Politische Justiz
Rudi Beckert: Glücklicher Sklave. Eine Justizkarriere in der DDR, Berlin: Metropol 2011, 183 S., € 16,–, ISBN: 9783863310042.
Peter Schnetz: Der Prozess um des Urteils Schatten. Meine Stasi-Akte, Bamberg: Eigenverlag Peter Schnetz 2010, 324 S., € 19,95 [ohne ISBN].
Lena Gürtler: Vergangenheit im Spiegel der Justiz. Eine exemplarische Dokumentation der strafrechtlichen Aufarbeitung von DDR-Unrecht in Mecklenburg-Vorpommern, Bremen: Edition Temmen 2010, 198 S., € 19,90, ISBN: 9783861089797.
Sybille Plogstedt: Knastmauke. Das Schicksal von politischen Häftlingen der DDR nach der deutschen Wiedervereinigung, Gießen: Psychosozial 2010, 472 S., € 32,90, ISBN: 9783837920949.
Kornelia Beer, Gregor Weißflog: Weiterleben nach politischer Haft in der DDR. Gesundheitliche und soziale Folgen (Medizin und Menschenrechte; 4), Göttingen: V&R unipress 2011, 302 S., € 43,90, ISBN: 9783899716641.
André Gursky: Rechtspositivismus und konspirative Justiz als politische Strafjustiz in der DDR (Treffpunkt Philosophie; 11), Frankfurt a. M u.a.: Lang 2011, 460 S., € 74,80, ISBN: 9783631613078.
Politische Justiz war essentiell für die SED-Herrschaft. Ungeachtet der Tatsache, dass in den vorliegenden Untersuchungen zum Rechtssystem der DDR die politische Überformung der Justiz herausgearbeitet wurde, wird in der Öffentlichkeit über die Frage, ob die DDR als Unrechtsstaat zu charakterisieren ist, anhaltend gestritten. Diesen Streit werden die neuen Publikationen nicht beenden. Sie können Forschungsergebnisse bestätigen, diesen erwartungsgemäß in einigen Fällen wichtige neue Facetten hinzufügen und teilweise noch bestehende Wissenslücken schließen. Sehr ungleiche Autoren thematisieren die spezifisch politische Eigenart der Rechtsprechung der DDR, die von den Organen des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) mit juristischen Mitteln praktizierte politische Verfolgung, die Haftfolgen und die Aufarbeitung des staatlichen Unrechts. Nicht überraschend ist, dass überaus unterschiedliche Bücher mit auffallend heterogenen Resultaten entstanden sind, die sich vereinfacht in zwei Gruppen der Sachbuchliteratur klassifizieren lassen: Zum einen sind es wissenschaftliche Analysen, die – auch auf biografisches Material gestützt – den Gegenstand systematisch auseinanderlegen, zum anderen biografische Texte ohne diesen wissenschaftlichen Anspruch. Die lebensgeschichtlichen Fakten bekräftigen, dass die durch staatliche Institutionen vorgenommenen oder intendierten Eingriffe in Lebensverläufe gravierendes Unrecht darstellen und den Tatbestand eines systembedingten staatlichen Unrechts erfüllen.
