Sammelrezension zu:
Heike Tuchscheerer: 20 Jahre vereinigtes Deutschland: eine 'neue' oder 'erweiterte' Bundesrepublik? (Extremismus und Demokratie; 20), Baden-Baden: Nomos 2010, 388 S., € 49,–, ISBN: 9783832958138.
Kurt Bohr, Arno Krause (Hg.): 20 Jahre Deutsche Einheit. Bilanz und Perspektiven (Denkart Europa; 13), Baden-Baden: Nomos 2011, 276 S., € 38,–, ISBN: 9783832963620.
Andreas Kost, Werner Rellecke, Reinhold Weber (Hg.): Parteien in den deutschen Ländern. Geschichte und Gegenwart (Beck'sche Reihe; 1.956), München: Beck 2010, 547 S., € 19,95, ISBN: 9783406606502.
Steffen Kachel: Ein rot-roter Sonderweg? Sozialdemokraten und Kommunisten in Thüringen 1919 bis 1949 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe; 29), Köln u.a.: Böhlau 2011, 599 S., € 64,90, ISBN: 9783412205447.
"20 Jahre vereinigtes Deutschland"
Die "Berliner Morgenpost" meldete am 25. Juli 2011: "Die Berliner Republik zieht in die Berge"; gemeint war, dass Angela Merkel und andere Politiker in den Urlaub fahren würden. Was im journalistischen Jargon bereits Alltagssprache ist, muss in der Politikwissenschaft nicht gelten. Das meint Heike Tuscheerer, die wissen will, ob nach 20 Jahren Einheit noch die "Bonner", das heißt eine "erweiterte" oder doch die "Berliner", also eine "neue Bundesrepublik" existiere.
Wer sich fragt, worin das Problem liegt, der wird mit der Befürchtung konfrontiert, dass Veränderungen dazu führen könnten, das aus föderaler Struktur, Westbindung, sozialer Marktwirtschaft und europäischer Integration gebildete Koordinatensystem der Bundesrepublik aufzugeben und damit die Stabilität des Systems zu gefährden. Damit nicht genug. Tuchscheerers Koordinaten sind neben der institutionellen Ordnung und dem Föderalismus die Sozial- und Wirtschaftsordnung, die Außenpolitik, die politischen Kultur und das Parteiensystem sowie der politische Extremismus und die streitbare Demokratie.
Veränderungen sollen einerseits auf der Grundlage der Beobachtung und Beschreibung von Entwicklungen rechtlicher und anderer Normen sowie von Rahmenbedingungen, beispielsweise im Bereich Sozial- und Wirtschaftsordnung oder in der Außenpolitik, und andererseits auf der Grundlage der Auswertung von empirisch erhobenen Daten, so im Bereich Politische Kultur registriert werden. Die Relevanz der Untersuchungsbereiche wird mit ihrer Bedeutung für das politische System begründet. Die Konstruktion von Interdependenzen soll die Zusammenhänge herstellen, obwohl – so Doktorvater Eckhard Jesse im Vorwort – "in gewisser Weise die Ausführungen auch so für sich stehen" könnten (5). Das wäre ihnen nicht schlecht bekommen, denn manche Verknüpfung erscheint sehr gewollt: "Die bundesstaatliche Gewaltenteilung des Föderalismus spiegelt sich in der Ausgestaltung der institutionellen Ordnung wider – die politische Kultur ist bemüht, Verfassungskonsens herzustellen." (44f) Doch so ist es möglich, die Themen "Politischer Extremismus" und "Streitbare Demokratie", die nach dem oben zitierten Verständnis in den Bereich Politische Kultur gehören, extra abzuhandeln.
Ob etwas "erweitert" oder "neu" wurde, bestimmt sich nach strukturellen wie nach qualitativen Kriterien. Wurden alte Strukturen auf das Beitrittsgebiet ausgedehnt, liegt eine Erweiterung vor. Können Differenzen gegenüber den alten Verhältnissen und Strukturen registrieren werden, spricht das für eine neue Republik. Je stärker der Wandel, desto neuer die Republik.
