Schöneberg. Nach der Kundgebung vor dem Rathaus wurde Mittag gegessen im Schöneberger Rathaus. Und da gingen einige von uns hin, auch ich, zu ein, zwei Beratern, die wir kannten, und haben gesagt: Ich wollte euch nur sagen, wir hatten eigentlich hier einen Kennedy erwartet, der uns etwas sagt, was darüber hinaus führt, was uns zu Verhandlungen oder Ähnlichem führt. – Und da haben die zugehört und mit dem Kopf genickt und sind zu ihm gegangen [...] und haben gesagt: Das war doch ein starkes Stück, was du da veranstaltet hast. Sieh mal zu. – Und dann fuhr er zur Freien Universität [...] und hielt dort die große Verhandlungsrede. Das heißt, er kam vor das Rathaus und sagte so ungefähr: Ihr könnt euch auf uns verlassen. Hier wird für Ordnung gesorgt. – Wenn er auch nicht darauf hingewiesen hat, warum er am 13. August 1961 noch nicht für Ordnung gesorgt hat. Aber er fuhr dann nach Dahlem zur Freien Universität und hat dort denen seine Verhandlungsseite gezeigt. Sie müssen wissen, das ist ja auch die Lehre vom 13. August, dass am 13. August (Egon Bahr hat das mal so gesagt) der Vorhang weggerissen wurde, da haben wir wirklich die Situation gesehen, wie sie tatsächlich ist. Das heißt, der 13. August hat uns im Grunde genommen gezeigt, dass da keine Konzepte waren und wir selber ran mussten. Von da an haben wir darüber lange geredet und lange nachgedacht, wie wir weiterkommen können. Und da war uns der Kennedy-Besuch mit seiner starken Haltung, aber gleichzeitig mit seiner Bereitschaft zur Verhandlungsposition von großer Bedeutung.
Asel: Das ist immer das Problem in der medialen Erinnerung, dass diese sieben Stunden des Besuches von Kennedy auf zehn Sekunden verkürzt werden, sowohl im Fernsehen als auch im Radio. [...]
Wilke: Diese Kundgebung am 16. August halte ich für eine, die man vergleichen muss mit der von Ernst Reuter im September '48 vor dem Reichstag. Willy Brandt hat die Wut, die Verzweiflung, ja die Ratlosigkeit der West-Berliner umgeformt in ein Konzept, dass wir nicht aufhören, an dem Ziel der deutschen Einheit festzuhalten. Er hat gesagt – und das ist die nationale Komponente in dieser Veranstaltung: Die in Ost-Berlin und in der DDR fragen uns jetzt, ob wir sie vergessen, ob wir sie abschreiben, ob wir sie verraten. – Dann hat er gesagt: Niemals. Niemals. – Das war natürlich damals in der Situation ein Trotz-alledem. Trotz alledem, wir werden hier nicht aufgeben und nicht weichen. Und diese Dimension dieser Kundgebung in West-Berlin war auch notwendig, um der amerikanischen Administration zu zeigen: Wenn ihr hier nicht in Berlin die Glaubwürdigkeit des Schutzes der Vereinigten Staaten im Bezug auf Bündnistreue und Garantien verlieren wollt, dann müsst ihr was tun. – Und nach dieser Kundgebung kam dann [Lyndon B.] Johnson, kamen die sechzehnhundert Mann über die Autobahn. Aber trotzdem (um das Bild von Ihnen, Herr Schütz, nochmal aufzugreifen): Der 13. August hat tatsächlich die Schleier weggerissen, nämlich die Hoffnung einer ganzen Generation, dass die vier Mächte doch noch eine Einigung zustande bringen zur Wiedervereinigung Deutschlands. Das war zwar objektiv seit spätestens '55 vorbei. Aber gleichzeitig muss man auch noch eins sagen: Die sowjetischen Ziele, West-Berlin umzuwandeln in eine freie Stadt, mit einer Rutschbahn Richtung Anschluss an Ost-Berlin, also die Wiedervereinigung, die waren auch geplatzt. Und es war sozusagen der gemeinsame Rückzug auf den Status quo. Es war das Ende der Infragestellung der territorialen Einflusssphären in Deutschland. Und danach begann das, wovon Herr Schütz schon gesprochen hat: die Entspannung, die Verhandlungen. Denn es war klar [...]: Das war damals eine Geschichte, wo beide Mächte über Atombomben verfügten. Und es war eine Situation, wo Europa am Rande des Atomkrieges stand. Und die beiden Mächte haben ihn auch durchgespielt.
