Eine Zäsur für die deutsche Wissenschaft?
Das 1930 gegründete KW-Institut für Metallforschung, Stuttgart, an dem seit 1936 nach dem Historiker Helmut Maier kriegswichtige Forschung betrieben wurde, nach Kriegsende. Es dauerte mehrere Jahre, bis dieses Institut wieder nutzbar war.
So klar und deutlich die historische Zäsur zwischen NS-Befürwortern und NS-Gegnern in der deutschen Wissenschaft nach den Wünschen der Alliierten nach Kriegsende 1945 gemacht werden sollte, konnte sie nicht erfolgen. Vielmehr wurde die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) vor 1945 ebenso wie die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) nach 1946 von einigen wenigen herausragenden Forscherpersönlichkeiten entscheidend geprägt. Die Besatzungsmächte waren sich in Bezug auf die Behandlung einzelner KWG-Forscher nach 1945 nicht einig. Als am 8. Mai 1945 die Waffen in Deutschland schwiegen, bot sich dem Betrachter ein Bild der Verwüstung. Nicht nur die meisten Großstädte lagen in Trümmern, auch die wissenschaftlichen Institute, in den Kriegsjahren oft Ziel von Bombenangriffen, waren größtenteils zerstört. Die vorrückenden alliierten Truppen hatten mit Spezialmissionen wie ALSOS wichtige Wissenschaftler – vor allem aus der Atomphysik – gefangen zu nehmen, zu verhören sowie auf Affinitäten zur NS-Ideologie bzw. zum Machtapparat der Nazis zu überprüfen. Auch mehrere Forscher der damaligen wissenschaftlichen Spitzenorganisation Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gerieten in Kriegsgefangenschaft, andere kamen ins Gefängnis oder wurden ihrer Ämter enthoben.
Verstrickungen in die NS-Politik, Auslagerungen und Internierungen
Bereits 1943 hatte die 1911 gegründete, eher monarchisch als NS-freundlich gesinnte "Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V." begonnen, ihre Institute in Berlin-Dahlem wegen der andauernden Bombenangriffe auszulagern. Atomphysiker Werner Heisenberg war nach Haigerloch bei Hechingen "abgetaucht", wo er sich mit Carl-Friedrich von Weizsäcker in der Stille der Schwäbischen Alb bemühte, den ersten deutschen Atomreaktor bis zur Erreichung der kritischen Masse voranzubringen, also bis zur selbständig ablaufenden Kettenreaktion der Uranspaltung. Otto Hahn, der Entdecker der Kernspaltung, war mit Teilen seines Kaiser-Wilhelm-Instituts nach Albstadt-Tailfingen ausgelagert worden. Andere in Dahlem angesiedelte Institute der KWG wurden samt Personal, technischem Gerät und Labormaterial nach Göttingen in die Nähe der Aerodynamischen Versuchsanstalt verlegt. Dort gab es mehrere leerstehende Gebäude, die jedoch bald aus allen Nähten platzten.
Am 8. Mai 1945 endete mit der Kapitulation des in vier Zonen aufgeteilten Deutschland durch alliierte Okkupationstruppen das "Dritte Reich". Es bildete sich jedoch kein rechtsfreier in diesem staatenlosen Raum, sondern neben das Besatzungsstatut traten bis Ende 1945 peu à peu die neu formierten Länder mit ihren von den jeweiligen Alliierten ernannten Ministerpräsidenten, um neue Verwaltungsstrukturen auszubilden.
