Der letzte Arbeitstag
Der letzte Arbeitstag von Oberstleutnant Klaus-Dieter Rauschenbach im Grenzregiment 3 in Dermbach verläuft unerfreulich. Ein Polit-Offizier will bei den Grenztruppen aufhören und hat ein Entpflichtungsgesuch gestellt. Rauschenbach überlegt, wie er den Mann noch umstimmen kann. Im Regiment ist es seit längerer Zeit unruhig. Im Januar 1981 sind zwei Soldaten in den Westen geflüchtet, immer wieder gibt es Schlägereien und Alkoholexzesse in den Kasernen, Rauschenbach muss herbe Kritik von seinem Vorgesetzten, Generalmajor Walter Tanner, einstecken.
Der gebürtige Thüringer ist seit seinem 17. Lebensjahr bei der Armee. Im Oktober 1959 meldet er sich freiwillig zur Nationalen Volksarmee (NVA), besucht die Unteroffiziersschule und wechselt ein Jahr später zur Offiziersschule für Mot.-Schützenkommandeure in Frankenberg, die er 1962 abschließt. Im November 1964, da ist Rauschenbach bereits bei den DDR-Grenztruppen, wird er von der Hauptabteilung (HA) I des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) als inoffizieller Mitarbeiter angeworben und als IM "Blitz" geführt.
Die Flucht
Für den Mittag des 2. Juni 1981 bestellt Rauschenbach seinen Fahrer vor das Stabsgebäude in Dermbach. Er möchte hinaus fahren an die Grenzanlage, um auf andere Gedanken zu kommen. Um 13.00 Uhr hält der geländegängige P3 vor dem Haus. Rauschenbach steigt ein und gibt seinem Fahrer die Order, zum Sicherungsabschnitt VII zu fahren. Am Tor 31 nimmt der Kommandeur über Funk Verbindung zur Führungsstelle auf. Er ist nervös, bringt die Kennzahlen durcheinander, die an diesem Tag gelten. Nach mehreren Anläufen kann er sich schließlich erinnern und das Tor öffnet sich für den P3.
Fluchtskizze des MfS. (© BStU, MfS, AU 13454/89, S. 11.)
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Fluchtskizze des MfS. (© BStU, MfS, AU 13454/89, S. 11.)
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Der Geländewagen fährt auf dem Kolonnenweg langsam weiter, mehrmals bittet Rauschenbach seinen Fahrer, stehen zu bleiben. Am Flüsschen Ulster steigt der Kommandeur sogar aus, um Forellen zu beobachten. In gemächlichem Tempo geht es den Seelesberg hinauf. Ein Stück weiter in einer Senke fordert Rauschenbach seinen Fahrer plötzlich auf, langsamer zu fahren und schließlich anzuhalten. "Ich glaube, da ist ein Grenzstein umgefallen", sagt er zu dem Gefreiten, der sich im dritten Halbjahr seines Wehrdienstes befindet. Der Fahrer steuert den P3 an den letzten Grenzzaun, der die DDR von der Bundesrepublik trennt. Rauschenbach stellt sich auf die Motorhaube, schaut Richtung Bundesrepublik. Der Zaun ist mit drei Metern aber zu hoch, als dass der 1,68 Meter große Offizier ihn so einfach überklettern könnte. Also weist er seinen Fahrer an, das Fahrzeug längs zum Zaun hin zu rangieren. Während des Manövers balanciert er auf der Motorhaube. Als der P3 zum Stehen kommt, stößt sich Rauschenbach vom Verdeck ab und zieht sich hoch. Einen Moment sitzt er noch rittlings auf dem Zaun, schwingt dann sein anderes Bein hinüber, springt auf den Boden und geht sofort Richtung Grenzlinie. Als er nur noch wenige Meter vom bundesdeutschen Territorium entfernt ist, dreht er sich noch einmal um und ruft seinem Fahrer zu, dieser solle über Funk melden, dass an dieser Stelle ein Grenzstein fehlt. Der Gefreite verlässt den P3 und geht einige Schritte zur Sprechstelle.
Fluchtskizze des MfS.
(© © BStU, MfS AU 13454/89, S. 12.)