Asel: Und es standen die Kampfpanzer am Checkpoint Charlie an der weißen Linie.
Wilke: Was zum Beispiel völlig außer Acht gelassen wird in der Regel bei der Diskussion um die Berlin-Krise: Die Sowjetunion hat ein Drittel ihrer Landstreitkräfte außerhalb ihres eigenen Landes, 548.000 Soldaten, in der DDR waren es 380.000 und die anderen waren in [...] Polen und in Ungarn, und die sowjetischen Jagdbomber in der DDR wurden mit Atomraketen ausgerüstet. Das war die Lage. Und diese militärische Zusammenballung war der Hintergrund. Dies war nicht gedacht für den Mauerbau, sondern als die sowjetischen Generale das planten, war das geplant für die Durchsetzung des Friedensvertrages, den Chruschtschow und Kennedy wollten. Aber diese Frage des Atomkrieges war das, was Kennedy und Chruschtschow gemeinsam umtrieb. Und beide waren der Überzeugung: Einen Krieg um Berlin darf es nicht geben. – Es wäre sowieso unter Untergang gewesen.
Schubert: Ich wollte noch was sagen zu der Rolle der Medien in dieser Zeit. Wenn man jetzt sagt: Was hat Kennedy zur Stärkung der West-Berliner gemacht, zu den Garantien für West-Berlin?, so ist das für West-Berlin gut gewesen. Aber wir haben ja diese ganzen Reden auch gehört. Und es ist den Sendern zu verdanken gewesen, die wir ja hier sehen konnten. Die DDR-Führung hat natürlich versucht, Störsender einzusetzen in vielen anderen Städten. Aber in Berlin konnte man ja diese Störsender nicht so stark agieren lassen. Also, man konnte RIAS hören, man konnte Sender Freies Berlin hören, man konnte die Übertragung hören. Und nicht nur, dass man über die politische Situation genau aufgeklärt war, auch die Kommentatoren des Westens hörte (Egon Bahr war damals immer Kommentator), sondern – so ist es mir gegangen – ich habe dadurch auch eine ganz andere Diskussionskultur kennengelernt, wie man einfach den Anderen ausreden lässt, wie man, auch wenn der Andere eine andere Meinung hat, sie trotzdem stehen lassen kann. Das war ein Fernkurs in Demokratie, den wir durch die westlichen Medien hatten. Und dadurch konnte man das, was der Ostsender sagte oder was in den Zeitungen stand, noch stärker analysieren. Man war eigentlich geschützt. Man war gegen dieses aggressive Pathos geschützt. Man war gegen diese Einseitigkeit geschützt. Und [...] man ist eigentlich eingeführt worden in die Ambivalenz in der Diskussion, die in einer offenen Gesellschaft herrscht. Also, wir hatten einen Fernkurs. Und da möchte ich mich nachträglich nochmal bei diesen Medienleuten bedanken, weil das immer ein Schutz war, auch während der DDR, und es war auch ein Schutz dann in der Zeit der Wende.
Asel: Aber dass es eben ein Fernkurs war, ist ja eben auch das, was zum Beispiel bei Ihnen dann auch Literatur geworden ist, wenn man an das "Verbotene Zimmer" denkt. Man sollte sich erinnern, und auch Nachgeborene müssen sich das klar machen: Es gab Stadtpläne, wo West-Berlin einfach nur ein weißer Fleck war. Es existierte nicht und es existierte doch. Und dazwischen gibt es dann, und da frage ich auch die Psychologin Helga Schubert, da gibt es dann auch Strategien des Überlebens. Es gibt eine andere Geschichte von Ihnen, wo Sie sinngemäß sagen: Ja, was soll ich denn reisen. Das brauche ich gar nicht. Ich kann mir das von Experten ja erzählen lassen.