Die östlich der Oder-Neiße-Linie gelegenen, meist biologisch, botanisch oder ornithologisch orientierten Institute und Forschungsstellen der KWG mussten voll und ganz abgeschrieben werden. Auch wurden bestimmte Institute, zm Beispiel das KWI für Hirnforschung und das KWI für Anthropologie und Erblehre, von den Alliierten aufgelöst, weil dort verbotene Versuche mit Pharmaka an Menschen vorgenommen oder weil Blutproben und Leichenteile von KZ-Häftlingen für Forschungszwecke verwendet worden waren. Einzelne KWG-Wissenschaftler wie Otmar von Verschuer, Eugen Fischer, der Schweizer Psychiater Ernst Rüdin oder der Rassehygieniker Fritz Lenz hatten sich schuldig gemacht, weil sie die ideologischen Ziele der NS-Regierung unterstützten oder Forschungsarbeiten über Rassenkunde, Erbkrankheiten bzw. unheilbare Krankheiten zum Nachteil der davon betroffenen Menschen unternommen und veröffentlicht hatten. Lenz und Verschuer wurden jedoch nicht verhaftet, es gelang ihnen vielmehr, nach wenigen Jahren der stillen Zurückhaltung wieder an einer deutschen Universität als Dozent bzw. Professor Fuß zu fassen. Dabei waren beide aufgrund der für sie günstigen politischen Konstellation erst ab 1937 als wissenschaftliche Mitarbeiter in die KWG eingetreten. Lenz' Sohn Widukind, ebenfalls Arzt, klärte in den 1960er-Jahren den Contergan-Skandal auf, als er den Zusammenhang zwischen dem Wirkstoff Thalidomid im Schlafmittel Contergan und den Missbildungen von Neugeborenen aufdeckte. Auch hatten KWG-Wissenschaftler im Zweiten Weltkrieg keine verbotenen Kampfstoffe entwickelt oder zum Einsatz gebracht. Im Nürnberger Ärzteprozess 1947 wurden keine an der KWG forschenden Mediziner verurteilt.
Zehn der damals wichtigsten KWG-Forscher, überwiegend Atomphysiker, wurden im Juni 1945 von Deutschland auf das abgelegene Gehöft Farmhall bei Cambridge, England, verbracht, wo sie ein halbes Jahr interniert wurden. Dies bedeutete zumindest einen Stillstand in der Forschung, vielleicht auch eine Zäsur. In Farmhall erfuhren Hahn, Heisenberg, von Weizsäcker und andere aus dem Radio vom Abwurf der ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945. Die weitgehend von der Außenwelt isolierten deutschen Forscher trafen damals mit hochrangigen englischen Wissenschaftlern von der Royal Society zusammen, deren auswärtiges Mitglied der in Deutschland verbliebene Physiker Max Planck war. Die Londoner Regierung, Besatzungsmacht in der britischen Zone mit Göttingen als altem Wissenschaftszentrum, suchte deutsche Wissenschaftler und Politiker, denen sie vertrauen und mit denen sie auf einer vernünftigen politischen Grundlage kooperieren konnte. Die Wahl fiel auf Otto Hahn als "Mann der Zukunft" und Nachfolger des greisen Max Planck.
Hahn hatte 1938 mit seinem Mitarbeiter Fritz Strassmann in Berlin die Atomkern-Spaltung des Urans entdeckt, aufgrund derer es möglich wurde, eine Atom-Bombe ("Uran-Bombe") mit bisher nie da gewesener, zerstörerischer Kraft zu bauen. Otto Hahn, der 1904–1906 als ein erster Post-doc bei William Ramsay, dem Entdecker der Edelgase, in London sowie bei Ernest Rutherford, der unter anderem die radioaktive Halbwertzeit entdeckt hatte, in Montreal arbeitete, galt als weltoffener, umgänglicher Mensch mit Humor. Auf ihn setzten die englischen Wissenschaftler und hohen Militärs. Bereits in London wurde ihm mitgeteilt, dass die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft aufgelöst werden müsse und eine Nachfolge-Institution nicht mehr diesen Namen führen dürfe. Vorstellbar sei eine Benennung nach dem Physiologen und Physiker Hermann von Helmholtz oder dem Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz. Die Nachfolge-Einrichtung der KWG sollte überdies keine angewandte, sondern nur noch Grundlagenforschung betreiben dürfen.
