"Fernweh, Bergsehnsucht"
Die höchste Erhebung der DDR war mit 1.214 Metern der Fichtelberg im Erzgebirge, sodass Ostdeutschland nicht unbedingt ein Eldorado für Bergsteiger darstellte. In Sachsen verfügte das Bergsteigen trotzdem über eine lange Tradition. Angeregt von den Felstürmen des Elbsandsteingebirges begann sich hier schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine eigene Kultur des Kletterns und Bergsteigens zu entwickeln, und in den 1930er-Jahren gab es in Dresden ca. 300 touristische Vereinigungen mit etwa 30.000 Mitgliedern. Bekannte sächsische Bergsteiger, wie Oscar Schuster oder Fritz Wiessner, beeinflussten das Bergsteigen in vielen Gebirgen der Welt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verschlechterten sich die Bedingungen für touristische Unternehmungen aus ideologischen, politischen, finanziellen und materiellen Gründen dramatisch. Der Präsident des Deutschen Verbandes für Wandern, Bergsteigen und Orientierungslauf (DWBO), Rolf Schille, stellte 1977 klar: "Es wird [...] in unserem Lande stets nur einem relativ kleinen Kreis befähigter und ausgewählter Bergsteiger möglich sein, [...] ihr Fernweh, ihre Bergsehnsucht zu stillen."
Die Nationalmannschaft Alpinistik
Mit Beginn des Kalten Krieges hatte die Sowjetunion begonnen, die staatliche Sportförderung auf international prestigeträchtige Disziplinen zu konzentrieren. Auch im Bergsteigen wiesen die Zeichen in Richtung Leistungssport. Es wurden prestigeträchtige Gipfelexpeditionen unternommen, und 1949 gehörte die Sowjetunion zu den ersten Staaten, in denen nationale Meisterschaften im Sportklettern ausgerichtet wurden. Auch die DDR schloss sich – im Rahmen ihrer Möglichkeiten – diesem Trend an. 1958 entschloss sich der Deutsche Wanderer- und Bergsteigerverband (DWBV, ab 1970 DWBO), zehn bis zwölf Bergsteiger bei der SG Dynamo Dresden zu konzentrieren, um diesen optimale Trainingsbedingungen zu ermöglichen.
Trotzdem waren viele Leistungsträger nicht mit der Entwicklung zufrieden. Über zehn Spitzenkletterer, wie Fritz Eske und Herbert Richter, wandten sich daher in einem offenen Beschwerdebrief am 13. Februar 1960 an Walter Ulbricht, in dem sie unter anderem die schlechte Fachzeitschrift und die rückständige Ausrüstung beklagten: "Mit ausschlaggebend dafür ist die ungenügende Zusammensetzung der leitenden Organe im Deutschen Wander- und Bergsteigerverband."
Ein paar Erfolge konnte der DDR-Alpinismus verbuchen: Einige prestigeträchtige Gipfel, zum Beispiel 1967 im Pamir der Pik Lenin (7.134 m) und 1972 der Pik Kommunismus (7.495 m) – der höchste Berg der Sowjetunion –, wurden bestiegen, doch Expeditionen waren teuer und kosteten häufig Devisen, was bei der chronisch angespannten Finanzlage der DDR ein großes Hindernis war. Außerdem waren keine internationalen Medaillen zu gewinnen, sodass der Stellenwert der Nationalmannschaft Alpinistik gering blieb. Beschleunigt wurde ihr Bedeutungsverlust, als am 21. Juli 1967 vier Kader-Bergsteiger an der schweizerischen Eiger-Nordwand in den Tod stürzten. Die Medien hatten im Vorfeld über die Expedition berichtet, denn eine Fahrt in die Alpen war etwas Besonderes, und sahen sich nun in Erklärungsnot. In Dresden gab es ein Staatsbegräbnis, und die Toten wurden zu Helden erklärt.