"Glücklicher Sklave"
Zum Genre der biografischen Sachbuchliteratur gehören die Lebenserinnerungen eines der höchsten Richter der DDR, Rudi Beckert, zuletzt Mitglied des Präsidiums des Obersten Gerichts, Leiter der Grundsatzabteilung und Vorsitzender des Entschädigungssenats. Die Einblicke in die Karriere dieses Juristen, Jahrgang 1932, leuchten symptomatisch die Lebenschancen aus, die sich in der Nachkriegszeit für junge Menschen in der DDR öffnen konnten, wenn sie sich trotz Eigensinn und gelegentlicher Unangepasstheit im Grunde politisch konform verhielten. Beckert spricht von sich und für sich, aber er bezeichnet ein an kein politisches System gebundenes Verhalten: "Wir taten, was verlangt wurde, nämlich der herrschenden Gesellschaftsordnung zu nützen, und hatten das Gefühl, selbst dazu zu gehören." (37)
Beckert berichtet von einem nicht untypischen beruflichen Aufstieg. Nach relativ kurzzeitigen Stationen an verschiedenen Kreisgerichten wurde er bereits mit 27 Jahren Direktor des Kreisgerichts Torgau und sieben Jahre später Oberrichter (Vorsitzender des 1. Strafsenats, zuständig für Staatsverbrechen und "antidemokratische Delikte") am Bezirksgericht Frankfurt (Oder). Beckert betont, dass er überwiegend mit Straftaten der allgemeinen Kriminalität befasst war. Inzwischen habe sich allerdings seine "Sicht im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit Rechtspflege- und Sicherheitsorganen" gewandelt. Damals habe er hingegen "anderes nicht kennengelernt" und es akzeptiert (78), einschließlich schwerwiegender Eingriffe von MfS und SED in laufende Verfahren. Auf die reibungslos funktionierende "Zusammenarbeit" freilich kam es der Staats- und Parteiführung an. Mit Genugtuung erwähnt Beckert die im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland geringeren Verbrechensraten in der DDR. Was kann ein so hochrangiger Jurist, der angibt, er sei vordem derartig einfältig gewesen, dass er Informationen über den Freikauf politischer Gefangener gegen Devisen für unglaubwürdig gehalten habe (83), dem heutigen Leser vom DDR-Rechtssystem verständlich machen? Es gelingt Beckert, eine Vorstellung von der prinzipiellen Funktionsweise der DDR-Gesellschaft und deren integralen Bestandteil Justiz zu vermitteln, ein Bild davon, wie sich nachdenkliche, einfühlsame und mitunter zweifelnde, zugleich der Partei bedingungslos hörige Menschen in ihr Herrschaftssystem einbinden ließen und es dadurch ermöglichten.
"Der Prozess um Urteils Schatten"
Schnetz: Der Prozess um des Urteils Schatten (© Eigenverlag Peter Schnetz)
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Schnetz: Der Prozess um des Urteils Schatten (© Eigenverlag Peter Schnetz)
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Retrospektiv setzt sich Beckert mit den eigenen Irrtümern und Fehlern auseinander, mit seiner aktiven Funktion in einem Unrechtssystem, in dem der Autor Peter Schnetz zum Opfer wurde. Schnetz kompiliert in dem vorgelegten Band Abschriften von Dokumenten aus der Zeit seiner Verfolgung in der DDR bis zur Ausbürgerung 1971, Teilen seiner Stasi-Akte und damaliger Gerichtsunterlagen mit Schriftsätzen neueren Datums und mit eigenen Texten. Er klagt nicht nur die Institutionen der DDR an wegen seiner unrechtmäßigen Verurteilung und die Behörden des Freistaats Bayern, die seinen Anspruch auf Opferrente nicht anerkennen, sondern in einem Rundumschlag die gesamte kapitalistische Ordnung: "Stärker als Boykott, Verbot, Zuchthaus bei den Kommunisten" verhindere die "geistige Inkompetenz der Kapitalisten" alle "echten, wahren, revolutionären Werke" (5). Seine ausgreifende, aber unverbindlich formulierte Gesellschaftskritik, die auch die Stasi-Unterlagenbehörde einbezieht, überzeugt nicht. Sie lässt die erforderliche Stringenz vermissen und die überbordende Materialfülle des Buches die innere Gestaltung. Fehlende Nachweise mindern für den Wissenschaftler den Quellenwert der Sachtexte und die dazwischen eingefügten literarischen Teile verlieren sich in der nicht von der ordnenden Hand eines Lektors gezügelten Stoffsammlung. Der Autor konnte sich offensichtlich nicht aus der geringen Distanz zum Arbeitsgegenstand, der eigenen Biografie, befreien. Aber der Leser erfährt eindringlich vom Umgang der DDR-Justiz mit Menschen, die sich anders als Beckert unangepasst verhielten.
"Vergangenheit im Spiegel der Justiz"
Gürtler: Vergangenheit im Spiegel der Justiz (© Edition Temmen)
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Gürtler: Vergangenheit im Spiegel der Justiz (© Edition Temmen)
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Mit völlig anderem Anspruch und mit dementsprechend kritischer, wissenschaftlicher Sorgfalt behandelt Lena Gürtler die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Ihre bemerkenswerte Studie ist das Ergebnis eines Forschungsprojektes beim Landesbeauftragten Mecklenburg-Vorpommerns für die Stasi-Unterlagen, das die strafrechtliche Aufarbeitung des systembedingten DDR-Unrechts – verstanden als Taten, die durch das politische System initiiert, gefördert oder geduldet wurden – analysiert. Denn die Frage, ob der gigantische Aufwand von annähernd 5.000 Strafverfahren allein in Mecklenburg-Vorpommern zu mehr Gerechtigkeit geführt habe, schien berechtigt angesichts der Tatsache, dass am Ende der Ermittlungen lediglich 27 Verurteilungen standen. Die Justiz ermittelte von 1992 bis zum Einsetzen der absoluten Verjährung im Oktober 2000, die Akten sind inzwischen geschlossen. Die Bilanz fällt ernüchternd aus.