Chaos, Dramen und "der Mann der Zukunft" in der Wissenschaftslandschaft
Die aus Internierung oder Kriegsgefangenschaft überwiegend gesund und wohlbehalten zurückkehrenden deutschen Forscher verzagten angesichts der katastrophalen Lebensumstände in ihrer Heimat ebenso wenig wie die in ihren Instituten verbliebenen KWG-Wissenschaftler. Es galt das formale Prinzip: Jeder konnte an seinen früheren KWG-Arbeitsplatz zurückkehren, sofern er sich in der NS-Zeit nichts hatte zuschulden kommen lassen. Er musste hierfür eine offizielle Erklärung unterschreiben und sich gegebenenfalls gegenüber dem Institutsdirektor offenbaren. Anfangs gab es oft nur stundenweise Strom und Wasser in den Instituten, wenig zu essen und zu heizen. Es fehlte oft am Allernotwendigsten, auch in den Ausstattungen der Institute. Dennoch ging es bald wieder voran, auch weil die KWG-Generalverwaltung in Berlin ab 1943 begonnen hatte, einige Millionen Reichsmark als Reserven zurückzulegen, die nun ausgegeben wurden.
Nach dem Freitod Albert Vöglers, des letzten KWG-Präsidenten in der NS-Zeit, der den alliierten Soldaten nicht in die Hände fallen wollte, übernahm am 24. Juli 1945 auf Wunsch der Institutsdirektoren der 87-jährige Max Planck die Funktion des kommissarischen KWG-Präsidenten, bis "der Mann der Zukunft", Otto Hahn, aus England zurückgekehrt war. Plancks Präsidentenamt in der KWG war 1936 auf Wunsch der NS-Regierung nicht verlängert worden; sein Sohn Erwin war im Zusammenhang mit den Verschwörung des 20. Juli 1944 kurz vor Kriegsende hingerichtet worden.
Auch wenn Otto Hahn, dessen KW-Institut für Chemie seit 1944 nach Tailfingen ausgelagert war, bereits im 67. Lebensjahr stand, so gehörte zumindest seiner Entdeckung der Kernspaltung scheinbar die Zukunft: zunächst in ihrer kriegerischen Anwendung im August 1945 mit den Atombomben auf Japan, danach in der Atomenergie. In USA entstanden damals die ersten, kleinen Atomkraftwerke als Energielieferanten, es folgten atomgetriebene U-Boote sowie Frachtschiffe. Das erste deutsche Forschungsschiff mit Atomantrieb erhielt den Namen Otto Hahns und wurde 1968 in Dienst gestellt.
Koexistenz von Desaster und Neuanfang
Beim Neuanfang ging es keineswegs chronologisch vorwärts: Am 12. Juli 1945 wurden die drei Direktoren des KWI für Metallforschung in Stuttgart für ca. sieben bis acht Monate in Ludwigsburg durch die alliierte Besatzungsmacht Frankreich interniert. Dieses Institut war stark in die Rüstungsforschung des "Dritten Reichs" involviert, und sein Direktor Werner Köster forschte danach einige Zeit am Bodensee für die französische Besatzungsmacht, bevor er wieder an seinen früheren Arbeitsplatz in Stuttgart zurückkehren konnte.
Politisch ausgeschaltet wurden die lautesten Unterstützer des NS-Regimes. Vor allem der Schweizer Ernst Rüdin, Leiter des KW-Instituts für Psychiatrie in München, der den ersten wissenschaftlichen Kommentar zum "NS-Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 1. November 1934 publiziert hatte, das die Heirat von sogenannten "Ariern" mit Juden massiv erschwerte und sanktionierte. Rüdin musste zurücktreten, die Schweiz aberkannte ihm seine Staatszugehörigkeit. Rüdins Nachfolger wurde Willibald Scholz, der aber als sein früherer Assistent in München selbst an "Euthanasie"-Aktionen wie "T4" beteiligt war, wie die 1998 einberufene Präsidentenkommission zur Verstrickung von KWG-Wissenschaftler in die Verbrechen der NS-Zeit feststellte.
Der Direktor am KWI für Biochemie Adolf Butenandt, der 1939 für seine Entdeckung der weiblichen Sexualhormone den Chemie-Nobelpreis erhalten hatte, ihn aber offiziell ablehnen musste, wurde dagegen am 1. Dezember 1945 durch eine Professorenstelle an der Universität Tübingen materiell abgesichert. Dort sammelte der spätere Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, dem der Vorwurf der NSDAP-Mitgliedschaft gemacht wurde, die Reste seines KWI für Biochemie, das 1956 nach München verlegt wurde.