Weitere Unglücke und der Beschluss von SED-Politbüro und Deutschem Turn- und Sportbund (DTSB) vom 19.März 1969, den Leistungssport nur noch in ausgewählten, medaillenintensiven Sportarten zu fördern,
Der ideologisch-politische Konflikt
Aus Sicht des sozialistischen Bergautors Kurt B. Richter hatte sich schon im 19. Jahrhundert im Bergsteigen ein "hohler Idealismus und Mystizismus" eingeschlichen: "Seit jener Zeit hat sich ein Bild des Bergsteigers erhalten, das romantisch verbrämt einen Abenteurer zeigt, dem die Berge alles sind und der die reale Welt hinter dem Gebirge ignoriert."
Ganz in diesem Sinne verfolge auch der DDR-Tourist das "Ziel, seine Heimat kennen und lieben zu lernen [...] und sich für die Lösung gesellschaftlicher Aufgaben im Interesse des Fortschrittes gesund, kräftig und verteidigungsbereit zu halten", schrieb der Präsident der Sektion Touristik der DDR, Heinz Schlosser, im Jahre 1955.
Jahreserste im Gipfelbuch Fensterturm, 22.1.1977. (© Sächsischer Bergsteigerbund)
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Jahreserste im Gipfelbuch Fensterturm, 22.1.1977. (© Sächsischer Bergsteigerbund)
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"Wenn zwei zusammen streben / in der Berge freier Natur, / folgen durchs ganze Leben / verbunden der Freiheit Spur. // Bergfreunde sind sie dann, / zwei verbunden wie einer, / und stürmen gegen die Welten an. / Auseinander bringt sie keiner."
Statt sich durch Bergsport "Bereit zur Arbeit und zur Verteidigung der Heimat" zu machen, konnte die Begeisterung für das Bergsteigen dazu führen, dass das Arbeitsleben zweitrangig wurde: "Wir waren eigentlich vorwiegend welche, die dann in kirchlichen Einrichtungen gearbeitet haben, weil dort wurde man halt auch in Ruhe gelassen. [...] man hatte seine Ruhe, und den Rest hat man in der Sächsischen Schweiz gelebt", so ein Zeitzeuge.
Viele formale Anpassungen an den DDR-Sport, etwa im Bereich der Organisationsstrukturen, bedeuteten lediglich ein DDR-typisches "So tun als ob".
"Mag sich die Menschheit auch in Tyrannenklauen winden / wir werden von den Bergen der Freiheit Recht verkünden!"
"Es gibt vielerlei Grenzen für den Menschen / Gedachte / und / Bewachte!" [drei unleserliche Unterschriften].
"Oh' Alpenland, wie bist Du schön, / wir können dich leider nur als Rentner sehen. / [...] / Die Welt ist schön, so groß und weit, / nur wer sie kennt, der hat viel Freud. / Diese Freude ist hier rar. / Wir sitzen fest in GDR".
Insbesondere in den 1980er-Jahren nutzten viele junge Bergsteiger das Klettern in der Sächsischen Schweiz, um sich innerlich aus dem Arbeiter-und-Bauern-Staat zu verabschieden, wie sich ein Zeitzeuge erinnerte: "Du hast halt wirklich mit einer Rotte von Leuten abends am Feuer gehockt, irgendwo unter so einem riesigen Felsüberhang und warst halt fernab von allem. Also einfach dieses anders sein und nicht in dieser Norm drin, das war für viele ein ganz ernsthafter Gedanke."
Die Reisebestimmungen für DDR-Bürger
In den 1940er- und 50er-Jahren konnten sich viele Bergsteiger ihren Traum von den Bergen noch durch illegale "Alpenschwarzfahrten" erfüllen,
Bergsteigen auf Einladung
Wer nicht auf eine solche Gelegenheit warten wollte, musste die Organisation seiner Reise selbst in die Hand nehmen und eine Vielzahl bürokratischer Hürden überwinden. Für eine Privatreise in die Sowjetunion benötigten die DDR-Bürger seit 1964 kein Visum mehr, sondern nur noch eine "Reiseanlage für den visafreien Reiseverkehr", die zusammen mit dem "Antrag auf Ausreise aus der Deutschen Demokratischen Republik" und dem Personalausweis – einen Reisepass bekamen DDR-Bürger nur auf besonderen Antrag ausgehändigt – gültig war. Diese Reiseanlage wurde nicht von der UdSSR, sondern von den Volkspolizeikreisämtern der DDR ausgestellt. Voraussetzung dafür war eine von staatlicher Seite bestätigte "formgebundene Einladung" in kyrillischer Schrift.