Insgesamt wertete Gürtler 3.348 Verfahren der "Schwerpunktstaatsanwaltschaft zur Verfolgung politisch motivierter und unter Missbrauch politischer Macht begangener Straftaten der DDR (SED-Unrecht)" aus. An 32 exemplarischen Fallbeispielen betrachtete sie die 32 verschiedenen Arten von Delikten, deretwegen die Staatsanwaltschaft ermittelte, zusammengefasst in sieben Deliktsgruppen. Die Studie ist logisch und übersichtlich aufgebaut, sie ist – unerwartet bei diesem sperrigen Gegenstand – flüssig lesbar. Nach einer knappen Skizze zur Schweriner Schwerpunktabteilung für SED-Unrecht präsentiert Gürtler in den Bereichen Rechtsbeugung, Freiheitsberaubung, politische Verdächtigung, MfS-Straftaten, Körperverletzung, Totschlag und Mord sowie sonstige Delikte ein bedrückendes Panorama politischer Justiz, und bilanziert abschließend das Resultat ihrer Recherche. Die meisten Ermittlungsverfahren betreffen Rechtsbeugung und Freiheitsberaubung, insgesamt wurden mehr als 98 Prozent aller Verfahren eingestellt. Bedauerlich ist, dass dem wissenschaftlichen Apparat dieses wichtigen und äußerst informativen Buches ein Quellen- und Literaturverzeichnis fehlen. Hinweise auf die Signaturen der einzelnen Vorgänge sind nur im Text oder in den Fußnoten zu finden.
Die vorgestellten 32 Fälle repräsentieren die Aufarbeitungspraxis in Mecklenburg-Vorpommern, die sich nicht von der in den anderen Bundesländern auf dem ehemaligen Territorium der DDR unterscheidet. In ihnen spiegelt sich eine spezifische Seite der DDR-Geschichte, die vom Mut und vom Widerstand jener Menschen handelt, die abweichend von politischen Vorgaben ihr Schicksal eigenverantwortlich gestalten wollten und die mit den eng gezogenen Grenzen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen kollidierten. Die Beispiele zeigen zugleich die eingeschränkten Möglichkeiten, mit rechtsstaatlichen Mitteln auf staatliches Unrecht angemessen zu reagieren, was bei einem Teil der Betroffenen auf Unverständnis stieß. Doch das müsse so bleiben, zitiert die Autorin einen der beteiligten Juristen, für moralische Probleme sei das Rechtssystem nicht zuständig: "Zu erwarten, dass durch Strafverfolgung Unrecht im moralischen Kontext gesühnt werden kann, ist falsch und auch nicht Aufgabe der Justiz. [...] Ich muss im Rechtsstaat auch damit leben, dass ich einige Täter nicht überführen kann." (198) Der einen Tatverdacht prüfende Staatsanwalt kann dies nur bei justiziablen Fällen. Deswegen bleiben die zahllosen Vergehen von MfS-Mitarbeitern im Rahmen von "Zersetzungsmaßnahmen" ungesühnt, obwohl Opfer heute noch unter deren Folgen leiden
"Knastmauke"
Plogstedt: Knastmauke (© Psychosozial Verlag)
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Den moralischen Komponenten der Aufarbeitung des systembedingten DDR-Unrechts widmete sich Sybille Plogstedt in ihrem Forschungsprojekt zum individuellen Schicksal von politischen Häftlingen nach der Wiedervereinigung. Sie protokollierte charakteristische Einzelschicksale in der Absicht, repräsentative Aussagen über die Situation ehemaliger Häftlinge treffen zu können. Die soziale Lage zahlreicher von politischer Haft Betroffener war in der Bundesrepublik so schlecht, dass sie im Jahr 2005 Gegenstand der Koalitionsvereinbarungen von CDU/CSU und SPD wurde. Gemeinsam setzten sich die Parteien für Verbesserungen ein. Die daraufhin am Essener Kolleg für Geschlechterforschung durchgeführte sogenannte "Essener Studie" besteht aus einem qualitativen und einem quantitativen Teil. Von den 30 geplanten Interviews wurden 23 Gespräche realisiert und von diesen wiederum 21 für das Buch ausgewählt. In diesen eindrucksvollen Lebensgeschichten spiegelt sich plastisch die aktuelle soziale Realität von politischer Verfolgung und staatlichem Unrecht in der DDR. Die interviewten Personen gehören unterschiedlichen Haftgenerationen an, von Plogstedt jeweils in Dekaden zusammengefasst, um mögliche Veränderungen der Haftpraxis abzubilden, eine Periodisierung, die ohne Erläuterung von der von Klaus-Dieter Müller begründeten zeitlichen Strukturierung des Haftregimes