Fluchtskizze des MfS.
(© © BStU, MfS AU 13454/89, S. 12.)
Ein fehlender Grenzstein ist es natürlich nicht, für den sich Oberstleutnant Rauschenbach hinter dem Zaun interessiert. Er marschiert auf kürzestem Weg durch das hohe Gras zur Staatsgrenze. Er ist sich absolut sicher, dass ihn dabei niemand beobachtet; sein Fahrer hat von der Sprechstelle aus keinen freien Blick auf das Gelände hinter dem Zaun. Hier, ungefähr 100 Meter südwestlich der Grenzsäule 1771 können auch die Soldaten auf den Beobachtungstürmen nicht auf den Abschnitt sehen, an dem ihr Grenzkommandeur kurz nach 14.00 Uhr dabei ist, sich in die Bundesrepublik abzusetzen. Rauschenbach hat die Stelle nicht zufällig gewählt. Hier befindet sich die operative Grenzschleuse "Berg", durch die Agenten des MfS die DDR unerkannt betreten und verlassen. Ein halbes Dutzend solcher Agentenschleusen gibt es im Bereich des GR-3 Dermbach, und Klaus-Dieter Rauschenbach kennt sie alle.
Der Grenzkommandeur im Westen
MfS-Aufnahme des Fluchtwegs. Westliche "Grenzorgane" untersuchen das Waldstück. (© BStU, MfS AU 13454/89, S. 28.)
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MfS-Aufnahme des Fluchtwegs. Westliche "Grenzorgane" untersuchen das Waldstück. (© BStU, MfS AU 13454/89, S. 28.)
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Direkt hinter der Demarkationslinie schließt sich auf der bundes- republikanischen Seite ein kleines lichtes Waldstück an. Rauschenbach wandert durch das Unterholz und nach ein paar Metern trifft er auf einen Waldweg. Hinter dem Wäldchen führt der Weg zum 50-Einwohner-Dorf Habel in der hessischen Gemeinde Tann/Rhön. Das erste Haus, das Rauschenbach gegen 14.15 Uhr erreicht, ist der Bauernhof der Brüder Konrad und Georg Röder. Der Offizier spricht einen der beiden Landwirte an und erklärt ihm, dass er eben aus der DDR über Grenze gekommen ist, will wissen, wo die nächste Dienststelle des Zolls oder des Bundesgrenzschutzes ist. Der Landwirt nimmt ihn mit ins Haus und ruft die Dienststelle des Zollgrenzdienstes in Tann/Rhön an. Eine gute halbe Stunde später treffen zwei Zollbeamte auf dem Hof der Brüder Röder ein und nehmen Rauschenbach zunächst seine Dienstpistole mit den sechs Schuss Munition ab. Dann geht es im Auto zur Zolldienststelle nach Tann, wo er zum ersten Mal über die Umstände seiner Flucht befragt wird.
Um 16.30 Uhr landet ein Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes (BGS) auf einer Wiese oberhalb der Zolldienststelle und bringt Rauschenbach nach Fulda. Dort, in der BGS-Kaserne, soll die grenzpolizeiliche Erstvernehmung stattfinden. Bevor der Pilot Fulda ansteuert, fliegt er noch eine Schleife über den Grenzabschnitt bei Tann. Rauschenbach soll den BGS-Beamten noch einmal zeigen, wo er ein paar Stunden zuvor über den Metallgitterzaun geklettert ist.
Der Fahrer des Grenzkommandeurs beweist in der Zwischenzeit Geduld. Obwohl er jenseits des Grenzzauns kein Lebenszeichen seines Vorgesetzten wahrnimmt, bleibt er auf seinem Posten und wartet auf Rauschenbachs Rückkehr. Erst als gegen 16.45 Uhr Beamte des BGS auf der anderen Seite des Zaunes auftauchen und dem Gefreiten zurufen, dass er sich zeigen solle, dämmert ihm, dass etwas nicht stimmt. Er informiert seine Dienststelle über Funk, dass der Kommandeur in Richtung Bundesrepublik verschwunden und nicht zurückgekommen ist.
