Die Staatssicherheit als Reisebüro?
Die Mauer war gerade erst errichtet, als die ersten DDR-Bürger im Sommer 1962 auf die Idee kamen, die Flucht in den Westen auf einem scheinbar weniger gefährlichen Weg über ein Drittland anzutreten. Viele Länder kamen dafür allerdings nicht in Frage. DDR-Bürger durften damals ihre Ferien nur in wenigen östlichen "Bruderländern" verbringen. Eines dieser Länder war die mit der Sowjetunion eng verbündete Volksrepublik Bulgarien. Dieses Land war nicht nur vergleichsweise rückständig, es genoss auch ein freundliches Image und – wichtiger noch – es hatte Staatsgrenzen zur Türkei, nach Griechenland und zum blockfreien Jugoslawien. Diese scheinbar so günstigen Umstände waren es, die in den 1960er-, 70er- und 80er-Jahren mutmaßlich mehrere tausend DDR-Bürger auf die Idee brachte, man könne dort unten, fernab von Ost-Berlin, auf gefahrlose Weise in den Westen kommen. Einigen Glücklichen gelang es tatsächlich, häufig mit Unterstützung von Fluchthelfern. Meistens endeten diese Vorhaben jedoch mit der Festnahme – und mindestens 18 Deutsche haben diese Fluchtversuche mit ihrem Leben bezahlt.
Das Logo des "Reisebüro der DDR" wurde ca. 1966 von Kunstpreisträger Herbert Prüget entworfen. (© Archiv Stefan Appelius)
Das Logo des "Reisebüro der DDR" wurde ca. 1966 von Kunstpreisträger Herbert Prüget entworfen. (© Archiv Stefan Appelius)
Wie reagierte der Staatssicherheitsdienst der DDR auf die Fluchten über die "verlängerte Mauer", welche bilateralen Maßnahmen wurden von der DDR-Regierung ergriffen, und welche Rolle spielte das "Reisebüro der DDR" in diesem System?
Im April 2011 enthüllte Simone Wendler in der "Lausitzer Rundschau" die jahrelangen Spitzeleien eines Mannes, der nach der "Wende" als Regionalchef des Bundesverbandes für Wirtschaft und Außenwirtschaft in Cottbus amtierte. "IM Hardy" hatte für die Bezirksverwaltung (BV) Cottbus des MfS in Bulgarien und Ungarn ostdeutsche Urlauber bespitzelt. "Für diese Einsätze zeigte sich die Stasi gegenüber IM 'Hardy' finanziell äußerst großzügig. Sie bezahlte ihm mehrfach den kompletten Urlaub in sozialistischen Bruderländern, samt Flug, Hotel und Spesen, bis zu 3.600 Mark für einen Aufenthalt. Das Verzeichnis der Ausgaben für solchen 'Spezial-Urlaub' und Prämien sowie zusätzliches Reisegeld in Kronen, Lewa und Forint füllt zwei eng beschriebene Blätter, insgesamt rund 15.000 Mark", heißt es in dem Beitrag von Simone Wendler.
Doch die Autorin unterliegt einem Irrtum: Das MfS spendierte seinem inoffiziellen Mitarbeiter keine Urlaubsreisen, sondern es finanzierte dessen Dienstreisen. "Hardy" wurde vom MfS speziell für die Durchführung von Auslandseinsätzen angeworben.
Die rechtlichen Grundlagen
Die erste Maßnahme, die man in Ost-Berlin ergriff, bestand darin, die "Republikflucht" von DDR-Bürgern in Bulgarien zu einer sogenannten Auslieferungsstraftat zu machen. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde in der DDR mit Hochdruck an einem "Vertrag über die Gewährung gegenseitiger Rechtshilfe in Strafsachen" gearbeitet, der in wesentlichen Teilen bereits im März 1963 formuliert war.