Im quantitativen Teil der Untersuchung wurden die Daten von 802 ehemaligen politischen Häftlingen ausgewertet, die den im Anhang abgedruckten Fragebogen ausfüllten. Die Ergebnisse der Essener Studie bestätigen, dass die Folgen von politischer Haft für eine Mehrheit der Betroffenen in verschiedener Form andauern. Soziale Benachteiligungen konnten oft erst nach jahrelanger Dauer und auch nicht in ihrer Gesamtheit ausgeglichen werden. Viele ehemalige politische Häftlinge fühlen sich zudem "für das hohe Risiko, das sie auf sich genommen haben, nicht ausreichend anerkannt". Dagegen könnte eingewendet werden, dass politische Haft nicht immer die Folge von politisch intendierten Handlungen der Opfer war. Doch der Anspruch auf Anerkennung leitet sich daraus ab, dass die Menschen nicht Opfer ihrer individuellen Lebensgeschichte, sondern Opfer einer politischen Situation, in der sie lebten, sind. Unzweifelhaft ist es ein Missstand, dass überproportional viele ehemalige politische Häftlinge unterhalb der Sozialhilfegrenze leben (443).
Die im Jahr 2007 vom Bundestag beschlossene Opferrente hat in den Augen zahlreicher Betroffener keine grundsätzliche Änderung bewirkt. Eine Gesamtbetrachtung der Aufarbeitungspraxis in der Bundesrepublik wird sich ihrem Vorwurf stellen müssen, dass die enormen Kosten der juristischen Aufarbeitung von DDR-Unrecht besser für eine angemessene Entschädigung der Haftopfer hätten eingesetzt werden sollen. Weiterhin ist die Kritik an der Begutachtung von Haftschäden erstaunlich: Viele der Gutachter, die über die Anerkennung von Haftfolgeschäden urteilten, befänden sich nicht auf dem "aktuellen wissenschaftlichen Stand der Traumaforschung" (444). Sollte das zutreffen, wäre das ein gravierendes und nicht zu entschuldigendes Versäumnis, da seit Jahren am Themenkomplex traumatischer Repressions- und Gewalterfahrungen geforscht wird.
"Weiterleben nach politischer Haft"
Beer/Weißflog: Weiterleben nach politischer Haft in der DDR (© Vandenhoeck & Ruprecht)
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Beer/Weißflog: Weiterleben nach politischer Haft in der DDR (© Vandenhoeck & Ruprecht)
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Ein weiteres Ergebnis dieser Untersuchungen zu gesundheitlichen und sozialen Folgen legen Kornelia Beer und Gregor Weißflog in der Studie "Weiterleben nach politischer Haft in der DDR" vor, mit der sie die erreichten hohen Standards der Traumaforschung unterstreichen. Beide verfolgten einen dezidiert qualitativen Ansatz, um die häufig nicht erkannte Tiefendimension traumatischer Erfahrung sichtbar zu machen, und legten einen weit gefassten Opferbegriff zu Grunde, der mit den Insassen der Jugendwerkhöfe und den Zielpersonen der "Zersetzungsarbeit" des MfS Opfergruppen einbezieht, die weniger im Vordergrund stehen als die politischen Häftlinge. Nach einer Beschreibung der methodischen Zugriffe ihrer Arbeit verorten die Autoren das politische Strafrecht mittels einer Zeittafel im historischen Kontext. Die anschließende Darstellung ihrer Forschungsergebnisse beruht auf der Analyse von Daten einer Befragung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten Dresden von 2003, die Angaben von 1.288 Personen umfasst, und ihrer eigenen Interviews sowie den Lebensgeschichten der zehn Interviewpartner.
