I.
Mit dem Bau der Berliner Mauer konnte in Berlin die staatsgefährdende Fluchtbewegung von Ost nach West zwar massiv eingedämmt, aber entgegen den Hoffnungen der DDR-Machthaber nicht vollständig gestoppt werden. Vom 13. August 1961 bis Ende 1964 registrierte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) insgesamt 21.488 Personen, die aus der DDR geflohen waren. Weitere 16.299 Fluchtversuche seien gescheitert.
Allerdings waren durch die Schließung der innerstädtischen Grenze und den anderen Zugängen zu West-Berlin die Bedingungen radikal geändert, unter denen das MfS den fortdauernden Menschenverlust des SED-Regimes zu verhindern suchte. Insbesondere die innerstädtische Grenze stellte eine vollkommen neuartige Herausforderung dar. Die Mauer konnte den Willen zur Flucht vorerst nicht eindämmen, ja sie steigerte eher noch die Verzweiflung, aus der heraus manche Versuche, sie zu überwinden, unternommen wurden. Die Energie jener, die das Land verlassen wollten, und die intime Ortskenntnis der Anwohner warfen Probleme auf, denen vorerst nur durch die unmittelbare Brutalisierung des Grenzregimes entgegengewirkt werden konnte. Mehr als die Hälfte der im Zeitraum von 1961–1989 mindestens 136 Todesopfer kam in den ersten fünf Jahren nach dem Mauerbau an der Grenze zu West-Berlin ums Leben, davon allein 34 Menschen bis Ende 1962.
Je gefährlicher die Versuche, die Grenze in direktem Anlauf zu passieren, wurden, desto einfallsreicher und logistisch aufwändiger wurden die gesuchten und gefundenen Alternativen. Die ersten Monate und Jahre nach dem 13. August 1961 stellten sich so gewissermaßen als ein wechselseitiger Lernprozess dar, bei dem die von Freiheitssehnsucht getriebenen Flüchtlinge die Schwachstellen der Absperrung suchten und mit teilweise großem Erfolg nutzten, bis diese vom MfS ausgemacht und beseitigt wurden. Große Unterstützung erhielten sie dabei von Helfern aus dem Westen der Stadt: eine Hilfe, die das MfS als "Menschenhandel" definierte, der von "imperialistischen Geheimdiensten" und "gegnerischen Verbrecherorganisationen" zum Schaden der DDR organisiert worden sei.
II.
Oberst Ernst Wichert, Leiter der Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin. (© MfS; Quelle: BStU)
Oberst Ernst Wichert, Leiter der Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin. (© MfS; Quelle: BStU)
Bereits vor dem Mauerbau waren mit der Anweisung Nr. 1/60 und dem Befehl Nr. 301/61
Während der als "Aktion Rose" bezeichnete unmittelbare Einsatz des MfS im Zusammenhang mit der Abriegelung West-Berlins bereits ansatzweise untersucht wurde, bestehen vor allem für die folgenden Jahre große Forschungslücken zur Rolle des MfS bei der Überwachung des Grenzregimes.
Dokument 1
Der Leiter der Arbeitsgruppe, Oberstleutnant Willy Hüttner. (© MfS; Quelle: BStU)
Der Leiter der Arbeitsgruppe, Oberstleutnant Willy Hüttner. (© MfS; Quelle: BStU)
Mit
Dokument 2
Oberleutnant Werner Sieler gehörte zu den Mitgliedern der Arbeitsgruppe unter Hüttner. (© MfS; Quelle: BStU)
Oberleutnant Werner Sieler gehörte zu den Mitgliedern der Arbeitsgruppe unter Hüttner. (© MfS; Quelle: BStU)
Detailliert gibt eine nur fünf Tage später von Wichert bestätigte gleichnamige
möglichkeiten des Gegners" unter Ausnutzung des legalen Grenzverkehrs einerseits und der Fluchthilfe auf vorzugsweise unterirdischen Wegen andererseits.