Es gab daneben zahlreiche strukturelle Veränderungen in der Forschungslandschaft: Das KWI für Kulturpflanzenforschung zog am 1. Oktober 1945 von Stecklenberg im Harz in die Domäne Gatersleben bei Quedlinburg, das als neues Versuchsgut genutzt wurde. Am gleichen Tag übersiedelte das KWI für Tierzuchtforschung von Dummersdorf bei Rostock auf das Remontegut Mariensee bei Hannover und nannte sich ab 1. Januar 1946 KWI für Tierzucht und Tierernährung. Am 17. Oktober 1945 erfolgte der Umzug des KWI für landwirtschaftliche Arbeitswissenschaft aus Kleinau bei Trebnitz/Schlesien auf das Gut Imbshausen bei Northeim. Weiter nahm zum Beginn des Jahres 1946 das KWI für Seenforschung und Seenbewirtschaftung in Langenargen am Bodensee seine infolge des Kriegs unterbrochene Tätigkeit wieder auf. Bis 1945 firmierte es als Deutsch-Italienisches Institut für Meeresbiologie in Rovigno. Schließlich wurde noch die KW-Forschungsstätte für Virusforschung mit ihren verschiedenen Abteilungen mit den nach Hechingen und Tübingen verlagerten Abteilungen des KWI für Biologie sowie des KWI für Biochemie zusammengelegt. Zum Leiter des neu entstandenen Tübinger Kaiser-Wilhelm-Instituts für Biologie wurde der NS-Gegner Georg Melchers ernannt. Oft waren die lokalen Umstrukturierungen auch mit einer Neuorientierung der Forschungsprogramme verbunden.
Dahlemer wissenschaftliches Colloquium (© Bundesarchiv, Bild 183-2003-0612-500 Fotograf: Laupenmühlen)
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Dahlemer wissenschaftliches Colloquium (© Bundesarchiv, Bild 183-2003-0612-500 Fotograf: Laupenmühlen)
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Im Oktober 1946 konnte das Dahlemer wissenschaftliche Colloquium erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder stattfinden; geleitet wurde es von Robert Havemann (ganz hinten). Dr. Taylor, Chef der Abteilung Erziehung und Religion bei der amerikanischen Militärregierung, überbrachte ein Begrüßungsschreiben von General Lucius D. Clay.
Überraschend kam es auch zu einer Neugründung: In Göttingen entstand am 3. Mai 1946 das Institut für Instrumentenkunde in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft aufgrund einer Übereinkunft zwischen des Research Branch/CCG der Alliierten und der KWG. Beachtlich war ab 1. Juni 1946 der Wiederaufbau des Dahlemer KWI für Physik in den Räumen der Aerodynamischen Versuchsanstalt Göttingen, an der im Zweiten Weltkrieg Kriegsflugzeuge erprobt worden waren und deren Hallen nach der Demontage weitgehend leerstanden. Da der frühere Institutsdirektor, der niederländische Physiker Peter Debye 1940 in die USA emigriert war, nun aber nicht mehr zurückkehren wollte, ernannte der am 3. Januar 1946 aus Farmhall heimgekehrte Otto Hahn den zurückkehrenden Werner Heisenberg zum neuen KWI-Direktor und den Physik-Nobelpreisträger von 1914 Max von Laue zu dessen Stellvertreter. Carl Friedrich von Weizsäcker leitete die Abteilung für theoretische Physik. Das Kältelabor der KWI-Physiker, das in Berlin-Dahlem zurückgeblieben war, ging allerdings verloren. Es wurde demontiert und in die UdSSR abtransportiert, sein Leiter Ludwig Bewilogua folgte in die Sowjetunion. Robert Havemann, den die Sowjets als kommissarischen Leiter der Kaiser-Wilhelm-Institute in Berlin eingesetzt hatten, hatte am 14. Dezember 1945 noch Wilhelm Eitel als Direktor des Instituts für Silikatforschung abgesetzt. Eitel emigrierte nach USA. Havemann verwaltete die in Berlin verbliebenen KW-Institute, die er auflösen und der in Gründung begriffenen Akademie der Wissenschaften (später: Akademie der Wissenschaften der DDR) zuschlagen wollte. In einem Zeitungsbericht aus Ost-Berlin hieß es, dass die alte Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft "als Instrument der Kriegsführung und Werkzeug des Monopolkapitalismus ihre Tätigkeit ein- für allemal eingestellt" habe. Akademie-Präsident Johannes Stroux gab gleichzeitig die Eingliederung der KW-Institute in die Akademie bekannt. Damit war die Trennung der KWG in Ost und West vollzogen.