Auslieferungsstraftaten waren zwar schon im Abkommen von 1958 enthalten, doch gab es zu diesem Zeitpunkt noch keine Mauer, und weder DDR-Flüchtlinge noch westdeutsche Fluchthelfer versuchten, über Bulgarien Wege in den Westen zu finden. Dieses Problem wurde von der DDR mit Artikel 8 erledigt. Der Vertragstext legalisierte die Auslieferungshaft für gefasste "Republikflüchtlinge" und sah im Abschnitt 2 sogar ausdrücklich vor, dass die Berechtigung sich auch auf "Angehörige nichtsozialistischer Staaten erstrecken" könne, womit praktisch vor allem westdeutsche Fluchthelfer gemeint waren. Diese beiden Personengruppen waren grundsätzlich in Einzelhaft zu halten (Art. 16, Abs. 1) und ihre Effekten und Kraftfahrzeuge herauszugeben (Art. 17, Abs. 1). Dieser zuletzt genannte Artikel bildete auch die rechtliche Grundlage für die Beschlagnahme des Eigentums jener Flüchtlinge, die in Bulgarien getötet wurden und solcher, die bei ihrer Flucht zum Beispiel einen Pkw zurückließen.
In den Ausführungsbestimmungen, die dem Vertragsentwurf anliegen, heißt es, bezogen auf die Gruppe der "Grenzverletzer", dass Mitarbeiter des MfS berechtigt waren, in Bulgarien "faktisch im Auftrag der bulgarischen Sicherheitsorgane" DDR-Bürger in bulgarischer Auslieferungshaft zu vernehmen. Ihre tatsächliche "vorläufige Festnahme" fand dementsprechend erst nach Ankunft in der DDR, beim Betreten des Flughafens Berlin-Schönefeld statt.
Ratifiziert wurde das Vertragswerk vermutlich durch Walter Ulbricht und Todor Shivkov im September 1964. Damals hielt sich Ulbricht mit einer großen Partei- und Regierungsdelegation in der bulgarischen Hauptstadt auf, um eine engere wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit zu vereinbaren.
Bezogen auf das Ministerium für Staatssicherheit hatte die Vereinbarung ein ganz konkretes Resultat. Schon seit dem Frühjahr 1964 schickte General Mielke eine Truppe von Stasi-Offizieren als Operativgruppe des MfS in die Volksrepublik. Dieses System
Auch Major Wolfgang Lotter, der Chef der Operativgruppe des MfS in der Volksrepublik Bulgarien, war als Mitarbeiter des "Reisebüro der DDR" getarnt. (© BStU)
Auch Major Wolfgang Lotter, der Chef der Operativgruppe des MfS in der Volksrepublik Bulgarien, war als Mitarbeiter des "Reisebüro der DDR" getarnt. (© BStU)
formulierte der langjährige Chef der Operativgruppe des MfS in der VRB, Wolfgang Lotter, in einer Abschlussarbeit an der Juristischen Hochschule (JHS) des MfS "Zum Einsatz von IM aus dem Kreise der Repräsentanten der Generaldirektion des Reisebüros der DDR bei der Sicherung des Reise- und Touristenverkehrs aus der DDR nach der VR Bulgarien".
Von Anfang an tarnten sich die Mitarbeiter dieser Operativgruppe in Bulgarien als angebliche Mitarbeiter des "Reisebüros der DDR". In späteren Jahren wurden auch die Diensträume der Operativgruppe nach außen hin als Räumlichkeiten des Reisebüros getarnt. Doch die Rolle des Reisebüros bei der "gesamtgesellschaftlichen Aufgabe"
Die Entstehung des "Reisebüros der DDR"
Die Entscheidung zur Gründung des staatlichen "Deutschen Reisebüros" (DER), das dem Ministerium für Verkehrswesen unterstellt war, fiel im Herbst 1957 und trat am 1. Januar 1958 in Kraft.
Während das "Reisebüro der DDR" 1965 seine ersten Auslandsvertretungen in Warschau, Prag und Moskau eröffnete, nahm seine gemeinsame Auslandsdependance mit der staatlichen Fluggesellschaft "Interflug" in der bulgarischen Hauptstadt Sofia erst Anfang April 1970 ihre Arbeit auf.
Bulgarien-Karte des Stasi-Hauptmanns Sieghart Siebert (1984). Die roten Pfeile bedeuten "Schwerpunkte der ungesetzlichen Grenzübertritte", die punktierten Bereiche "touristische Ballungsgebiete". (© BStU, Nachbearb.: Stefan Appelius.)
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Bulgarien-Karte des Stasi-Hauptmanns Sieghart Siebert (1984). Die roten Pfeile bedeuten "Schwerpunkte der ungesetzlichen Grenzübertritte", die punktierten Bereiche "touristische Ballungsgebiete". (© BStU, Nachbearb.: Stefan Appelius.)