Zu den Bergsteigern, die insbesondere in den 1960er- und 70er-Jahren regelmäßig Bergfahrten in die Sowjetunion realisierten, gehörte eine Gruppe von Magdeburger Alpinisten um Georg Renner und Christoph Mäder. Renner hatte während seiner Kriegsgefangenschaft im Kaukasus fließend Russisch gelernt und viele Bekannte in der internationalen Bergsteigerszene, wie den jüdisch-deutsch-russischen Arzt Henry Lewenstein, der zahlreiche Expeditionen organisierte und ihn regelmäßig nach Russland einlud. In zweiter Ehe hatte er außerdem eine russische Geologin geheiratet, die beruflich ständig in dem riesigen Land umherreiste und ihn sowie weitere Bergfreunde teilweise mitnehmen konnte.
Mäder nutzte insbesondere seine herausgehobene Stellung als Leiter eines Zweigbetriebs der Halberstädter Fleisch- und Wurstwarenwerke, was ihm in der sozialistischen Mangelwirtschaft einige Möglichkeiten eröffnete. Kleine "Geschenke unter Freunden", Fleischkonserven beispielsweise, konnten bei der Organisation äußerst hilfreich sein. "Wenn man hier alles nach Vorschrift gemacht hätte, wäre man nicht rausgekommen", so Mäder. Trotz aller Beziehungen und Tricks blieb der Erfolg der Vorbereitung stets ungewiss: "Es war immer ein Kampf. Kaum war man zu Hause, schon musste man überlegen, wie klappt die nächste Fahrt."
Hatten die Alpinisten alle bürokratischen Hürden genommen und waren in die UdSSR eingereist, konnten sie dort jedoch nicht beliebig umherreisen. Für den Aufenthalt legte die Abteilung für Visa und Registration des Innenministeriums (OVIR) eine "marschrut" fest, die den Reiseweg vorschrieb. Tadschikistan und Kirgisien waren wegen ihrer Hochgebirge die Hauptziele der Bergsteiger, doch für deren Interesse an diesen militärisch sensiblen Grenzregionen hatte das OVIR kaum Verständnis. Mit der Wahrheit nahmen es die Magdeburger Alpinisten daher nicht so genau: "Wir haben immer gelogen. Wir haben gesagt, also, wir sehen uns da die Sehenswürdigkeiten an, dort und dort, aber in Wirklichkeit sind wir natürlich in die Berge gegangen, und da ist uns keiner hin gefolgt."
Reisen mit dem "Transitvisum"
Bereits in der Reiseregelung von 1964 war auch die Möglichkeit vorgesehen, die UdSSR zu durchqueren, um in ein Drittland zu gelangen. Das dafür benötigte "Transitvisum" konnten die deutschen Polizeistellen auch ohne Einladung ausstellen. Da die Medien nicht über die neue Regelung berichteten, blieb sie den meisten Menschen aber zunächst völlig unbekannt. Die Möglichkeit einer Transitreise wurde breiteren Kreisen vermutlich erst im Zuge der Niederschlagung des Prager Frühlings bewusst, als Balkan-Urlauber, die nicht mehr auf der üblichen Route durch die ČSSR heimkehren konnten, über sowjetisches Territorium zurückgeführt wurden.
Die Erzählungen und Diavorträge der ersten Abenteurer zogen weitere junge Leute an, sodass in den 1970er- und 80er-Jahren unter dem augenzwinkernden Begriff "Unerkannt durch Freundesland" (UdF) eine regelrechte Bewegung entstand. Den UdFlern oder Transitlern ging es nicht mehr um das Bergsteigen allein, wie ein Zeitzeuge herausstellte: "Da gab es eben diese alten Bergsteiger, Bergwanderer, Bergkenner der alten Garde [...], die auch versucht hatten, über russische Freunde Bergsteigereinladungen zu bekommen. Das waren zum Teil sehr seriöse Leute, zum Beispiel Wissenschaftler mit Doktortitel. Und dann gab es eben diese risikobereite, jugendliche Strömung, die [...] Abenteuer, Risiko und Bergsteigen verknüpfte."