Schubert: Das ist ironisch gemeint.
Asel: Das ist ironisch gemeint. Aber es gibt auch da so eine schiefe Ebene, dass sich Leute arrangieren, möglicherweise, mit dieser Situation.
Schubert: Na, durch schwarzen Humor. Was will man machen? Also, man kann ja entweder resignieren oder man kann in dieser Gesellschaft vertrauenswürdige Menschen finden [...], die man damals auch hatte, denen man vertraute und mit denen man zusammen einfach Witze machen konnte, man konnte diesen Humor haben des David gegen den Goliath, und man konnte sich gegenseitig einfach bestätigen in der Meinung, dass das jetzt absurd ist. Das finde ich unheimlich wichtig, dieses Vertrauen und den Humor zu behalten und irgendwie so das alles vom Ende her zu sehen. Aber das ist furchtbar schwer. [...]
Asel: Ich würde – weil wir vorhin schon so deutlich gemacht haben, wir müssen auch immer in die Fläche schauen – gerne Jens Schöne fragen. Wir haben gehört, es gab so eine Situation, in der Rebellion, Aufstand befürchtet wurde, was auch immer, also ein sehr großer Unmut. Brach das dann einfach weg nach dem Mauerbau? Oder grummelte das weiter? Wie äußerte es sich dann möglicherweise anders, nachdem zumindest die Option für viele, nämlich: wenn ich es gar nicht mehr aushalte, gehe ich weg, nicht mehr gegeben war?
Schöne: Wie wir alle wissen, blieb der Volksaufstand aus. Was passierte? Ich glaube, wir müssen uns angewöhnen, da noch sehr viel differenzierter zu analysieren, als wir das bis jetzt getan haben. Es gibt diese Prozesse der Anpassung [...]. Um nochmal ein Beispiel aus den Archivunterlagen zu bringen. Beispielsweise stellte man im Bezirk Leipzig schon 14 Tage nach dem Mauerbau fest, dass man eingreifen muss, weil die Bevölkerung [...] darüber nachdenkt: Wie kommen wir denn jetzt hier noch raus? Wir wollen hier weg. Einen Volksaufstand gibt es offensichtlich nicht. Die sowjetischen Truppen zeigen ja massiv Präsenz. Und Ähnliches. Also überlegt man im Kreis Leipzig (wie es dann in den Unterlagen immer so heißt: in breiten Kreisen der Bevölkerung): Was machen wir jetzt eigentlich? Und [...] mich hat es fast umgehauen, als ich das las – die Bevölkerung im Bezirk Leipzig kommt nämlich auf die Idee: Wir buchen uns Reisen beim staatlichen Reisebüro, fahren in die sozialistischen Bruderländer und besetzen da die Botschaften. Und da haben wir das Bild, das wir dann 1989 sehen. Also, das ist keine Idee, die erst 1989 entstand. Besetzen ist [...] vielleicht ein bisschen zugespitzt formuliert, aber: Wir gehen dort in die Botschaften und von dort aus kommen wir dann in die Bundesrepublik. Da sieht man sozusagen eine Anpassungsstrategie. Aber wir haben wirklich – und ich glaube, Herr Schütz, deswegen musste das auch zwei Jahre in etwa dauern, bis man wieder zu Regelungen kam – eine Phase der absoluten Ungewissheit. Auch dessen müssen wir uns ja heutzutage als Nachgeborene klarwerden. Viele Leute sind davon überzeugt: Der Mauerbau, was hier jetzt passiert, ist eine Maßnahme, das kann man auf Dauer gar nicht durchhalten. Die Supermächte müssen sich dann irgendwie einigen und dann wird das relativ schnell wieder verschwinden. Das ist auch eine Überlegung, die da eine Rolle spielt. Es ist auffällig, dass in vielen Berichten, die man liest, immer wieder davon die Rede ist: Na ja, die Jungen, die rebellieren jetzt hier so ein bisschen. Aber die alten, oder die älteren Mitbürger ziehen sich geschickt zurück, auch aus den Diskussionen, wenn die Agitatoren losgehen und versuchen, mit denen zu reden und sie zu überzeugen. Die entziehen sich sozusagen erstmal. Also, die Strategien, die hier zum Tragen kommen, sind sehr vielfältig. Aber wir stehen, glaube ich, noch am Anfang einer ausführlichen Beschäftigung mit diesen Fragen, weil da natürlich sehr viele unterschiedliche Punkte zu beachten sind.