Um 17.00 Uhr trifft die Hubschrauberbesatzung in Fulda ein. Sofort beginnen mehrere Beamte mit der Befragung. Rauschenbach bekommt Kartenmaterial vorgelegt, muss zeigen, bis wohin der Abschnitt reicht, für den er bis vor wenigen Stunden als Kommandeur des GR-3 verantwortlich war, muss Organigramme der Grenztruppen bestätigen, bekommt Fotos von Grenztruppenchef Klaus-Dieter Baumgarten und Generalmajor Walter Tanner vorgelegt. Ohne Pause geht es weiter. Gibt es Starkstromanlagen an der Grenze? Wie genau lautet der Schießbefehl? Wo befinden sich die Personenschleusen des MfS im Abschnitt des GR-3? Ist Rauschenbach inoffizieller Mitarbeiter des MfS? Wie sieht die innere Organisation der Grenztruppen aus? Die Vernehmungsbeamten machen ihm klar, dass die Zeit drängt. Später am Abend wollen zwei Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes (BND) Rauschenbach in Fulda abholen und nach München fahren. Um 22.00 Uhr darf Rauschenbach sich in der Kaserne hinlegen, bleibt allerdings unter ständiger Beobachtung. Kurz nach Mitternacht übernehmen ihn die BND-Mitarbeiter. Ohne Zwischenhalt fahren sie nach München, wo sie im Morgengrauen ankommen. Sie quartieren den Flüchtling in einer konspirativen Wohnung am Stadtrand ein und lassen ihn in den kommenden zwei Tagen keinen Moment aus den Augen.
Während Rauschenbach im Auto Richtung München sitzt, beginnt die Untersuchungsabteilung der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Suhl mit der Tatortuntersuchung am Grenzzaun. Über viele Stunden werden alle Spuren von Rauschenbachs Flucht akribisch dokumentiert, die Reifenspuren des P3, mit dessen Hilfe der Oberstleutnant über den Zaun geklettert ist, vermessen, wird der Tatort aus jedem denkbaren Winkel fotografiert und eine Rekonstruktion des Ablaufs versucht.
Besonders interessiert die Ermittler das Fluchtmotiv. Nach der Vernehmung einiger Kollegen des Oberstleutnants aus dem Regiment in Dermbach und dem Durchblättern seiner Personalakte scheint das Bild für die Untersuchungsabteilung des MfS klarer zu werden. Nachdem Rauschenbach sich schon über Monate in psychiatrischer Behandlung befunden hat, sollte er wegen verschiedener Beschwerden noch in der selben Woche zur Untersuchung im Bezirkskrankenhaus Hildburghausen erscheinen. Seine Kollegen bezeichnen ihn in den Vernehmungen durch das MfS als führungsschwach und labil, dafür mit einem ausgeprägten Hang zur Überheblichkeit. Besonders das bevorstehende Gespräch mit Generalmajor Tanner muss Rauschenbach am Tag seiner Flucht beschäftigt haben. Der Kommandeur habe in letzter Zeit geradezu Angst vor den Anrufen seines Vorgesetzten gehabt, sagt einer seiner Kollegen. Rauschenbach hat offenbar befürchtet, noch in derselben Woche als Grenzkommandeur abgesetzt zu werden.
Die diplomatische Maschine kommt in Schwung
Am 3. Juni 1981 um 14.00 Uhr befindet sich der Oberstleutnant schon insgesamt 24 Stunden in der Bundesrepublik. Er ist der ranghöchste Offizier, der sich bis zu diesem Zeitpunkt aus der DDR in Richtung Bundesrepublik abgesetzt hat. Nur das Bundeskanzleramt weiß nichts von dieser Sensation. Kanzleramtsminister Manfred Lahnstein befindet sich im Italien-Urlaub, als am frühen Nachmittag das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen beim Leiter des Arbeitsstabes Deutschlandpolitik, Hermann von Richthofen, anruft. Nach einer Information vom Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel werde der diplomatische Vertreter der DDR aus deren Ständiger Vertretung ins Bonner Kanzleramt kommen und offiziell in der Angelegenheit Rauschenbach vorsprechen.