Bei ihrer Einreise in die Sowjetunion wurde der Personalausweis mit dem "Transitvisum" stets misstrauisch überprüft. Nach erfolgreich überstandener Kontrolle wurde auf einem Einreisevisum, das bei der Ausreise wieder abgegeben werden musste, vermerkt, wie lange der Besucher im Land bleiben durfte. Bei der Ausreise, die in der Regel nach Rumänien führte, waren daher Schwierigkeiten vorprogrammiert. Über die Konsequenzen des unerlaubt verlängerten Aufenthalts herrschte in der Szene zunächst Ungewissheit, doch die Erfahrungen zeigten, dass die Strafen von russischer Seite nicht über eine Verwarnung, ein Bußgeld zwischen 10 und 100 Rubel (30–300 Mark) oder ein Einreiseverbot für die nächsten Jahre hinausgingen.
Unerkannt durch Freundesland
Waren die Transitler innerhalb der Sowjetunion von ihrer vorgegebenen Route abgewichen, mussten sie sich "unerkannt durch Freundesland" bewegen. Dafür war ein möglichst unauffälliges Vorgehen nötig, was sich für Europäer insbesondere in den asiatischen Regionen des riesigen Reiches und ausgestattet mit einer Bergsteigermontur freilich schwierig gestaltete. Schon wenn sie abseits der üblichen Touristenattraktionen Fotos machten, konnten die Transitler das Misstrauen von Einheimischen oder der Polizei wecken. "Einmal habe ich mir am Bahnhof Zähne geputzt, am Brunnen. Kam gleich die Polizei und hat mich mitgenommen", erinnert sich Reinhard Tauchnitz.
Wichtig für einen glimpflichen Ablauf von Kontrollen waren halbwegs glaubwürdige Ausreden. Da konnte aus einer Seilschaft schnell eine "sozialistische Studentenbrigade" werden, die Aufbauhilfe in Taschkent leistete, was mit den (alpinen) "Bauschutzhelmen" bewiesen wurde. Oder das Zelt war von Bären geplündert worden, wobei leider auch die Papiere verloren gegangen waren.
Es gab noch frechere Tricks, die sich geradezu als sozialistische Schildbürgerstreiche bezeichnen lassen. So delegierten sich manche UdFler im Namen ihrer Betriebssportgemeinschaft (BSG) selbst dazu, bestimmte Gipfel zu erklimmen und Freundschaftswimpel zu hissen. Die sowjetischen Beamten konnten die Transitler nicht einordnen. Schon dass sich jemand in den Weiten des Landes illegal aufhalten könnte, war für sie kaum vorstellbar. Das individuelle Reisen war für viele im Sozialismus aufgewachsene Polizisten ebenfalls undenkbar: "Dass es Reisende gibt, die nicht mit einer Reisegruppe unterwegs sind, das haben die nicht begriffen, und wir haben dann einfach gesagt, o.k., wir gehen morgen wieder zu unserer Reisegruppe ins Hotel, und für die war damit die Sache erledigt."
Die Illegalität der UdFler hatte auch Konsequenzen für den Komfort des Reisens. Übernachtungen in Hotels oder auf offiziellen Zeltplätzen waren ohne gültige Papiere kaum möglich, ebenso der Kauf von Flug- oder Zugtickets bei der sowjetischen Agentur Intourist, wo Ausländer bevorzugt behandelt wurden. Außerdem wären die Intourist-Tickets für die "Hippies" meist zu teuer gewesen. Die UdFler mussten daher zu den für die einheimische Bevölkerung üblichen Bedingungen reisen, was stunden- und tagelange Wartezeiten sowie Verteilungskämpfe am Schalter mit einschloss. Verhandlungsgeschick und Improvisationskunst waren unbedingte Voraussetzungen einer solchen Fahrt.
