Einleitung
Plakat zur Werbung von Arbeitskräften (© Bundesarchiv, Plak 100-027-018, Grafiker: Dewag Werbung.)
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Plakat zur Werbung von Arbeitskräften (© Bundesarchiv, Plak 100-027-018, Grafiker: Dewag Werbung.)
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Plakat zur Werbung von Arbeitskräften: "Erz für den Aufbau. Deine Arbeit im Erzbergbau sichert die vorzeitige Planerfüllung und schafft Dir bessere Lebensgrundlagen!", Dezember 1950.
Die Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut war einer der größten Betriebe in der DDR und einer der außergewöhnlichsten. Über 40 Jahre lang, von 1947 bis 1990, produzierte und lieferte er Uranerz für die sowjetische Atomindustrie, beschäftigte in dieser Zeit ca. eine halbe Million Menschen und gehörte zu den Sonderversorgungsbereichen in der Volkswirtschaft der DDR. Die Kumpel erhielten nicht nur die höchsten Löhne in der Industriearbeiterschaft der Republik, sie kauften auch in ihren eigenen Läden und Kaufhäusern, besuchten betriebseigene Kulturhäuser, Gaststätten und Ferienheime – und nahmen ein betriebliches Gesundheitswesen in Anspruch, das mit seinen zahlreichen Sanatorien, Kliniken und Kurheimen eine engmaschige medizinische Versorgung bot.
Da der Bergmannsberuf eine höhere Gefahr für Leib und Leben mit sich bringt als andere Professionen, erscheint ein gut ausgestattetes Gesundheitssystem nur folgerichtig. Doch in der gesamten auf "Betriebszentriertheit" ausgerichteten Ideologie der SED-Führung ging es auch um eine Medizin im Sinne der Erhaltung der Produktivkraft und somit einer Indienststellung des Gesundheitswesens in die Produktion. Besonders sinnfällig aber wird dies in einem Unternehmen, das stärker als andere Betriebe auf Leistung und Erfolg ausgerichtet war – lieferte es doch "Erz für den Frieden" und die sowjetischen "Freunde".
1.
Maßgeblich für den Aufbau des betrieblichen Gesundheitswesens in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) war der SMAD-Befehl Nr. 234 vom 9. Oktober 1947 "zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und zur weiteren Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiter und Angestellten in der Industrie und im Verkehrswesen". Mit diesem Befehl setzte die "Sowjetisierung des Gesundheitswesens" ein. Mobilisierung und Leistungssteigerung der "Werktätigen" prägten den weiteren Ausbau der medizinischen Strukturen.
Bergarbeiterkrankenhaus "Dr. Georg Benjamin" in Erlabrunn, 1950er-Jahre. (© Privatarchiv Juliane Schütterle)
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Bergarbeiterkrankenhaus "Dr. Georg Benjamin" in Erlabrunn, 1950er-Jahre. (© Privatarchiv Juliane Schütterle)
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In Anlehnung an den Erlass der Sowjetischen Militäradministration ordnete die Generaldirektion der Wismut AG die Verbesserung des Arbeitsschutzes mit ihrem eigenen Befehl Nr. 239 von 1947 an. Darin wurde nicht nur die Ausgabe guten Werkzeugs und wetterfester Arbeitskleidung geregelt, sondern auch der Bau dreier Polikliniken und mehrerer ärztlicher Stützpunkte, die die bereits existierenden Betriebsambulatorien ersetzen sollten.
2.
Johannes Pfeiffer, ausgezeichnet als "Held der Arbeit", beim Bohren eines Sprengloches, Oberschlema 1957. (© Bundesarchiv, Bild 183-50115-0001 / Fotograf: Schlegel)
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Johannes Pfeiffer, ausgezeichnet als "Held der Arbeit", beim Bohren eines Sprengloches, Oberschlema 1957. (© Bundesarchiv, Bild 183-50115-0001 / Fotograf: Schlegel)
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Trotz der frühzeitigen Weichenstellungen für den Aufbau eines funktionierenden Gesundheitswesens konnte bis in die frühen Fünfzigerjahre hinein von einem wirksamen Arbeits- und Gesundheitsschutz keine Rede sein. Es mangelte an Material und Werkzeug, das Gestein wurde in frühneuzeitlicher Manier mit Hammer und Schlägel abgebaut, die Bewetterung der oftmals nur provisorisch ausgebauten Gänge und Sohlen war schlecht. Aus Mangel an Hunten oder adäquaten Fördermaschinen wurde das Erz am Anfang sogar im Rucksack aus dem Schacht getragen.