Im ersten Fall konzentrierten sich die Maßnahmen auf alle in Ost-Berlin wohnenden oder dort beruflich tätigen westlichen Staatsangehörigen bzw. West-Berliner. Diese seien "gründlich aufzuklären" und in einem registrierungspflichtigen Objektvorgang sowie zusätzlich in einer alphabetisch geordneten Kartei zu erfassen. "Negativ einliegende Personen", aber auch "positiv eingestellte Personen, ... die operative Kontakte ermöglichen" – also für die Werbung als Inoffizielle Mitarbeiter des MfS geeignet erschienen – seien kenntlich zu machen. In diesem Zusammenhang nahm das MfS in enger Zusammenarbeit mit den zuständigen staatlichen Stellen auch Einfluss auf die Erstellung von Betriebsausweisen und von Berechtigungsscheinen für den grenzüberschreitenden Verkehr. Mit dem Ziel, frühzeitig eventuelle Fluchtvorhaben und neue Fluchtmethoden zu erkennen, mussten Hinweise und Anzeichen darauf erfasst, operativ bearbeitet und der Arbeitsgruppe gemeldet werden, um schließlich "in Koordination mit der Volkspolizei und der Grenzbrigade B [Berlin] die Fluchtmöglichkeiten zu liquidieren".
Auch für den zweiten Aufgabenkomplex sollte – offensichtlich von der Arbeitsgruppe – ein nach Grenzabschnitten gegliederter Objektvorgang angelegt werden. Er diente vor allem analytischen Zwecken, um Orte, an denen gehäuft Fluchtversuche stattfanden (sogenannte "Schwerpunktbereiche" oder auch "gefährdete Stellen" genannt) und vermutlich als Fluchthelfer "bekanntgewordene Personen" zu identifizieren. Dazu waren von der Arbeitsgruppe nach den Grenzabschnitten gegliederte grafische Übersichten und Karten zu erstellen, in denen die Schwerpunktbereiche, aber auch alle grenzüberschreitenden bzw. grenznahen unterirdischen Anlagen (inklusive aller Fluchttunnel, Kanalisation, Luftschutzbunker etc.), Fabrikanlagen und Schifffahrtswege verzeichnet werden sollten.
Weiterhin war geplant, das gesamte Fluchtgeschehen (inklusive vermuteter Fluchtvorhaben), alle in der Nähe beidseits der Grenze wohnenden oder beschäftigten Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) und die von den Diensteinheiten zu meldenden operativen Erkenntnisse über Schwerpunktbereiche "systematisch" zu erfassen. Ob die Erfassungen in den Diensteinheiten oder gegebenenfalls zusätzlich von der Arbeitsgruppe vorzunehmen waren, bleibt ebenso unklar wie die Frage, ob und wie diese Informationsfülle im Objektvorgang Eingang fand. Eindeutig hingegen sind im Dokument die Zielrichtungen der vorgesehenen Auswertungen benannt. Im Interesse der "Stabilisierung der Staatsgrenze" sollten an die zuständigen operativen Diensteinheiten "Hinweise über die Lücken im Sicherungssystem" zurückfließen.
Die Aufgaben der Arbeitsgruppe blieben nicht auf diesen analytischen Informationsrückfluss beschränkt, denn der Leiter der Verwaltung Groß-Berlin übertrug ihr auch uneingeschränkte Kontrollrechte sowie Koordinierungs- und faktische Weisungsbefugnisse gegenüber den operativen Diensteinheiten,
Weil die Fluchtbewegung vom MfS aus ideologischen Gründen hauptsächlich auf westliche "Feindtätigkeiten" zurückgeführt wurde, enthalten die MfS-Arbeitsanweisungen umfangreiche Aufklärungsaufgaben auf dem Gebiet West-Berlins. Die Grenzaufklärung war bereits im Dezember 1961 durch die Übernahme aller beim Kommando der Grenztruppen der Nationalen Volksarmee vorhandenen Planstellen der dortigen Abteilung Aufklärung vollständig in die Hauptabteilung I des MfS integriert worden.
Zuletzt wird in der Richtlinie auf eine Weisung des Ministers für Staatssicherheit Mielke verwiesen, wonach mit einem von ihm eingesetzten Verbindungsoffizier, dessen Name in der überlieferten und hier veröffentlichten Fassung des Dokuments indes nicht nachgetragen wurde, engste Zusammenarbeit zu gewährleisten sei. Über deren Art ist der Richtlinie nichts zu entnehmen.