In der Nähe der Berge ging es für die Alpinisten häufig nur noch zu Fuß weiter, was wochenlange Anmärsche durch wilde Natur ohne Weg und Steg bedeuten konnte. Um nicht entdeckt zu werden, sahen sich die UdFler teilweise selbst in den Bergen gezwungen, die üblichen Routen zu verlassen und enorme Risiken auf sich zu nehmen. Tauchnitz, Kiesling und König beispielsweise umgingen bei ihrer Besteigung des Elbrus die Schutzhütte Prijut 11 (ca. 4.200 m), da sie gehört hatten, illegal Reisenden würden hier nachts die Stiefel weggenommen. Längere Akklimatisierungsphasen in großer Höhe waren unter diesen Bedingungen oft nicht realisierbar. Durch die Strapazen einer solchen Expedition waren die Bergsteiger bei ihrer Rückkehr teilweise so ausgezehrt, dass die mehrwöchige Krankmeldung, die das lange Fehlen bei den Arbeitgebern entschuldigen sollte, kein Misstrauen erweckte.
Durch ihre Art des Reisens kamen die UdFler enger mit der einheimischen Bevölkerung in Kontakt, als es die hohlen Rituale der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft ermöglichten.
Finanzielle und materielle Hürden
Neben der eingeschränkten Reisefreiheit stellten auch die finanziellen und materiellen Voraussetzungen einer ausgedehnten Bergfahrt enorme Hürden dar. Dies verdeutlichen bereits die saftigen Preise für offizielle Angebote. Zwischen 1969 und 1975 kostete eine 17-tägige Spezialreise in den Kaukasus bei Jugendtourist zwischen 932 und 1.140 Mark. Ab 1976 standen den Bergsteigern auch kommerzielle sowjetische Alpinistenlager offen, die insbesondere westliche Touristen anlocken sollten. Die Kosten dafür lagen je nach Jahr, Aufenthaltsdauer und Gebirge zwischen knapp 2.000 und fast 6.000 Mark. Um das Geld zu verdienen, das für größere private Expeditionen benötigt wurde, war Eigeninitiative unabdingbar.
Georg Renner: "'Pik Kommunismus 7495 m'. Pamir" (© Georg Renner)
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Georg Renner: "'Pik Kommunismus 7495 m'. Pamir" (© Georg Renner)
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Eine besondere Möglichkeit stellte dabei der sogenannte "Technosport" dar, den die "Thüringischen Landeszeitung" (1985) vorstellte: "Eine außergewöhnliche, originelle und zugleich für die Volkswirtschaft nützliche Art des Trainings führen die Bergsteiger seit drei Jahren durch. Sie bezwingen Industrieschornsteine und Hochhäuser, helfen diese ausbessern und ersparen so aufwendige und zugleich zeitraubende Gerüstbauten." Für die Bergsteiger ging es allerdings weniger um die Volkswirtschaft oder den Trainingseffekt als um den finanziellen Aspekt: "Da gab es ein Stadtbauamt, und die haben gesagt, hier steht ein Schornstein, wir können so und so viel bezahlen, und wenn ihr den abreißt, dann ist gut", so Christoph Mäder, der an mindestens zehn Baustellen mitarbeitete. Für die Verwaltungen sei der sanfte Abriss weitaus günstiger gewesen als der Einsatz von Sprengstoff und schwerem Gerät, und die Bergsteiger hätten sehr gut dabei verdient. Der Alpinismus eröffnete noch weitere exklusive Einnahmequellen.
Georg Renner hatte auf seinen Reisen ca. 15 Kilogramm Fotogepäck dabei und schoss im Laufe der Jahre einige tausend Bilder von der russischen Bergwelt. Dank Mäders herausgehobener beruflicher Stellung bekamen die Magdeburger Alpinisten die Genehmigung und das Papier, um von einigen Motiven jeweils 15.000 Plakate zu drucken.