Breiten Raum nehmen biografische Erfahrungen und ihre Bewältigung ein. Die Lebensgeschichten sind ausführlich dargestellt mit ihren Vergleichbarkeiten und Parallelen, aber nicht redundant, da sie nur ein schmales Segment der vielfältigen Varianten abbilden können, infolge derer unbescholtene Menschen in das Räderwerk politischer Verfolgungsmaßnahmen gelangten. Die deutliche Empathie der Autoren mit den Interviewpartnern ist mit ihrer offen bekundeten Absicht zu rechtfertigen, die subjektive Sicht der Betroffenen zu kontrastieren mit der Entwicklung der perfekter werdenden Verfolgung in der DDR durch die Möglichkeiten des Strafrechts. Sie wollten demonstrieren, dass politische Verfolgung nicht etwa die Auswirkung einer individuellen Konfrontation mit dem Staat war, die auch andernorts geschieht, sondern ein "wesentliches Merkmal" (15) des Staates beschreibt. Das ist auch der Grund dafür, warum Verfolgungsopfer heute wiederum durch staatliche Gerechtigkeit Genugtuung erwarten, eine Hoffnung, die unerfüllt bleiben muss: In die allgemeingültigen Rechtsprinzipien sind heute wie ehedem persönliche Gerechtigkeitsempfindungen so unauflösbar eingepasst, wie sie Heinrich von Kleist unnachahmlich in der tragischen Erzählung "Michael Kohlhaas" dramatisch verdichtet hat. Die Mehrzahl der Interviewten lastet die Nicht-Bewältigung des SED-Unrechts den politischen Institutionen der Bundesrepublik an und ist unzufrieden, weil die Stasi-Peiniger nicht entsprechend ihrer Vorstellung bestraft wurden (271). Das ist aus Sicht der Betroffenen verständlich, geht aber am Problem der Rechtsprechung im Rechtsstaat vorbei.
Beer und Weißflog solidarisieren sich mit den Opfern und nehmen die Gegenposition zu jener der Staatsanwälte in Gürtlers Studie ein. Wenn jedoch Matthias Pfüller im Vorwort äußert, den Opfern der SED-Diktatur werde in der Bundesrepublik deswegen die Anerkennung verweigert, "weil es ihnen gegenüber ein unerklärtes schlechtes Gewissen sowohl der ehemaligen westdeutschen Gesellschaft in der alten Bundesrepublik wie auch der Mehrheitsgesellschaft der ehemaligen DDR" gebe (14), ist das eine Mutmaßung, die sich von den Resultaten der Studie nicht untermauern lässt. Die These der beiden Verfasser, dass "oppositionelles Verhalten in der DDR auch ex post keinen hohen Stellenwert" habe (110), schließt sich dem an und ist gleichfalls eine nicht belegte Annahme. Hingegen ist ihrer Forderung nach Diskursen der Aufarbeitung unter maßgeblicher Beteiligung der Betroffenen uneingeschränkt beizupflichten. Die Kritik an einigen historisch-politikwissenschaftlichen Details der Untersuchung verringert nicht ihre großen Verdienste um die Bereitstellung von Argumenten für die "gesundheitsbezogene Beratungsarbeit mit Betroffenen" und die sozialpädagogisch-medizinische Fundierung bei der Beurteilung von Folgeschäden politischer Haft (290).
"Rechtspositivismus und konspirative Justiz"
Gursky: Rechtspositivismus und konspirative Justiz (© Peter Lang Verlag)
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Gursky: Rechtspositivismus und konspirative Justiz (© Peter Lang Verlag)
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Im Mittelpunkt der Dissertation von André Gursky steht gleichfalls die politische Strafjustiz in der DDR. Doch er stützt sich weniger auf das empirische und lebensgeschichtliche Datenmaterial, da er nach ihren rechtsphilosophischen und rechtstheoretischen Begründungen fragt. Folglich rekapituliert der Autor zunächst die einschlägige Fachliteratur und informiert im ersten Teil des Textes über die normative Begründung rechtlicher Grundlagen in der marxistisch-leninistischen Staats- und Rechtsphilosophie. In einem weiteren Teil untersucht er Lehrmaterial des MfS und Opferakten daraufhin, ob und wie sich darin die rechtsphilosophischen Vorstellungen der Staatssicherheit finden. Ihm geht es sowohl um das Selbstverständnis als auch um die Funktionalität der politischen Strafjustiz. Am Beispiel des führenden DDR-Rechtsphilosophen Hermann Klenner demonstriert Gursky, wie das Ministerium für Staatssicherheit Rechtsphilosophie und Rechtspolitik im innerdeutschen Verhältnis zu beeinflussen versuchte. Der international angesehene Rechtsphilosoph genoss den Ruf eines SED-Oppositionellen, tatsächlich stand er in Diensten des MfS und versorgte seine Auftraggeber mit Informationen über westliche Fachkollegen. Klenner wurde als renommierter Menschenrechtsexperte nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte 1975 zur unverzichtbaren Waffe des MfS gegen das westliche Ausland.