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Die Eröffnung dieser Büros war Teil eines seit Herbst 1969 geplanten "Sicherungsmodells Nessebar"
Um die damit verbundenen Abläufe besser kontrollieren zu können, entstand in der Generaldirektion des "Reisebüros der DDR" in Ost-Berlin eine neue Abteilung "Auslandsvertretungen und Repräsentanten", die dem Direktor für Internationale Zusammenarbeit unterstellt wurde.
Die Auslands-IM des MfS
Maria Grosser alias IM "Severle" war als Reiseleiterin häufig im Ausland eingesetzt. (© BStU, MfS, BV Cbs. AGMS 32/84.)
Maria Grosser alias IM "Severle" war als Reiseleiterin häufig im Ausland eingesetzt. (© BStU, MfS, BV Cbs. AGMS 32/84.)
Dass das MfS schon vor 1970 systematisch inoffizielle Mitarbeiter als ehrenamtliche Reiseleiter einsetzte, darf als bekannt vorausgesetzt werden. In einer solchen Funktion als Reiseleiterin des "Reisebüros der DDR" war zum Beispiel Maria Grosser
Ein anderes Beispiel ist die Verwaltungsangestellte Inge Fischer, die als Reiseleiterin im Auftrag der Spionageabwehr der BV Cottbus unter dem Decknamen "Ilse" seit 1972 an der bulgarischen Schwarzmeerküste zum Einsatz kam, wo sie Komplexaufträge auszuführen hatte. In ihren Akten gibt es einen Bericht, der die Zusammenarbeit mit der Operativgruppe des MfS beschreibt: "Wie vereinbart habe ich mich sofort am ersten Tag, dreizehn Stunden nach meiner Ankunft in Albena, telefonisch bei dem dort stationierten Mitarbeiter gemeldet. Als ich anrief, war seinerseits eine Orientierung bezüglich meiner Person nicht vorhanden. Er bestellte mich aber trotzdem ins Hotel und wir haben uns persönlich gesprochen. Die erste Frage, die er mir stellte waren Probleme über die Reisegruppe und es war zu verzeichnen, dass er nicht gleich, wie mir gesagt wurde, eine Losung sprach, in der das Wort Weimar vorkam, sondern erst, als ich bereits schon im Begriff war, zu gehen, das Hotel zu verlassen, rückte er mit der Losung aus und ich habe dann entsprechend das Wort Häberle, wie mir gesagt wurde, eingebaut. Erst als das passiert war, erhielt ich Aufträge, die darin bestanden, auf gewisse Fragen der Gäste bzw. der Umwelt der Gäste zu achten. Es wurden Probleme einer eventuellen Flucht besprochen. Der Mitarbeiter wies mich in gewisse Details ein, die ich als Reiseleiter zu beachten habe. Es wurde auch ein Treff vereinbart, den ich aber aus dienstlichen Gründen, weil ich woanders hin bestellt war, vom Reisebüro aus, nicht einhalten konnte. Ich habe daraufhin den Mitarbeiter in seinem Hotel besucht, wie mir weiterhin bekannt ist, hatte er ein Hotelzimmer und zwar in dem Hotel [...], wo er mich schon außerhalb des Hotels abfing, bzw. mir entgegen kam, mich kurz fragte, was es gab und nachdem ich ihm sagen konnte, dass es bezüglich der Fragestellung und der Aufträge die er mir gegeben hatte, nichts gab, hat er mich verabschiedet bzw. sagte, wenn ich etwas habe, kann ich das auch seiner Frau sagen, wenn er nicht da ist, da seine Frau gleichzeitig als Sekretärin arbeitet."
Bis 1970 bildeten die ehrenamtlichen Reiseleiter die wichtigste Säule im Überwachungsapparat des MfS. Ab 1970 kamen in der "Linie SRT" zu den auch weiterhin vom MfS gesteuerten Reiseleitern mehrere weitere Säulen hinzu, die hier vorgestellt werden sollen. Dabei handelte es sich zunächst um die Repräsentanten und Chefrepräsentanten des "Reisebüros der DDR", die dem MfS bei der Überwachung von Hotelanlagen, Reisegruppen und Restaurants "wertvolle"
Werbeprospekt für die Volksrepublik Bulgarien um 1980. (© Archiv Stefan Appelius)
Werbeprospekt für die Volksrepublik Bulgarien um 1980. (© Archiv Stefan Appelius)
Ein Reisebüro-Mitarbeiter der ersten Stunde war Uwe K. Er wurde 1971 von der BV Cottbus unter dem Decknamen "Ungarn" angeworben und ab 1972 als Repräsentant und später als Chefrepräsentant des Reisebüro an der bulgarischen Schwarzmeerküste eingesetzt.