Mit diesen Plakaten waren sie in der DDR konkurrenzlos, und die farbigen, großformatigen Plakate fanden bei Sportgeschäften und Bergsportsektionen reißenden Absatz.
Georg Renner: "'Pik Korshenewskaja 7105 m'. Pamir". (© Georg Renner)
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Georg Renner: "'Pik Korshenewskaja 7105 m'. Pamir". (© Georg Renner)
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Manche Teile der umfangreichen Ausrüstung, die für Touren in vergletscherte Hochgebirge unerlässlich ist, waren auf offiziellem Wege, aber auch für Geld nicht zu bekommen, weshalb die Ausrüstung oftmals unzulänglich blieb und an Stelle von Wanderschuhen schon einmal Arbeitsstiefel oder manchmal gar "Jesuslatschen" getragen werden mussten. Einiges wurde über die Betriebssport-gemeinschaften verteilt oder konnte über die verantwortlichen Betriebe beschafft werden. Andere Materialien mussten auf dem Schwarzmarkt erworben werden, der von findigen Bergsteigern mit handwerklichem Geschick bedient wurde. Erhard Klingner beispielsweise handelte mit selbstgefertigten Klettergurten. Ein einfacher Gurt von Klingner kostete rund 25 Mark, womit er schon ein kleines Zubrot habe verdienen können. Er konstruierte unterschiedliche Modelle, die er in einem illegal lichtgepausten Katalog anbot. Per Mund-zu-Mund-Propaganda sprach sich das Garagenunternehmen schnell herum, und die Bestellungen ließen nicht lange auf sich warten. Zeitweise mussten extra Näherinnen beschäftigt werden, und die Gurte gingen schön verpackt und mit kurzer Bedienungsanleitung in die ganze DDR.
Trotz dieser Schattenwirtschaft blieben eigene Ideen und handwerkliche Fähigkeiten sowie Zugang zu Materialien und Werkzeugen für DDR-Bergsteiger unverzichtbar. Von der Unterwäsche bis zum Rucksack wurde nahezu alles selbst hergestellt. Mit modernem High-Tech war die selbstgefertigte Ausrüstung freilich nicht zu vergleichen, und die vollen Rucksäcke konnten weit über 40 Kilogramm wiegen. Ausrüstung aus dem Westen war dementsprechend im gesamten Ostblock sehr begehrt. Reinhold Messner schrieb, bei einem Besuch in der Sowjetunion hätten die Bergsteiger sich um seine Plastikstiefel und Goretex-Anzüge gerissen.
Ein weiteres Problem bestand darin, an detailliertes und maßstabgetreues Kartenmaterial zu gelangen. In sozialistischen Ländern gab es aus Sicherheitsgründen kaum Landkarten zu kaufen, erst recht nicht von den politisch und militärisch sensiblen Grenzregionen, in denen viele der interessantesten Gebirge lagen. Die russische Bergsteiger-Zeitschrift "Turist" und Bergbücher enthielten manchmal Karten, die ausgeschnitten oder abgezeichnet wurden. Auch im "An- und Verkauf" und in Büchereien konnten einige antiquarische Schätze gehoben werden, auf die sich die Bergsteiger trotz der zeitlichen Distanz verlassen mussten. Karsten König zum Beispiel bestieg den Pik Lenin mit Hilfe von Karten, die der Deutsch-Österreichische Alpenverein nach seiner Erstbesteigung im Jahre 1928 veröffentlicht hatte. Solche Karten wurden durch eigene Anschauung und den Erfahrungsaustausch in der Szene präzisiert und aktualisiert. Pauspapier gehörter daher zur Ausstattung vieler Bergsteiger.