Brain Drain, Nobelpreis für Otto Hahn und weitere Klärung der Wissenschaftslandschaft
In Westdeutschland galt es, gegen einen "Brain Drain" anzukämpfen, da zahlreiche KWG-Wissenschaftler angesichts der allgemeinen wie speziellen Notlage der Wissenschaften emigrierten. Der Astrophysiker Heinz Haber, KWI für physikalische und Elektrochemie, war von 1946 bis 1952 an der US Air Force School of Aviation Medicine, Randolph Field, Texas, tätig und dorthin im Rahmen der Aktion "Paperclip" verbracht worden. Thomas Benzinger, KWI für Medizinische Forschung in Heidelberg, ging an das Naval Medical Research Institute in Bethesda bei Washington. In die USA emigrierten weiterhin Wilhelm Eitel (KWI für Silikatforschung), der Elektronen-Mikroskop-Forscher Horst Kedesky, der Spezialist für die Fischer-Tropsch-Synthese Helmut Pichler, KWI für Kohlenforschung in Duisburg, Richard Lindenberg, KWI für Hirnforschung, während dessen Auslagerung von Berlin nach München, sowie Wolfgang Ramm vom KWI für Physik in Hechingen.
Max Planck gratuliert Otto Hahn zum Nobelpreis, ca. Anfang 1946. Im Hintergrund Max von Laue, Adolf Windaus und Werner Heisenberg (v.l.). (© Max-Planck-Gesellschaft)
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Max Planck gratuliert Otto Hahn zum Nobelpreis, ca. Anfang 1946. Im Hintergrund Max von Laue, Adolf Windaus und Werner Heisenberg (v.l.). (© Max-Planck-Gesellschaft)
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In diese triste Abgangsstimmung platzte am 15. November 1945 die Nachricht vom Nobelpreis für Otto Hahn. Die verbliebenen Mitglieder der KWG fühlten sich nun doch nicht von aller Welt verlassen. Hahn erhielt den Nobelpreis für das Jahr 1944, konnte diesen jedoch wegen seiner andauernden Internierung erst im Dezember 1946 entgegennehmen. Ebenso reisten Gerhard Domagk (Medizin 1939) und später auch Adolf Butenandt (Chemie 1939) nach Stockholm, um die ihnen damals von der NS-Regierung verwehrten Nobelpreise abzuholen. Das dringend benötigte Preisgeld wurde ihnen jedoch nicht mehr ausgezahlt. Nobelpreisträger Butenandt, der 1934 in Nachfolge von Carl Neuberg Direktor am KWI für Biochemie geworden war und als NSDAP-Mitglied ab 1936 an biologischen Zeitschriften mit NS-Ausrichtung mitgewirkt hatte, stand auf einer Fahndungsliste der US-Behörden, von der er erst am 23. Juni 1947 gestrichen wurde. Die französische Militärverwaltung, in deren Besatzungszone er sich befand, behandelte ihn mit Respekt, billigte ihm politische Bewährung zu und lud ihn bereits 1946 zu einem Treffen nach Paris an die Académie Nationale de Médecine ein. Sie schützte ihn mehrmals vor direktem Zugriff der Amerikaner. Butenandt, der zunächst die politisch wenig mutige These seines Lehrers Nobelpreisträger Adolf Windaus vertrat, man solle "abwarten, bis das Gewitter vorüber ist", zeigte sich bereits 1949 lernfähig, als er öffentlich bekannte, mit der bevorstehenden Gründung des Deutschen Forschungsrats könnte "das Unrecht der Vergangenheit" korrigiert werden. Gegenüber Otto Hahn, dessen direkter Nachfolger als Präsident der Max-Planck-Gesellschaft er von 1960 bis 1972 werden sollte, regte Adolf Butenandt bereits 1947 an, den Physiker und Nobelpreisträger James Franck aus den USA zurückzuholen – was jener jedoch ablehnte. Ebenso wenig wollte Otto Meyerhof, Medizin-Nobelpreisträger von 1922, der 1923 einen Ruf nach USA erhalten und zugunsten einer Berufung an das KWI für Biologie in Berlin abgelehnt hatte, wieder von Amerika nach Deutschland remigrieren. Die damals initiierten Rückrufe emigrierter KWG-Forscher wurden in späteren Jahren erneuert, jedoch mit wenig Erfolg. Auch Albert Einstein, Hätschelkind und "enfant terrible" der Vorkriegs-KWG, zog es vor, in Princeton zu bleiben.