In beiden Dokumenten kommt die Bedeutung der Grenzsicherung als Chefsache sowie der allumfassende Informations- und Kontrollanspruch der Arbeitsgruppe Staatsgrenze zum Ausdruck. Im Gegensatz dazu sind das Tätigkeitsfeld und das in der Richtlinie beschriebene aufwendige Konzept der "systematischen Erfassungen", Koordinierungen und Analysen wenig transparent. Kontraproduktive Effekte infolge von Doppelzuständigkeiten und ungenauer Informationsregelungen dürften jedenfalls nicht ausgeblieben sein.
Die in der Verwaltung Groß-Berlin gebildete Arbeitsgruppe fand ihr Analogon in den Arbeitskommissionen Staatsgrenze, die in der MfS-Bezirksverwaltung (BV) Potsdam und den betroffenen Kreisdienststellen gebildet wurden.
Dokumente 3 und 4
Walter Forkel gehörte ebenfalls der Arbeitsgruppe unter Hüttner an. (© BStU)
Walter Forkel gehörte ebenfalls der Arbeitsgruppe unter Hüttner an. (© BStU)
Mit
Diese Verfügung ist vor dem Hintergrund des
Die Aufgaben des Referates wichen von denen der "Arbeitsgruppe Staatsgrenze" nur wenig ab. Sie waren jedoch klarer abgegrenzt. Die "Aufklärung und Bearbeitung von feindlichen Organisationen und Zentren des Menschenhandels in Westberlin und aller anderen feindlichen Handlungen gegen die Staatsgrenze" hatte nun in Koordination mit der HA XX/5 zu erfolgen. Die umfassenden Meldepflichten aller Diensteinheiten der Verwaltung Groß-Berlin gegenüber dem Referat XX/5 blieben ebenso unverändert wie die Pflicht, alle bis dahin mit der AG Staatsgrenze zu koordinierenden Maßnahmen nun mit dem Referat 5 abzustimmen. Die Berechtigung, die Vorgangsbearbeitung in den einzelnen Diensteinheiten zu kontrollieren, blieb ebenfalls erhalten.
III.
Das Wirken des MfS bei der Sicherung der Grenze bis hin zur Strafverfolgung der Flüchtlinge wurde in den folgenden Jahren zunehmend differenzierter organisiert und perfektioniert. Chefsache blieb die innerdeutsche Grenze bis zum Ende der DDR – vor allem dann, wenn die zivilen Opfer des Grenzregimes und belastende Informationen über Tötungen zu verheimlichen waren. Denn auch in puncto "Leichensachen" musste das MfS einen makabren Lernprozess vollziehen, der anhand der neu erschlossenen Dokumente nun bereits für die Frühphase nach dem Mauerbau auf Leitungsebene nachvollzogen werden kann. Bislang konnte das Wirken der Staatsicherheit hauptsächlich aus den wenigen erhalten geblieben Opferakten heraus rekonstruiert werden.
Die brutalen Tötungen unbewaffneter Flüchtlinge und Zivilisten verlangten nach raschen Regelungen und koordiniertem Vorgehen, denn sie riefen nicht nur auf höchsten diplomatischen Ebenen Proteste hervor, sondern auch Zorn und Wut in der Bevölkerung. Der Tod Peter Fechters ist ein weltbekanntes Beispiel hierfür. Das MfS übernahm daher regelmäßig und frühzeitig die Bearbeitung derartiger "politisch-operativ relevanter besonderer Vorkommnisse" und zog sämtliche Kompetenzen an sich.
Eine auf Leitungsebene beschlossene gemeinsame Arbeitsrichtlinie der HA I und der Verwaltung Groß-Berlin gibt neben zahlreichen Maßnahmen zur Grenzsicherung erstmals auch Aufschluss über die spätestens im August 1964 administrativ festgelegten Grundsatzbestimmungen im Umgang mit verletzten und getöteten Flüchtlingen.
Wie neu erschlossene Richtlinien zeigen, galten ab Mai 1963 vergleichbare Festlegungen zwischen der HA I und dem Leiter der BV Potsdam auch für die Sicherung des Außenrings um West-Berlin.
Die hier nur knapp umrissenen Verfahrensweisen und Organisationsstrukturen des MfS geben einen Ausblick auf das dichte aber bei Weitem nicht erschöpfend befragte Quellenmaterial zu diesem Thema. Mit der jüngst vorgelegten Edition der Berichte der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des MfS an die SED- und Staatsführung der DDR aus dem Jahr 1961