Um 15.00 Uhr empfängt von Richthofen den diplomatischen Vertreter der DDR. Botschaftsrat Hans Schindler schildert die Umstände der Flucht von Rauschenbach, deutet an, dass der Offizier sich in psychiatrischer Behandlung befunden und bei seiner Flucht möglicherweise schlicht eine Kurzschlusshandlung begangen habe. Er, Schindler, wolle mit dem Flüchtling sprechen und könne ihm Straffreiheit garantieren. Zum Abschluss erinnert Schindler daran, dass die DDR ihrerseits Entgegenkommen gezeigt hat, als sich einige Zeit vorher mehrere Bundeswehrangehörige in die DDR abgesetzt hatten.
Der Oberstleutnant erfährt am späten Nachmittag vom Gesprächsangebot der Ständigen Vertretung der DDR. Nach einer kurzen Bedenkzeit stimmt er zu, stellt allerdings eine Bedingung: Zuerst wolle er mit seiner Frau unter vier Augen sprechen.
Treffen im Münchner Polizeipräsidium
Das Gespräch wird für den folgenden Tag, den 4. Juni 1981, um 18.00 Uhr im Münchner Polizeipräsidium vorbereitet. Aus der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn reisen Botschaftsrat Hans Schindler und der I. Sekretär mit dem Auto an, aus der DDR kommt Rechtsanwalt Wolfgang Vogel zusammen mit Rauschenbachs Ehefrau nach München. Ebenfalls bei dem Gespräch dabei ist der West-Berliner Rechtsanwalt Jürgen Stange, der schon früher bei vergleichbaren Fällen mit Wolfgang Vogel zusammengearbeitet hat. Als Vertreter der Bundesregierung ist Ministerialdirigent Edgar Hirt von Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen ins Polizeipräsidium gekommen.
Bis zuletzt versuchen die BND-Mitarbeiter, die Rauschenbach auf Schritt und Tritt begleiten, ihn vom Gespräch mit dem diplomatischen Vertreter der DDR abzuhalten. Noch auf der Fahrt zum Polizeipräsidium malen sie dem Oberstleutnant ein Schreckensszenario. Das Angebot der Straffreiheit sei eine Falle, Rauschenbach solle nur in die DDR zurückgelockt werden, damit er dort ins Gefängnis befördert würde. Doch Rauschenbach bleibt dabei: Er will mit seiner Frau und dem diplomatischen Vertreter der DDR sprechen.
Botschaftsrat Schindler überlegt auf der mehrstündigen Fahrt von Bonn nach München, wie er Klaus-Dieter Rauschenbach wieder zurückholen kann. Wie soll er ihn ansprechen? Wie soll er ihm klarmachen, dass das Angebot einer Straffreiheit ernst gemeint ist? Schindler entscheidet sich für eine militärisch-strenge Ansprache.
Als der Oberstleutnant in Begleitung von vier BND-Mitarbeitern in den Raum kommt, in dem die Gäste aus Bonn und Ost-Berlin auf ihn warten, streckt Schindler ihm die Hand entgegen und begrüßt ihn mit einem knappen: "Guten Tag, Genosse Rauschenbach". Der Überraschungseffekt sitzt. "Ja, bin ich für Sie überhaupt noch ein Genosse?", fragt Rauschenbach ungläubig. Anschließend wird er in ein Besprechungszimmer geleitet, wo er mit dem Vertreter der Bundesregierung, Edgar Hirt, einige Sätze wechselt. Danach kommt Rauschenbachs Frau in den Besprechungsraum. Die beiden diskutieren ungefähr fünf Minuten aufgeregt miteinander unter vier Augen, allerdings unter mehr als nur vier Ohren. Die Beamten des Polizeipräsidiums haben unter Berufung auf § 11 des Bayerischen Polizeiaufgabengesetzes ein Mikrofon unter dem Tisch installiert, an dem die Eheleute sitzen. Viel Freude mit der Aufzeichnung haben die Beamten allerdings nicht, denn Rauschenbachs Frau reibt – ob unbewusst oder absichtlich, ist unklar – während des gesamten Gesprächs mit einer Streichholzschachtel über die Tischplatte. Die Auswertung nach Ende des Gespräches zeigt schnell: Außer Störgeräuschen sind nur ein paar zusammenhanglose Wortfetzen zu verstehen. Dabei ist es keineswegs reine Neugier, die die Beamten zu der Abhörmaßnahme greifen lässt. Sie fürchten, dass gegen Rauschenbach Druck ausgeübt werden könnte, um ihn zur Rückkehr in die DDR zu veranlassen.