Bereits 1970 wurde dem Chefrepräsentant des "Reisebüros der DDR" in Nessebar vom MfS eine Sekretärin und ein Tonbandgerät zur Verfügung gestellt, um ihm seine FIM-Tätigkeit zu erleichtern. Später wurden auch den Repräsentanten des "Reisebüros der DDR" Kleintonbandgeräte zur Verfügung gestellt, die schon bald zu einem "unentbehrlichen Bestandteil" ihrer täglichen IM-Arbeit wurden. Im Winter, wenn die Repräsentanten wieder in die DDR zurückkehrten, erhielten sie dort zusätzliche Schulungen durch das MfS.
Zu den Mitarbeitern des Reisebüros kamen inoffizielle Mitarbeiter, die – als Urlauber legendiert – von den verschiedenen Bezirksverwaltungen mit sogenannten Komplexaufträgen in Reisegruppen eingeschleust wurden. Der Verfasser schlägt vor, die betreffenden Personen zukünftig als Inoffizielle Mitarbeiter in Reisegruppen (IMRG) zu bezeichnen.
Auch das bulgarische Staatsunternehmen "Balkantourist" war in die Überwachung der DDR-Urlauber einbezogen. (© Archiv Stefan Appelius)
Auch das bulgarische Staatsunternehmen "Balkantourist" war in die Überwachung der DDR-Urlauber einbezogen. (© Archiv Stefan Appelius)
Auch DDR-Bürger, die sich über einen längeren Zeitraum aus persönlichen oder beruflichen Gründen im sozialistischen Ausland aufhielten, waren für das MfS unter bestimmten Umständen von operativem Interesse. Der Verfasser schlägt vor, diese Personen, soweit sie als inoffizielle Mitarbeiter verpflichtet wurden, als Inoffizielle Mitarbeiter der Operativgruppe (IMO) zu bezeichnen. Dazu zählten einerseits – bedingt – Saisonarbeitskräfte in den Ferienzentren, vor allem aber Angestellte von ständigen Einrichtungen der DDR (einschließlich der Botschaft, Mitarbeiter von "Interflug", Hotelpersonal), Gastdozenten und Lektoren an Hochschulen, Studenten, Künstler und Journalisten. Sie wurden – im Gegensatz zu den bereits vorgestellten IMRB und IMRG – in der Regel direkt durch die Mitarbeiter der Operativgruppe angeworben und kamen in der Regel mindestens für drei Monate, häufig aber weit länger zum Einsatz.
Diese Personengruppe stand einerseits über lange Zeiträume zur Verfügung und beherrschte andererseits häufig auch die Landessprache. Hinzu kam, dass diese Personen sowohl bei DDR-Bürgern als auch bei westlichen Urlaubern als besonders vertrauenswürdig galten. Waren IMO mit Bulgaren verheiratet, durfte deren Ehepartner allerdings nur im Ausnahmefall über die Spitzeldienste eingeweiht werden, um den konspirativen Status der Operativgruppe nicht zu gefährden.
Bei der vierten hier vorzustellenden Kategorie handelt es sich um Personen, die – von den Mitarbeitern der Operativgruppe selbst – als Inoffizielle Mitarbeiter im überörtlichen Einsatz (IMÜ) bezeichnet wurden.
Hotelordnung von "Balkantourist" für den Touristenkomplex Sonnenstrand: "Nur nach Genehmigung des Hotelleiters dürfen Ihre Gäste Ihr Zimmer aufsuchen." (© Archiv Stefan Appelius)
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Hotelordnung von "Balkantourist" für den Touristenkomplex Sonnenstrand: "Nur nach Genehmigung des Hotelleiters dürfen Ihre Gäste Ihr Zimmer aufsuchen." (© Archiv Stefan Appelius)
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Weil der Individualtourismus aus der DDR seit Ende der 60er-Jahre erheblich an Bedeutung gewann, wurde auch die "Urlauberbetreuung" des MfS in diese Richtung hin ausgebaut. Vor allem in den 70er- und 80er-Jahren wurden zahlreiche DDR-Bürger für Spitzeldienste angeworben, um den Individualtourismus – und zwar insbesondere Campingurlauber – besser zu kontrollieren. Der Verfasser schlägt vor, diese IM zukünftig als Inoffizielle Mitarbeiter zur Überwachung des Individualtourismus (IMIT) zu bezeichnen.