Am 1. April 1946 war Otto Hahn von Max Planck zum kommissarischen Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ernannt worden. Er wurde zu ihrer prägenden Gestalt. Von Hahn, der sich in der NS-Zeit für seine Mitarbeiterin Lise Meitner eingesetzt und 1933, nachdem Meitner die Lehrerlaubnis durch die Berliner Universität entzogen worden war, aus Protest sein eigenes Ordinariat zurückgegeben hatte, war jedoch hinsichtlich der NS-Zeit kein "mea culpa" zu vernehmen, wie sich viele dies wohl gewünscht hätten. Hahn reagierte anders, differenzierter. Zudem prangerte er 1947 in einem Zeitungsartikel der "Göttinger Nachrichten" offen die andauernde Demontage von Industrieanlagen durch die Alliierten an, während die Bevölkerung Hunger litt.
KWG und MPG – keine Alternative und kein offener politischer Gegensatz
Nervös wurden die KWG-Wissenschaftler, als über Rundfunk die Meldung verbreitet wurde, der Allliierte Kontrollrat würde die Auflösung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft beschließen. Otto Hahn bat im März 1947 die zehn deutschen Nobelpreisträger, sich in Telegrammen an die westalliierten Gouverneure für den Erhalt der KWG einzusetzen. Es unterschrieben bzw. meldeten sich alle zehn: neben Otto Hahn selbst Adolf Butenandt, Gerhard Domagk, Werner Heisenberg, Richard Kuhn, Max von Laue, Max Planck, Otto Warburg, Heinrich Wieland und Adolf Windaus. Unterstützt wurden sie durch die inzwischen installierten Ministerpräsidenten der Länder. Weil Hahn jedoch eine Änderung des Telegrammtextes an die Alliierten durch den bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard nicht duldete, unterzeichnete dieser nicht. Telegrafiert haben die Ministerpräsidenten von Württemberg-Baden Reinhold Maier, Nordrhein-Westfalen Rudolf Amelunxen und Niedersachsen Hinrich Wilhelm Kopf. Sie adressierten ihr Schreiben an General Lucius D. Clay, Air Marshal Sir Sholto Douglas und General Brian Robertson.
Am 10. Juli 1946 war Hahn vom englischen Verbindungsmann Colonel Bertie K. Blount darüber informiert worden, dass das Allied Education Committee gemeinsam mit dem Economic Directorate die Auflösung der KWG beschlossen habe. Umgesetzt wurde der Beschluss jedoch nicht, weil das Legal Directorate am 20. Dezember 1946 seine Zustimmung verweigerte – dies war jedoch nicht bekannt.
Um größeren materiellen Verlusten im Falle einer Auflösung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vorzubeugen, wurde die Gründung der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) in der Britischen Zone beschlossen. Sie fand am 11. September 1946 im Theologischen Konvikt Clementinum zu Bad Driburg statt. Die Gründung erfolgte ganz im Sinne Otto Hahns, der politisch zweigleisig operieren wollte. Zu den Gründungsmitgliedern der MPG zählten gestandene NS-Gegner wie Adolf Grimme, Kultusminister des Landes Niedersachsen, die Farmhall-Internierten Max von Laue, Otto Hahn und Walther Gerlach sowie Nobelpreisträger Adolf Windaus. Der Gründungsversammlung wohnten auch die drei Rektoren der Universitäten Bonn, Heinrich Konen, Münster, Georg Schreiber, und Göttingen, Hermann Rein, bei. Insgesamt 13 Kaiser-Wilhelm-Institute auf britischem Besatzungsgebiet schlossen sich der MPG an. Otto Hahn wurde deren erster Präsident und der frühere KWG-Generaldirektor Ernst Telschow ihr Generalsekretär. An Telschow entzündete sich ein Streit, weil dieser als Generaldirektor der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1933 als einer der wenigen ihrer Mitglieder in die NSDAP eingetreten war. Doch mehr als die Umsetzung des "Arierbeschlusses" konnte man Telschow nicht nachweisen, zumal die KWG auch damals der finanziellen Unterstützung der öffentlichen Hand bedurft hatte.