Anschließend spricht Rauschenbach mit dem Ost-Berliner Rechtsanwalt Vogel. Der sichert ihm noch einmal Straffreiheit für den Fall zu, dass er sofort mit ihm zurück in die DDR fährt. Rauschenbach ist bereit. Er will die ausgestreckte Hand ergreifen. Vogel kommt aus dem Besprechungsraum nach draußen, wo die anderen warteten. Ja, Rauschenbach habe sich entschieden und kehre in die DDR zurück, verkündet Vogel. Doch dem Vertreter der Bundesregierung genügt das nicht: Rauschenbach müsse selbst sagen, dass er aus eigenem Entschluss in die DDR zurückkehren wolle. Vogel teilt das dem Oberstleutnant mit, der im Besprechungszimmer sitzengeblieben war. Rauschenbach kommt nun selbst heraus und gibt zu Protokoll: "Ich erkläre, dass ich in die Deutsche Demokratische Republik, mein Vaterland, zurückkehren will." Der Rückreise steht nun nichts mehr im Wege.
Bevor sich die Versammlung im Münchner Polizeipräsidium wieder auflöst, erfüllt Edgar Hirt noch einen besonderen Auftrag, den er vom Kanzleramt mit auf den Weg bekommen hat. Er soll Wolfgang Vogel klar machen, dass die Bundesregierung als Anerkennung für das schnelle Handeln im Fall Rauschenbach von der DDR "bei dem nächsten Paket ein gewisses Entgegenkommen" erwarte. Bei Vogel stößt das auf offene Ohren, er lobt die Bundesregierung dafür, dass alles so schnell und unbürokratisch über die Bühne gegangen sei, und kündigt an, dass sich das auch "anderweitig niederschlagen" werde.
Rauschenbach erhält seinen Kampfanzug und in einem Plastikbeutel auch seine Dienstpistole mit sechs Patronen zurück, die er beim Zoll in Tann abgegeben hatte. In dem Moment, als Rauschenbach die Dienstwaffe an sich nehmen will, wird Botschaftsrat Schindler unruhig. Ob es wohl eine gute Idee ist, dem Oberstleutnant nach seiner aufreibenden Flucht eine Waffe mit Munition in die Hand zu geben? Schindler darf als diplomatischer Vertreter die Waffe nicht an sich nehmen. Schließlich greift Vogel zu, steckt die Waffe mitsamt der Munition ein und fährt mit Rauschenbach und seiner Frau zum Grenzübergang Rudolphstein/Hirschberg. Ohne Grenzkontrolle passieren sie die Grenze kurz vor Mitternacht. Klaus-Dieter Rauschenbach ist wieder zurück in der DDR, nach 57 Stunden im Westen.
Die DDR hält Wort
Gunter Huonker, der Staatsminister im Kanzleramt, rechtfertigt später die kurze Zeit, die zwischen Rauschenbachs Flucht und dem Gespräch im Münchner Polizeipräsidium liegt, vor allem mit der Fürsorgepflicht für den Flüchtling. Es sollte der Eindruck vermieden werden, Rauschenbach sei bereits umfassend vom BND befragt worden und habe in dieser Zeit die Gelegenheit gehabt, Staatsgeheimnisse der DDR auszuplaudern.
Die Sorge ist begründet. Als Grenzkommandeur kennt Klaus-Dieter Rauschenbach eine ganze Menge Geheimnisse. Generalmajor Tanner, Chef des Grenzkommandos Süd der Grenztruppen, lässt bereits wenige Stunden nach Rauschenbachs Flucht eine elfseitige Liste zusammenstellen, worüber der Oberstleutnant informiert ist und wie groß der Schaden für die DDR wäre, sollte er im Westen sagen, was er weiß.