Einmal jährlich brach das Ehepaar mit seinem dunkelgrünen Lada in den Urlaubsort Drushba ("Freundschaft") auf, um dort "operativ bedeutsame" Bundesbürger zu beobachten, Gespräche zu belauschen und verdächtige Kontakte zwischen DDR-Bürgern und Bundesbürgern zu entdecken.
Dieses Engagement machte sich für das Ehepaar durchaus bezahlt: "Baum" wurde in Lewa ausgezahlt, womit die Beiden sich in Bulgarien einen erheblich besseren Lebensstandart leisten konnten als andere DDR-Individualtouristen, die pro Person lediglich 100 Mark der DDR in Lewa umtauschen durften und deren Verpflegungsanteil für das Mittag- und Abendessen in sogenannten "Talons" ausbezahlt wurde, einem internen Zahlungsmittel, das ausschließlich in Restaurants des bulgarischen Staatsunternehmens "Balkantourist" eingelöst werden konnte. Außerdem wurde das Quartier des Ehepaars am Urlaubsort durch den zuständigen Mitarbeiter der Operativgruppe besorgt.
Halbseidene Tarnung
Jeder DDR-Urlauber, der nach Bulgarien reiste, erhielt eine "Reiseinformation VR Bulgarien". Darin hieß es unter der Überschrift "Betreuung", dass neben den Repräsentanten des Reisebüros und den DDR-Reiseleitern auch bulgarische Reiseleiter mit der Wahrnehmung von "Serviceleistungen" beauftragt seien. Es ist nach Aktenlage davon auszugehen, dass es sich bei diesem Personenkreis durchweg um Mitarbeiter des Bulgarischen Ministeriums des Inneren und für Staatssicherheit (MWR) handelte, zumal es der Operativgruppe ausdrücklich untersagt war, bulgarische Staatsbürger anzuwerben.
Ein zentraler Teil des 1970 neu entwickelten "Sicherungsmodells Nessebar" war es, den Chefrepräsentanten an den operativ wichtigen Urlauberorten grundsätzlich mindestens einen "Offizier im besonderen Einsatz" (OibE) an die Seite zu stellen – und zwar stets in der Funktion eines Stellvertretenden Chefrepräsentanten. Diese Neuerung betraf auch die Abteilung "Auslandsvertretungen und Repräsentanten" in der Generaldirektion Berlin, in der im Sommer 1974 allein drei OibE eingesetzt wurden.
Dabei spielte es keine Rolle, dass diese OibE wie auch die übrigen Mitarbeiter der Operativgruppe zumindest während ihrer Dienstzeit in der Regel "keinerlei Kenntnisse" über die tatsächlichen Aufgaben von Reisebürokaufleuten hatten, wie ein früherer Mitarbeiter der Operativgruppe in der VRB im Gespräch mit dem Verfasser einräumte. Es habe sich während seines Aufenthaltes in Bulgarien Anfang der 70er-Jahre noch um eine "halbseidene" Tarnung gehandelt, die etwa durch das Botschaftspersonal der DDR in Sofia schon deshalb sehr einfach habe durchschaut werden können, weil die betreffenden Personen in den Geschäftsräumen des Reisebüros nur höchst selten anzutreffen gewesen seien und konkrete Fragen, die das Reisebüro betrafen, nicht beantworten konnten.
Vielleicht war es anfangs tatsächlich eine "halbseidene" Tarnung, wie sich der Zeitzeuge erinnert, doch unprofessionell war sie keineswegs – wie man daran erkennen kann, dass neben den als Reisebüro-Mitarbeitern getarnten Offizieren der Operativgruppe, den OibE und den als IMRB verpflichteten Repräsentanten und Chefrepräsentanten auch sämtliche bulgarischen Mitarbeiter des "Reisebüros der DDR" vor ihrer Einstellung zunächst grundsätzlich durch das MfS überprüft wurden.