Aus wirtschaftlichen Erwägungen wurde vorerst auf eine sofortige Umfirmierung der KWG in MPG verzichtet. Auch blieben die Kaiser-Wilhelm-Institute in der amerikanischen, der französischen und der sowjetischen Zone von dieser Neugründung unberührt. Dies änderte sich ein Jahr später am 10. September 1947 nach einer Unterredung des MPG-Präsidenten Hahn mit dem Oberkommandierenden der amerikanischen Besatzungszone Lucius D. Clay, der der gewünschten Ausweitung der MPG auf die Bizone zustimmte. Der des Englischen mächtige Otto Hahn machte in dieser angeblich hitzig geführten Unterredung dem alliierten Hochkommissar nochmals deutlich, dass die KWG keine nazistische Organisation gewesen war.
Gründungsversammlung der Max-Planck-Gesellschaft in der Kantine der Aerodynamischen Versuchsanstalt Göttingen, 26. Februar 1946. (© Max-Planck-Gesellschaft)
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Gründungsversammlung der Max-Planck-Gesellschaft in der Kantine der Aerodynamischen Versuchsanstalt Göttingen, 26. Februar 1946. (© Max-Planck-Gesellschaft)
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Im Rahmen einer kleinen Feierstunde in der Göttinger Institutskantine wurde am 26. Februar 1948 der Zusammenschluss der MPG in der britischen mit den KWG-Instituten in der amerikanischen Besatzungszone zur "Max-Planck-Gesellschaft in der Bizone" gefeiert. Das Datum gilt deshalb als Geburtsstunde der MPG. Die französische Militärverwaltung wünschte jedoch keinen Anschluss der in ihrem Einflussbereich liegenden Kaiser-Wilhelm-Institute an die neue Gesellschaft und keine neuen, übermächtigen Zentralstrukturen für die deutsche Wissenschaft. Doch nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949 stimmte auch sie ohne Zögern der Eingliederung der Kaiser-Wilhelm-Institute ihrer früheren Besatzungszone in die MPG zu.
Die Kaiser-Wilhelm-Institute mussten nicht aufgelöst werden. Doch sollten keine Institutsneugründungen unter diesem Namen mehr vorgenommen werden, sodass mit der Änderung der Forschungsschwerpunkte bis ca. 1960 der Name der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ohne jede Zwangsmaßnahme aus der Öffentlichkeit verschwand.
Die Finanzierung der Max-Planck-Gesellschaft erfolgte von Anfang an durch einen – seitdem mehrfach veränderten – Bund-Länder-Schlüssel. Zum Zeitpunkt ihrer Gründung stützte die MPG sich auf ein Haushaltsvolumen von ca. sieben Millionen D-Mark und auf 20 Institute. Nur zwölf Jahre später umfasste sie bereits 40 Institute und Forschungseinrichtungen mit einem Jahresetat von ca. 80 Millionen D-Mark. Heute forschen in- und außerhalb Deutschlands an 80 Max-Planck-Instituten und Forschungseinrichtungen ca. 4.100 Wissenschaftler sowie über 10.000 Doktoranden und Gastwissenschaftler. Das Jahresbudget beträgt rund 1,3 Milliarden Euro. Das Max-Planck-Institut für Kohlenforschung, das MPI für Eisenforschung sowie das Fritz Haber-Institut in der MPG sind rechtlich weitgehend selbständig.