Ohne jeden Zweifel hat Rauschenbach bei der grenzpolizeilichen Erstbefragung beim BGS in Fulda einiges offenbart, was nach dem Strafgesetzbuch der DDR einen Geheimnisverrat darstellt. Im Nachhinein erweist sich die Sorge um Rauschenbachs allzu große Freizügigkeit jedoch als unbegründet. Nach seiner Rückkehr wird er vom MfS nach Kablow in die Nähe von Berlin gebracht und einen Tag lang verhört. Wahrheitsgemäß erzählt der Offizier seinen Vernehmern, was er im Westen gegenüber den Zollbeamten und den Beamten von BGS und BND gesagt hat. Aber auch unter diesem Umständen stellt sich die Frage einer Strafe für Rauschenbach gar nicht erst, denn die Entscheidung der politischen Führung steht bereits fest.
Der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke verfasst am 5. Juni 1981 ein dreiseitiges Drehbuch für die Zukunft des reuigen Offiziers.
Klaus-Dieter Rauschenbach beim Tanz mit seiner Frau. (© BStU, MfS AU 13454/89, S. 48.)
Klaus-Dieter Rauschenbach beim Tanz mit seiner Frau. (© BStU, MfS AU 13454/89, S. 48.)
Die Eckpunkte sind: ehrenhafte Entlassung aus den Grenztruppen der DDR, Versetzung in die Reserve, Verdienstorden und eine neue Wohnung in gehörigem Abstand zum Grenzregiment Dermbach für ihn und seine Frau. "Einverstanden, E.H.", zeichnet der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker diesen Vorschlag noch am selben Tag ab und macht damit klar, dass Straftatbestände wie Geheimnisverrat dem zweiten Leben von Klaus-Dieter Rauschenbach nicht im Wege stehen sollen.
Aus diesem Grund wird auch der Militärstaatsanwalt, der noch wegen Spionage, Fahnenflucht und Beeinträchtigung der Kampftechnik (§§ 97, 254, 273 und 63 StGB-DDR) gegen Rauschenbach ermittelt, angewiesen, seine Ermittlungen einzustellen, die Akte Rauschenbach wird am 15. Juni 1981 geschlossen.
Währenddessen zerbricht das MfS sich den Kopf darüber, was passiere, sollte Rauschenbach an seinem neuen Wohnort erkannt werden. Die HA IX erarbeitet eine bizarre Sprachregelung für Rauschenbach, die er bei kritischen Nachfragen zu seiner "zeitweiligen Abwesenheit" im Westen verwenden soll: "R. wurde nicht fahnenflüchtig. Am Tage des Vorkommnisses wollte er feindwärts des Grenzzaunes die Kontrolle eines Grenzsteines durchführen. Durch depressive Zustände seines labilen Gesundheitszustandes wurde ihm unwohl. Als er wieder zu sich kam, stellte er fest, dass er unter diesen Bedingungen – verbunden mit einem Kurzschluss – in die BRD gekommen war. Als er wieder im Vollbesitz seiner Kräfte war und wahrnahm, dass er sich beim BGS befand, strebte er sofort eine Rückkehr in die DDR an. Dieses erfolgte dann auch."
Die Bürger in der Bundesrepublik erfahren erstmals am 30. Juni 1981 über die Flucht und baldige Rückkehr des Oberstleutnants. Mehrere große Tageszeitungen, darunter die "Süddeutsche Zeitung", die "Frankfurter Allgemeine" und "Die Welt" greifen den Fall auf. Berichterstattung und Kommentare kreisen dabei immer wieder um die Frage, wieso der ranghöchste Offizier, der bis dahin in die Bundesrepublik gekommen war, das Land zwei Tage später wieder verlassen hatte.