Untersuchung eines Schilddrüsenerkrankten, Erlabrunn 1957. (© Bundesarchiv, Bild 183-46705-0006 / Fotograf: Schlegel)
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Untersuchung eines Schilddrüsenerkrankten, Erlabrunn 1957. (© Bundesarchiv, Bild 183-46705-0006 / Fotograf: Schlegel)
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In den frühen Fünfzigerjahren vollzog sich eine Reihe von Neuerungen in der medizinischen Betreuung, die auf ein gewachsenes Bewusstsein für Prävention und Behandlung arbeitsbedingter Krankheiten hindeuten. 1952 wurde bei der SVK eine Abteilung Hygiene gebildet, die einen Hygieneaufseher in jedes Objekt entsandte.
3.
Das betriebliche Gesundheitswesen der SBZ/DDR sah sich von Anfang an im Dienste von Planerfüllung und Leistungssteigerung. Dafür sprach, dass der Betriebsarzt der "Arzt des Gesunden" sein sollte, Arbeitsschutz wurde als "Pflege und Förderung der Arbeitskraft" verstanden.
Planerfüllung und Leistungsanstieg konnten nicht immer mit den Arbeitsschutzbestimmungen korrespondieren. Die Aktivistenbewegung und die Arbeit mit Bestzeitnormativen ("Seifert-Methode" und "Kowaljow-Methode") waren Instrumente der Arbeitsmobilisierung in der gesamten SBZ/DDR, die zur Intensivierung der Leistung beitragen sollten. Die Einhaltung des Arbeitsschutzes war unter diesem Druck nicht immer gewährleistet, was zwangsläufig zu Unfällen, Krankheiten und Arbeitsunfähigkeit führte. Überdies bedingten mangelnde Qualifikation der Beschäftigten und unzureichende Sicherheitsbestimmungen ein hohes Unfallvorkommen vor allem in den frühen Jahren des Uranbergbaus.
Unfall- und Krankenstatistiken existieren erst ab 1955, Angaben für die Zeit davor werden in den Moskauer Archiven vermutet. Eine interne Recherche von 1964 wurde aus Geheimhaltungsgründen vernichtet, die Autoren der Studie hatten 376 tödliche Unfälle für den Zeitraum 1949–1964 geschätzt.
Noch 1971/72 lag die Gesamtzahl der Arbeitsunfälle bei ca. 2.000. Relativ sei damit der niedrigste Unfallstand seit 20 Jahren erreicht worden, hatte die Abteilung Arbeitsschutz bei der Gewerkschaft ermittelt.
Zu den häufigsten Ursachen für schwere und tödliche Unfälle zählten Steinschlag und Abstürze, mehr als die Hälfte der Verletzungen entfielen auf Hände und Füße. Betroffen waren vor allem Untertagearbeiter.
4.
Die Generaldirektion machte denn auch die Hauptgründe für das hohe Unfallaufkommen in "subjektiven Faktoren" wie der Missachtung von Verhaltensregeln und in Mängeln der Leitungstätigkeit aus.
Doch die eigentlich Verantwortlichen für den Arbeitsschutz in den Betrieben waren die Betriebsleiter. Auf der Gesundheits- und Arbeitsschutzkonferenz der IG Wismut 1964 mussten sie sich daher mit dem Vorwurf der Einseitigkeit konfrontieren lassen. Sie hätten sich zwar ganz richtig auf die Schwerpunkte der Masseninitiative und des sozialistischen Wettbewerbs konzentriert, dabei aber die Fragen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes vernachlässigt. Die Leistungen und die Rentabilität der Betriebe auf der einen sowie das Leben und die Gesundheit der "Werktätigen" auf der anderen Seite müssten eine Einheit bilden. Die Wirtschaftskader dürften nicht "nur die Steigerung der Produktion im Auge" haben, stärker noch als bisher sei dem Gesetzbuch der Arbeit Folge zu leisten. Bei etwa einem Drittel der Arbeitsunfälle liege eine Pflichtverletzung der Betriebe vor.