Ausschnitt einer selbstgezeichneten Karte von Georg Renner: Elbrus-Gebiet im Kaukasus. (© Georg Renner)
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Ausschnitt einer selbstgezeichneten Karte von Georg Renner: Elbrus-Gebiet im Kaukasus. (© Georg Renner)
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Georg Renner war in der Szene für seine selbstgezeichneten Karten berühmt, die auch als "Renner-Karten" bezeichnet wurden. Er hatte als Projektingenieur beim Amt für Wasserwirtschaft Zugang zu Zeichentischen und Maßstäben. Nächtelang habe er in seinem Betrieb gesessen, unterschiedliche Teilabschnitte zusammengesetzt, und auf diesem Wege insgesamt einige hundert Karten gezeichnet, deren Herstellung teilweise mehrere Wochen in Anspruch genommen habe. "Russen sind uns hinterhergelaufen, um von mir Kartenmaterial zu bekommen für das Land dort", so Renner nicht ohne Stolz. Das begehrte Gut wurde nur unter der Hand weitergegeben, verbreitete sich aber in der ganzen Szene und wurde lange Jahre genutzt. Gerald Krug berichtete, dass er sogar im Jahre 2003 noch nach Renners Karten in der Turkestan-Kette (Kirgistan) gewandert sei. Auch heute noch böten einige seiner Karten die genaueste Darstellung von kleinen Wegen und Pässen.
Ausschnitt einer selbstgezeichneten Karte von Georg Renner: Pamir und Hissar-Alai. (© Georg Renner)
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Ausschnitt einer selbstgezeichneten Karte von Georg Renner: Pamir und Hissar-Alai. (© Georg Renner)
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Trotz der selbstgezeichneten Karten blieben die geografischen Informationen der Bergsteiger lückenhaft, sodass ihre Expeditionen häufig zu einem mehrjährigen und kräftezehrenden Vortasten und Ausprobieren wurden, wie Renner am Beispiel seiner Pamir-Fahrten Anfang der 1970er-Jahre beschrieb. Per Flugzeug, Eisenbahn, Omnibus und Lkw hätten sie sich damals dem Gebirge genähert. Schließlich sei es nur noch zu Fuß weitergegangen, wobei es im Pamir, anders als beispielsweise im Himalaja, keine ausgetretenen Trekkingpfade gab. "Das erste Mal also haben wir festgestellt, aha, da und da sind die und die und die Gipfel, so. Das zweite Mal haben wir gedacht, jetzt versuchen wir die Anstiegsroute auf den Pik Korshenewskaja, so, da haben wir lange gesucht. Das dritte Mal sind wir auf den Gipfel gekommen. Aber jedes Mal sind wir am Muksu entlang, und der Muksu ist der wildeste Fluss im Pamir. Wahnsinn!"
Das Verhältnis der Bergsteiger und Transitler zur DDR
Das ironische Lied "Sonderflug" der Szene-Band "Tommi Bums", das eine Traumreise in den Himalaja schildert, liest sich fast wie eine Zusammenfassung der geschilderten Probleme des Bergsteigens in der DDR:
"In 15 Minuten geht der Sonderflug / 15 Mann steh'n erwartungsvoll am Bug / und am Rande der Landebahn irgendwo / steht der Präsident des DWBO / und ein ganz hoher Sportgenosse / winkt lässig mit der Flosse / er sagt in Gedanken sind wir dabei / alles Gute Freunde und good bye [...]
damit auch sicher kein Unfall geschieht / sind die Seile nur von Edelried / von Salewa sind die leichten Eisen / viel beliebt in Kletterkreisen / von Stubai sind die super Haken / die noch nie in einem Felsen staken / das Material ist gut und es ist neu / alles Gute Freunde und good bye [...]
und dann wird endlich unsere Flagge gehisst / auf dem Gipfel der über 8000 Meter ist / und an dieser exponierten Stätte / hinterlegen wir eine Gipfelkassette / und darin die Nachricht für den, der sie dann find / dass wir für den Sozialismus sind / und zu Ehren der Republik war'n wir dabei / alles Gute Freunde und Sport frei"
Ideologisch-politische Probleme, Probleme mit der Reisefreiheit und der Ausrüstung stellten für die Alpinisten enorme Hindernisse dar. Nach acht Strophen endet das Lied dementsprechend in einem bitteren Ton: "es war alles nur eine Utopie / erreichen werden wir's im Leben nie, / es wäre viel zu schön, um wahr zu sein / alles Gute Freunde, schlaft wieder ein!!"