Rauschenbachs Fernsehauftritt
Der Fall Rauschenbach macht auch die Journalisten des ARD-Fernsehmagazins "Report" neugierig. Sie fragen im September 1981 in Ost-Berlin an, ob Klaus-Dieter Rauschenbach selbst zu einem Interview bereit ist. Fritz Pleitgen als ARD-Korrespondent soll das Gespräch vor laufender Kamera führen. Sowohl dem DDR-Außenministerium als auch dem MfS kommt diese Anfrage höchst gelegen, bietet sich damit doch die Gelegenheit, vor einem Millionenpublikum in der Bundesrepublik alle Gerüchte um eine Inhaftierung oder Bestrafung des zurückgekehrten Oberstleutnants aus der Welt zu schaffen. Die Mitarbeiter der HA IX/6 des MfS kümmern sich um die Vorbereitung. Pleitgen will das Interview am 22. Oktober 1981 in Rauschenbachs neuer Wohnung in Leipzig-Lößnig aufzeichnen. In einer ganzen Reihe von Treffen wird der Ex-Offizier über Wochen auf das Interview mit dem ARD-Korrespondenten eingestimmt. Mit großer Ausdauer machen die MfS-Mitarbeiter Rauschenbach immer wieder klar, dass er sich vor allem auf seinen labilen psychischen Gesundheitszustand zum Zeitpunkt seiner Flucht berufen soll, wenn Pleitgen ihm allzu drängende Fragen nach den Motiven stellt. Zudem wird Rauschenbach eingeschärft, an den passenden Stellen auch provozierende Gegenfragen zu stellen und mit parteilicher Ironie seinen Klassenstandpunkt deutlich zu machen.
Zum vorgesehenen Termin rückt das ARD-Team in Leipzig an und zeichnet eine halbe Stunde Material auf, das am gleichen Abend zur besten Sendezeit ausgestrahlt wird. Rauschenbach weiß bereits vorher, welche Fragen Pleitgen stellen wird, und bemüht sich, die Regie-Anweisungen des MfS zu beherzigen. Im Wohnzimmer wird für das West-Fernsehen ein familiäres Idyll mit weißer Tischdecke und frischem Kaffee gezaubert, und Rauschenbach schafft es, die meisten der vereinbarten Argumente unterzubringen, bisweilen assistiert von seiner Frau. Sogar die Urkunde seiner ehrenhaften Entlassung aus den Grenztruppen der DDR kann er vor die Linse der ARD-Kamera halten. Nur mit der verordneten parteilichen Ironie hat der hölzern auftretende Ex-Offizier seine Mühe, was anschließend auch die Mitarbeiter der HA IX/6 süffisant in seiner Akte vermerkten. Trotzdem wird Rauschenbachs Fernsehdebüt als voller Erfolg verbucht; das MfS hofft, dass nun im Westen das Interesse an seiner Flucht und Rückkehr abflaut.
Parlamentarisches Nachspiel
Doch nicht nur für die bundesdeutschen Journalisten, auch für die Opposition im Bundestag hat der Fall Rauschenbach einige Strahlkraft. Nach Ende der parlamentarischen Sommerpause greift die CDU/CSU-Fraktion das Thema auf. Sie vermutet hinter der schnellen Rückkehr von Rauschenbach ein Stück Geheimdiplomatie und will der sozialliberalen Regierung nachweisen, dass sie bei der Lösung des Falles gegen bundesdeutsche Interessen verstoßen hat.
Besonders der Staatsminister im Kanzleramt, Gunter Huonker, gerät unter Druck. Seine Ministerialbeamten arbeiten ein geschliffenes Statement für den Fall aus, dass die Opposition Huonkers Rücktritt fordert. Rauschenbachs schnelle Rückkehr in die DDR habe geholfen, die Atmosphäre zwischen den beiden deutschen Staaten weiter zu entspannen. Und das zwölfseitige Statement enthält bereits einen Beleg dafür: Seit Juni 1981 sei es der Bundesregierung bereits in zwei Fällen sehr schnell gelungen, in die DDR geflüchtete Bundeswehrsoldaten zurückzuholen. Der Ständige Vertreter der Bundesrepublik in Ost-Berlin habe sofort mit den Soldaten sprechen können, die Führung in Ost-Berlin meine es also ernst mit ihrem Entgegenkommen, so das Fazit.
Die Fraktionsspitze der Union berät, wie sie die Bundesregierung am besten unter Druck setzen könne. Anstatt Huonkers Rücktritt zu verlangen, einigt sie sich schließlich auf die Idee, die schärfste parlamentarische Waffe auf die Regierung Schmidt zu richten: Sie fordert einen Untersuchungsausschuss. Am 30. September 1981 wird der von Helmut Kohl (CDU) und Friedrich Zimmermann (CSU) unterzeichnete Antrag in den Bundestag eingebracht.