Die Gewerkschaft machte es sich leicht damit, alle Schuld auf Wirtschaftsleiter und Ingenieure abzuwälzen. Dabei oblag ihr mit den Arbeitsschutzkommissionen formal die Überwachung und Kontrolle des Arbeitsschutzes. Aber auch das Verhalten der Steiger beim nachlässigen Umgang mit den Arbeitsschutzvorschriften spielte eine nicht unbeträchtliche Rolle. Sie waren verantwortlich für die Einhaltung der Arbeitsschutzbestimmungen und für die Meldung der Unfälle.
Grobe Verstöße gegen den Arbeitsschutz wurden zwar juristisch geahndet. Doch die Urteile fielen oftmals zu milde aus, beklagte Arbeitsschutzinspektor Max Markstein in den Fünfzigerjahren. Die Steiger würden lediglich mit einer Bewährungsstrafe belegt, überdies erledigten viele ihre Arbeit nur noch vom Büro aus und seien "dauernd besoffen".
Das Konzept des Schonplatzes sah vor, zeitweilig in ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit geminderte Beschäftigte auf einen anderen Arbeitsplatz zu setzen. Damit war gleichzeitig die reibungslose Produktionserfüllung gewährleistet, die Arbeitskraft des Rehabilitanden konnte weiter genutzt werden. Die Verordnung über "die Wahrung der Rechte der Werktätigen" vom 27. Mai 1953 legte erstmals eine solche Weiterbeschäftigung bei Zahlung des bisherigen Durchschnittsverdienstes fest.
5.
Unterwassermassage im BAK "Dr. Georg Benjamin" Erlabrunn, 1957. (© Schlegel / Bundesarchiv, Bild 183-46705-0007.)
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Unterwassermassage im BAK "Dr. Georg Benjamin" Erlabrunn, 1957. (© Schlegel / Bundesarchiv, Bild 183-46705-0007.)
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Ein ähnliches Politikum wie die Bekämpfung der Unfälle und Unfallursachen waren die Bemühungen um Senkung des Krankenstandes, der in den frühen Sechzigerjahren bei sechs bis sieben Prozent lag. Das entsprach einem Mehrausfall von 44.700 Tagen und somit der Monatsproduktion eines mittleren Bergbaubetriebes wie Reust. Die Mittel der Sozialversicherung waren um 400.000 Mark überzogen worden.
Auch in den Siebzigerjahren konnte der Krankenstand nicht unter ein Niveau von sechs Prozent gesenkt werden. 1986 war die Zahl der Ausfalltage wegen Arbeitsunfähigkeit auf eine Million angestiegen, was einem Wegbleiben von 4.000 Arbeitern pro Tag entsprach. Die Aufwendungen der Sozialversicherung beliefen sich auf 45 Millionen Mark.
6.
Den Funktionären des Arbeitsschutzes war durchaus bewusst, dass die Unfall- und Krankenstände in einem Kausalzusammenhang mit den Arbeitsbedingungen standen. Neben der medizinischen Prophylaxe galt es demnach, angemessene Konditionen in den Betrieben zu schaffen. Die "Gestaltung des Arbeitsplatzes", so erkannte der Leiter des Betriebsteils Gera, Horst Lewandowski, in den Sechzigerjahren, müsse schließlich auf das Bedürfnis zur Arbeit und auf die Verbundenheit zum Betrieb Einfluss nehmen. Die Schaffung arbeitshygienischer und somit arbeitserleichternder Faktoren werde sich gleichzeitig leistungssteigernd auswirken.
Bei seiner Auflösung 1990 bestand das Gesundheitswesen der Wismut aus acht Krankenhäusern, zwölf Ambulanzen in den Wohngebieten, 20 Betriebsambulatorien, sieben Sanatorien (davon drei Kindersanatorien), zehn Kinderkrippen, dem Arbeitshygienischen Zentrum (AHZ) in Niederdorf, einem pathologischen sowie einem mikrobiologischen Institut und einem Speziallabor für Keramik und Modellgussprothetik.