Doch wie schon das Lied selbst beweist, blieben die meisten Bergsteiger bei wachem Verstand. Viele Alpinisten der "alten Garde" hatten sich im Laufe der Zeit allerdings eine pragmatische Haltung gegenüber dem sozialistischen Staat angeeignet. So auch Christoph Mäder. Die ideologischen Passagen in dem "Lehrbuch Bergsteigen"
Die Transitler der 1970er- und 80er-Jahre waren beruflich und familiär noch ungebundener und scheuten sich nicht, den Staat zu provozieren. Für Reinhard Tauchnitz bestand gerade darin ein Reiz: "Hintergrund war damals, die offiziellen Staatsorgane mal ein bisschen zu ärgern." Der Westdeutsche Uli Ulziffer habe nach eigenen Worten "natürlich den Eindruck gehabt, ja, das ist Untergrund, das ist konspirativ". Tauchnitz stellte allerdings relativierend fest, ein richtiger "illegaler Verein" seien sie nicht gewesen. Dies änderte sich spätestens dann, wenn UdFler ihre Erfahrungen im Grenzverkehr nutzen, um Bibeln in die Sowjetunion zu schmuggeln oder via UdSSR in den Westen zu flüchten. Tauchnitz hatte sich Ende der 1980er-Jahre bereits innerlich aus der DDR verabschiedet. Gemeinsam mit Karsten König fasste er den Entschluss zu einer spektakulären Flucht: "Wenn wir das schon machen, dann mit einem Paukenschlag. Wir zeigen denen hier richtig, was sie für Leute verlieren. Wir besteigen einen Achttausender, das steht noch in allen Zeitungen, und die ärgern sich quasi danach."
Ruth Leiserowitz beschrieb das Transitreisen als "Grenzüberschreitung in doppelter Hinsicht. Das war nicht nur Neuland im territorialen Sinne – man verließ auf diesen Fahrten in jeglicher Hinsicht vorgedachte und vorgeschriebene Wege."
In bergsteigerischer Tradition und inspiriert durch ihre Reiseerfahrungen entwickelten und pflegten die Bergsteiger und Transitler in ihrer Szene eine eigene romantische bzw. bergsteigerische Lebensform.
Die bergsteigerische Lebensform konnte völlig apolitisch sein und hatte in der DDR trotzdem eine politische Seite. Für Jörn Beilke praktizierten die Kletterer eine Art der Verweigerung, die letztlich doch auf politische Veränderungen zielte: "Das war vielleicht kein aktiver Widerstand, [...] mit Flugblättern oder sonst was, aber es war einfach ein gelebter Widerstand."
Eine politisch konkret spürbare Auswirkung des Bergsteigens liegt in der Ausreise oder Flucht aus der DDR. Vor dem Bau der Mauer verließen zahlreiche Bergsteiger, wie Herbert Wünsche, Harry Rost oder Dietrich Hasse, die DDR. Nachdem sich die Lage in den 1960er- und 70er-Jahren etwas stabilisiert hatte, gab es in den 1980ern wieder eine regelrechte Flucht- und Ausreisewelle. "Gerade in der Kletterszene waren verdammt viele, die dann auch ausreisen wollten, und wo sich dann so die Cliquen bildeten. Das ist dann auch wie so ein Infekt gewesen [...] und man denkt das erste Mal überhaupt drüber nach, und das geht, und so hat sich das dann auch ausgebreitet. Also das war schon so eine Zelle, die das populär gemacht hat."
Von der Sehnsucht nach Freiheit und Ferne erfüllt, wurde den Bergsteigern das eingemauerte Land zu eng. Erfahren im Umgang mit Grenzen und Bürokratie, fiel es ihnen leichter als anderen DDR-Bürgern, die Mauern des Sozialismus zu überwinden. Alpinisten und Transitler lassen sich damit als eine Avantgarde der massenhaften Ausreise über Ungarn und andere osteuropäische Länder begreifen, die 1989 das Ende der DDR einleitete.