Reeducation, politisches Beharrungsvermögen und das "Aussterben der Gegner"
Gegenüber den deutschen Wissenschaftlern zeigten sich die Alliierten streng, jedoch nicht verständnislos. Eine Politik der Tabula rasa betrieben sie nicht, sondern sie waren auf Verständigung aus. Wer allerdings gegen die USA, Großbritannien oder Frankreich Krieg geführt bzw. diesen unterstützt hatte, stand außerhalb dieses Wohlwollens. Der Wissenschaftspolitik der Alliierten entsprach eine Überlegung des Nobelpreisträgers Max Plancks. Planck hatte wegen der von ihm um 1900 begründeten Quantenphysik mit einer Vielzahl wissenschaftlicher wie politischer Gegner zu kämpfen. Er meinte, dass es unmöglich sei, alle Gegner zu widerlegen, doch werde die Anzahl der Gegner sinken – durch natürliche Weise, also durch den Tod –, und die jungen, nachwachsenden Wissenschaftler würden von Anfang an mit seiner neuen These vertraut werden und sie als annehmen.
In ähnlicher Weise erfolgte der Übergang von der traditionsreichen Kaiser-Wilhelm- zur Max-Planck-Gesellschaft. Personell gab es keine wesentlichen Änderungen. Otto Hahn, der Mann der letzten Stunde der KWG, war auch der Mann der ersten Stunde der MPG am 26. Februar 1948 in Göttingen. Mit diesem neuen Wissenschaftsverein konnten die Alliierten ein wesentliches Ziel ihrer "Reeducation" erreichen: den Abbau politischer Spannungen. Schließlich kam den KWG-Wissenschaftlern auch zugute, dass ihre Gesellschaft bereits seit den 1920er-Jahren einen regen Austausch von Gastwissenschaftlern mit dem Ausland pflegte. So trat bis in die Gegenwart der übernationale Aspekt der Wissenschaften mehr und mehr in den Vordergrund, während die nationale Komponente der Forschung zunehmend verdrängt wurde. Die früher oft herbeigewünschte "scientific community" existiert heute wirklich.
Fazit
Der Sitz der Max-Planck-Gesellschaft in der Göttinger Bunsenstraße, Aufnahme von 1968. (© Ludwig Wegmann / Bundesregierung, B 145 Bild-F027450-0008.)
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Der Sitz der Max-Planck-Gesellschaft in der Göttinger Bunsenstraße, Aufnahme von 1968. (© Ludwig Wegmann / Bundesregierung, B 145 Bild-F027450-0008.)
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Die Gründungsgeschichte der MPG zeigt, dass das Beharrungsvermögen, das Planck, Hahn und Gefährten nach dem 8. Mai 1945 an den Tag legten, nicht nur der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und der Max-Planck-Gesellschaft zugute kamen, sondern auch den politischen Zusammenhalt der entstehenden Bundesrepublik Deutschland förderte. Heute sehen sich die MPG-Wissenschaftler keineswegs mehr in einem Elfenbeinturm isoliert von den politischen Geschehnissen lebend, wie die KWG-Forscher in den 1920er- und 30er-Jahren, sondern sie nehmen aktiv Anteil an der politischen Gestaltung des Landes. Politische Stellungnahmen von Wissenschaftlern sind möglich und auch erwünscht. So in den 1950er-Jahren im Göttinger Appell von 1957, als sich 18 Wissenschaftler, meist aus der MPG, gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr wandten, die von Bundes-verteidigungsminister Franz Josef Strauß und von der NATO befürwortet und gefordert wurde. MPG-Präsident Otto Hahn setzte im gleichen Jahr mit dem elsässischen Friedens-Nobelpreisträger Albert Schweitzer seine Unterschrift unter ein internationales Manifest, das vom damaligen US-Präsident Dwigth D. Eisenhower den sofortigen Stopp aller überirdischen Atomwaffentests verlangte. Trotzdem – oder gerade deswegen – wurde Hahn überhäuft mit Ehrendoktor-Titeln und Ehrenmitgliedschaften von weltweit 45 Akademien. Frankreichs Präsident Charles de Gaulle erhob ihn in den Rang eines Offiziers der Ehrenlegion. Die Ehrenbürgerschaft von Magdeburg (damals DDR) und die Mitgliedschaft in der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften lehnte Hahn jedoch ab.