Wilke: Ich will nur eins ergänzen. Gerade diese Gerüchte hatten eine amtliche Basis. Denn in der Erklärung der Warschauer-Pakt-Staaten, mit der die Grenzschließung am 6. August legitimiert wird, steht drin, dass dann, wenn der Friedensvertrag abgeschlossen wird, den Chruschtschow immer noch forderte, diese Maßnahmen wieder aufgehoben werden. Das heißt also, das war sozusagen in so einer Grauzone, dass das eine Übergangsmaßnahme ist, aber, ihr habt ja noch die Hoffnung, wenn wir den Friedensvertrag kriegen. Nur – der kam nicht.
Schubert: [...] Es sind eben 3,8 Millionen Menschen weggegangen. Und was sind das für Leute gewesen. Sie haben gesagt, das sind überwiegend junge gewesen. Aber es sind natürlich mutige Leute gewesen [...]: Ich schaffe das. (Die haben sich selbst vertraut.) Ich habe jetzt nicht viel bei mir, außer meinem Personalausweis, Geburtsurkunde vielleicht noch. Und dann fange ich ganz neu an. Ich vertraue mir. – Und das sind die, die weg waren, die waren alle weg. Wenn ich an meine Klasse denke: Die Allerbeste der Klasse ist Professorin dann nachher in West-Berlin geworden [...]. Also, das sind aktive, ganz aktive Leute. Und wir, die wir immer so ein bisschen gedacht haben: Na ja, jetzt kann man die Mutter nicht allein lassen. Oder: Was willst du jetzt mit einem kleinen Kind, was noch nicht laufen kann? Oder die, die an irgendeiner Landschaft hingen im Osten, oder an ihren vielen Büchern. Das waren die so ein bisschen Bedächtigen. Das sind andere Leute gewesen, die weggegangen sind. Und die haben uns ja unglaublich gefehlt. Die sind ja dann erst wieder geboren worden. Das sind ja die, die dann '89 auf die Straße gingen.
Asel: Sie haben im Osten gefehlt. Und sie haben einen großen Teil der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland dann doch, Klaus Schütz, auch mitgestaltet, mit dieser Dynamik, die sie brachten.
Schütz: Ja, natürlich. – Ich meine, das eigentlich Außergewöhnliche, was wir erlebt haben, war natürlich diese Vereinigung des Landes. Aber ich halte es fast für noch außergewöhnlicher, wie reibungslos der Vorgang gelaufen ist und wie stark wir dadurch geworden sind. Ich habe nachträglich sogar Verständnis für [Margaret] Thatcher und andere, die sich damals Gedanken gemacht haben, wenn sie die Deutschen da zusammengehen lassen, dann werden die zu stark. Und die haben Recht – Gott sei Dank, ohne dass wir überschnappen, und da müssen wir schon aufpassen, dass wir das nicht tun. Aber die haben Recht. Im Grunde genommen war diese Vereinigung fast unmöglich. Erinnern Sie sich, diese ganzen Finanzprobleme, [...] was alles damit zusammenhängt. Und das lief im Grunde genommen so zusammen, dass man nur froh sein kann, was da zustande gekommen ist. Ich jedenfalls bin froh darüber.
Schubert: Na, wir sind Fernstudenten gewesen, 40 Jahre Fernstudenten.
[...]