Zusätzlich zu den zahlreichen BStU-Unterlagen hat Gursky mit drei Zeitzeugen Interviews geführt und für seine Arbeit ausgewertet. Hervorzuheben ist das Interview mit dem MfS-Untersuchungsführer Joachim Groth, einem ranghohen hauptamtlichen Mitarbeiter mit Insiderwissen über das Vorgehen des MfS gegen Oppositionelle wie den Jugenddiakon Lothar Rochau. Groth war Referatsleiter der Hauptabteilung IX des MfS in der Berliner Zentrale und quittierte 1985 infolge innerer Zweifel den Dienst. Außerdem interviewte Gursky mit Hermann Kreutzer einen Ministerialbeamten der Bundesregierung, der für den Häftlingsfreikauf zuständig war, einem gleichfalls vom MfS beeinflussten Politikfeld der innerdeutschen Beziehungen.
Gursky leitet mit Ausführungen zur Rechtsstelle des MfS zu der Frage über, ob die DDR ein Rechtsstaat war, wobei er die finalen Aktivitäten des MfS als Legitimationsversuch charakterisiert, "den im Umbruch begriffenen Machtstaat der SED nachträglich rechtsstaatlich zu definieren". Der von Geheimdienstoffizieren formulierte Anspruch, die "Achtung der Würde jedes Verdächtigen und Beschuldigten" sei für sie, die "Mitarbeiter der Untersuchungsorgane des MfS [...] Verfassungsgebot" und verpflichtendes "Berufsethos" gewesen (279), spricht allen Erfahrungen der Opfer politischer Verfolgung Hohn. Vor dem Hintergrund der neuen Forschungsergebnisse setzt sich jedenfalls jeder, der die Fama von der DDR als Rechtsstaat verbreitet, dem Vorwurf aus, er kolportiere eine von DDR-Juristen und nicht zuletzt vom MfS in die Welt gesetzte Legende.
Der Abdruck zahlreicher faksimilierter Akten vervollständigt den mit einem erfreulich umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnis ausgestatteten Band. Indessen fällt die Nachlässigkeit bezüglich der Genauigkeit der Literaturhinweise auf. Bei Aufsätzen in Sammelbänden oder Zeitschriften fehlen die Seitenangaben und die gelegentlich auf die Nennung des Autors verkürzte Zitierweise in den Fußnoten führt bei Verfassern mit häufig vorkommenden Nachnamen, insbesondere wenn Druckfehler hinzutreten, zu nichtauflösbaren Rätseln der Zuweisung ihrer Aufsätze. Doch diese Einwände beziehen sich auf die genannten formalen Aspekte der Untersuchung Gurskys. Ihre staats- und verfassungsrechtliche Zentralperspektive führt zwingend zu der Frage, ob der Begriff Rechtspositivismus im Verständnis eines normativ kodifizierten Rechts auf die das DDR-Rechtssystem kennzeichnende "Präjustiz durch einen Geheimdienst" (280) angewendet werden kann. Denn die "konspirative Justiz" des MfS ermöglichte "Unrecht als System" (308). Sie war Fortsetzung der von der sowjetischen Besatzungsmacht in der unmittelbaren Nachkriegszeit eingeführten "doppelten Rechtsprechung" und ließ keine sonst "mit dem Rechtspositivismus verbundene Rechtssicherheit" (31 u. 34) zu. Das Urteil Ernst Fraenkels über den Nationalsozialismus gilt offenkundig auch für die zweite deutsche Diktatur: "Die gesamte Rechtsordnung steht zur Disposition der politischen Instanzen."