Die Union zimmert einen wahrhaft monströsen Beweisbeschluss zusammen. Insgesamt 23 Punkte will die Opposition geklärt wissen, mehrere Dutzend Zeugen sollen zu diesem Zweck vernommen werden: von den Landwirten Röder bis hin zu BND-Chef Klaus Kinkel. Die SPD/FDP-Regierung hat nicht das geringste Interesse daran, die Hintergründe von Rauschenbachs Rückkehr aufklären zu lassen. Im Dezember 1981 will Bundeskanzler Helmut Schmidt die DDR besuchen. Eine monatelange Debatte über die deutsch-deutschen Beziehungen und den Umgang mit DDR-Flüchtlingen wollen sich die Regierungsfraktionen ersparen; sie bremsen die Opposition schon auf den ersten Metern aus. Die Regierung verweigert die Herausgabe nahezu aller Akten zum Fall Rauschenbach, der des Bundeskanzleramts ebenso wie der Protokolle der Befragung beim BGS in Fulda. Die Opposition sieht durch die Blockade der Bundesregierung ihr parlamentarisches Minderheitsrecht beschnitten und erhebt am 10. März 1982 Klage beim Bundesverfassungsgericht. Gerade einmal fünf Sitzungstage hat der Untersuchungsausschuss bis dahin erlebt und sich lediglich mit Verfahrensfragen beschäftigt. Mit der Klage in Karlsruhe ruht der Ausschuss nun erst einmal und die Karlsruher Richter lassen sich Zeit mit ihrer Entscheidung – über den 1. Oktober 1982 hinaus.
Doch da hat sich die politische Ausgangslage fundamental verändert. Die FDP hat die Regierungskoalition mit der SPD verlassen und sich den Unionsparteien angeschlossen. Mit dem vorzeitigen Ende der Wahlperiode erledigt sich auch der Untersuchungsausschuss "Fall Rauschenbach". Mit einer eigenen Parlamentsmehrheit haben die Unionsparteien keinen Anlass mehr, die alte Regierung zu beschießen. Am 3. Oktober 1983 ziehen die Antragsteller der CDU/CSU-Fraktion ihren Antrag in Karlsruhe zurück, ohne dass die Verfassungsrichter bis dahin schon darüber entschieden hätten.
Das MfS lässt Rauschenbach fallen
Nachdem die Familie Rauschenbach im Sommer 1981 nach Leipzig umgezogen ist, organisiert die Staatssicherheit eine neue Stelle für Rauschenbach. Er wird bei der Plankommission beim Rat des Bezirks Leipzig eingestellt. Auch seine Frau bekommt eine neue Beschäftigung in Leipzig.
Doch mit seinem neuen zivilen Leben kommt der Ex-Offizier nur schlecht zurecht. Seit 1982 wird Rauschenbach von der Abteilung XVIII der MfS-Bezirksverwaltung Leipzig geführt, die sich vor allem darum kümmern soll, dass er in seinem neuen Leben Fuß fasst und sich stabilisiert. Doch die MfS-Mitarbeiter haben wenig Freude mit ihrem Schützling. Es häufen sich Beschwerden über Rauschenbachs nachlässigen Umgang mit Terminen, die schlechte Qualität seiner Arbeit bei der Bezirksplankommission und seine mangelnde Führungsfähigkeit. Im Jahr 1985 eskaliert die Situation so, dass sich Rauschenbach selbst eine andere Stelle beim VEB Vereinigte Wettspielbetriebe Leipzig sucht. Doch auch hier wiederholen sich nach kurzer Zeit die alten Schwierigkeiten, sodass Rauschenbach Anfang 1989 auf Verlangen seines Vorgesetzten seinen Arbeitsvertrag kündigt, ohne eine neue Stelle in Aussicht zu haben. Das MfS beendet daraufhin die Zusammenarbeit mit ihrem IM "Blitz" im Juni 1989 wegen Perspektivlosigkeit.