Die Erinnerung täuscht
Die Geschichte des "Reisebüros der DDR" hat wenig mit augenzwinkernder Lagerfeuerromantik zu tun. Die meisten festangestellten Repräsentanten und Chefrepräsentanten des "Reisebüros der DDR" und die ehrenamtlichen Reiseleiter arbeiteten gemeinsam im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit an der "Sicherung und Kontrolle des Reise- und Touristenverkehrs in das sozialistische Ausland".
Das "Reisebüro der DDR" spielte eine wichtige Rolle bei der Absicherung der "verlängerten Mauer" und der Verhinderung von Fluchtversuchen von DDR-Bürgern in den realsozialistischen Bruderländern Bulgarien, Ungarn, der ČSSR, Rumänien, Polen und dem blockfreien Jugoslawien. Solche Fluchtversuche wurden bis in die 80er-Jahre hinein zu Tausenden unternommen. Gerda Heinze, Hauptmann des MfS, wies explizit auf einen im März 1979 in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" veröffentlichten Beitrag unter der Überschrift "Flucht-Umwege sicherer" hin, demzufolge Flüchtlinge weit eher auf der Transitstrecke als in einem der "Bruderländer" mit der Festnahme zu rechnen hätten: "Mit Orientierungen in der Westpresse, 'es käme nur auf die Stempelfarbe an', wird zu suggerieren versucht, dass Passschleusungen unter Missbrauch der Territorien sozialistischer Länder relativ sicher sei."
Diese Art westlicher Medien-Berichterstattung war rückblickend höchst problematisch, da sie nicht hinreichend vor den Gefahren dieses Fluchtweges warnte. Verantwortung für das Entstehen der Gerüchte um die angeblich weniger gefährlichen Auslandsfluchtwege trägt aber auch die damalige sozialliberale Bundesregierung. Warum informierte sie in den 70er- und 80er-Jahren nicht die Medien, wenn ihr durch Handelsvertretungen oder Botschaften Todesfälle von DDR-Flüchtlingen in Bruderländern bekannt wurden? Womöglich hätte eine kritischere und realistischere Medien-Berichterstattung im Westen junge Leute in der DDR von den völlig unkalkulierbaren Risiken einer Auslandsflucht abhalten können. Warum also ließ Bundesaußenminister Walter Scheel im Fall des im Sommer 1972 in Rumänien erschossenen Rudolph Babendererde
Liest man die Erinnerungen Rolf Beyers auf einer Zeitzeugen-Website der Universität Leipzig, hatte die Tätigkeit als Reiseleiter für das "Reisebüro der DDR" fast nur Vorzüge: Beyer, der nach eigenen Angaben von 1977 bis 1989 als Reiseleiter tätig war, durfte sich alljährlich seine Wunschziele aussuchen, lernte die realsozialistische Welt kennen und musste für die Reisen als Reiseleiter nicht einmal bezahlen.
Das Ministerium für Staatssicherheit hatte sehr genaue Vorstellungen von den "politisch-operativen" Aufgaben und der Rekrutierung des Personenkreises, der für diese Tätigkeit in Frage kam. Das hing schon damit zusammen, dass die Reiseleiter nach offizieller Darstellung des Reisebüros einen "entscheidenden Einfluß auf das DDR-Bild der ausländischen Touristen" hatten.
Zwar ging man seitens der Staatssicherheit auf die persönlichen Wünsche der Reiseleiter ein, diese waren von dem für die Einsatzplanung zuständigen Mitarbeiter des MfS jedoch stets mit den "operativen Erfordernissen" in Übereinstimmung zu bringen. Und neben geografischen und historischen Kenntnissen hatte der Reiseleiter vor allem "Grundkenntnisse über wesentliche Methoden und Formen der Feindtätigkeit einschließlich der wichtigsten Straftatbestände der DDR" zu erlernen und ein "aufgabenbezogenes Feindbild" zu entwickeln.
Das heißt zwar nicht, dass jeder Reiseleiter automatisch ein IM war, denn das war selbst für das MfS schon rein quantitativ nicht zu leisten. Doch die Zahl der Reiseleiter, die tatsächlich inoffizielle Mitarbeiter des MfS waren, dürfte nach Aktenlage in die Tausende gehen – zumal das MfS in den 80er-Jahren dazu überging, alle Reisen nach Polen und Rumänien mit Reiseleiter-IM zu besetzen. Bei Reisen in die "operativ-interessanten Schwerpunktorte" an der bulgarischen Schwarzmeerküste praktizierte man dieses System ohnehin.