In den einzelnen Untersuchungsbereichen werden verschiedene Politikfelder abgehandelt. Im Bereich Institutionelle Ordnung sind das der Einigungsvertrag und die Gemeinsame Verfassungskommission, im Bereich Wirtschafts- und Sozialordnung die Felder Wirtschaftspolitik, Finanzpolitik, Beschäftigungs- und Lohnpolitik sowie Sozialpolitik. Im Bereich Politische Kultur wird unter anderem nach der Entwicklung der nationalen Identität und der Akzeptanz der Demokratie gefragt. Die Veränderungen im Parteiensystem werden an Hand der Kriterien Fragmentierung, Polarisierung, Asymmetrie, Legitimität, Volatilität und Segmentierung geschildert; zusätzlich wird die Regierungsstabilität analysiert. Im Kapitel über "Politischen Extremismus" befasst sich die Autorin mit rechts- und linksextremen Parteien, mit "Intellektuelle(n) Ausprägungen der politischen Extreme" ("Neue Rechte" – "Neue Linke"), mit "Gewalttätige(n) Ausprägungen der politischen Extreme" sowie mit extremistischen Einstellungen in der Bevölkerung. Im Kapitel über die "Streitbare Demokratie" wird die freiheitliche demokratische – falsch "freiheitlich-demokratische" (244) – Grundordnung als "werthafte Demokratie'' definiert und deren Wertegebundenheit und Abwehrbereitschaft sowie die "Vorverlagerung des Demokratieschutzes" (Art. 18 GG) abgehandelt. Die herbe Kritik an Verfassungsschützern für ihre Berichte über "Die Linke" – sie sollten sich "weniger am Zeitgeist, denn an rechtsstaatlichen Prinzipien orientieren" (259) – entspricht dem belehrenden Ton der Autorin, die die streitbare Demokratie aus ihrer Defensive holen möchte. Schließlich wird die Außenpolitik vor der Vereinigung anhand der Römischen Verträge (1957) sowie der Ostpolitik abgehandelt. Nach der Einheit wird die Situation Deutschlands sowohl in Hinsicht auf die deutsche Position in der Europäischen Union als auch bezüglich der EU-Erweiterung und -Vertiefung beschrieben; die transatlantische Partnerschaft wird ebenfalls gestreift.
Nicht nur das Resümee der Ergebnisse im Kapitel "Vergleichende Bewertung" zeigt mehrdeutige Urteile. Die institutionelle Ordnung wurde "erweitert", aber direktdemokratische Beteiligungsformen nicht ausgebaut, denn es "fehlen bei Vielen die Voraussetzungen für eine vernünftige Art der Beteiligung am politischen Prozess" (299). Empirische Untersuchungen bestätigen, dass die Bevölkerung, anders als die politischen Eliten, die repräsentative Demokratie immer weniger akzeptiert und die direkte Demokratie bevorzugt.
Manches wie die Föderalismusreform sei durch Notwendigkeiten der Politikgestaltung, nicht durch die Einheit, belebt worden. Die Eigentums- und Wirtschaftsordnung die Bundesrepublik sei erweitert worden, Einkommensverhältnisse hätten sich nicht angeglichen. Das Sozialversicherungssystem verzeichne weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht einen "Übergang von der Bonner zur Berliner Republik" (304). Im Bereich der politischen Kultur sei die Situation ambivalent. Defizite gebe es bei der Ausprägung einer gesamtdeutschen Identität, beim Vertrauen in die Institutionen und den Einstellungen zur sozialen Markwirtschaft. Weil – bei Gleichgültigkeit gegenüber der Flagge – die Loyalität zur vereinigten Bundesrepublik überwiegt, dürften die ehemaligen DDR-Bürger ruhig ein bisschen Nostalgie pflegen: "Die Ostdeutschen müssen ihr früheres Regime nicht vollständig leugnen, um überzeugte Demokraten zu sein" (186). War dann doch nicht alles schlecht gewesen?
Im Parteiensystem halten sich Wandel und Kontinuität die Waage; neu ist nur das Erscheinen der "Linken". Kontinuität zeigt sich auch im Bereich des politischen Extremismus, der gehörte und gehört zum Alltag in Deutschland und gefährdet die Stabilität der Demokratie nicht (313). Die "Einzigartigkeit" der streitbaren Demokratie bestehe weiter (315). In der Außenpolitik führten sicherheitspolitische Veränderungen zur neuen Republik, in der EU wirken Kontinuitäten solange fort, bis sich die erweiterte Republik stärker an EU geführten Militärmissionen beteiligt.
Die Ergebnisse der Darstellungen bestätigen, dass Deutschland mehr die neue und weniger die alte Republik darstellt. So richtig neu solle sie nicht werden, vielmehr sei, so Tuchscheerer, die "Erweiterung" die Perspektive der Entwicklung. Das hänge allerdings davon ab, wie sich das Zusammenwachsen und wie sich Europa entwickeln würde. In Deutschland fehle ein Grundkonsens, sie nennt ihn das gegenseitige Respektieren. Die Autorin meint damit etwas anderes als den Ende der Fünfzigerjahre in der alten BRD erreichten Basiskonsens, der ein Ergebnis des Abbaus politischer Gegensätze und der Akzeptanz der gewachsenen Zustände war. Der "anti-extremistische(n) Grundkonsens" würde erheblich geschwächt, wenn man "Die Linke" als gleichwertigen politischen Partner akzeptieren würde. Insgesamt sei noch kein abschließendes Urteil möglich, da der ostdeutsche Transformationsprozess, den sie als eigenständigen Prozess nicht thematisiert hat, noch andaure. Erwartet Tuchscheerer die Gefährdung unseres Systems?
Ist die Autorin ideologisch stark, war sie in der Recherche schwach. Beim Registrieren von Veränderungen anhand rechtlicher Normen oder empirischer Daten arbeitet sie gründlich und umfassend, überwiegend auf der Basis deutscher Literatur und Quellen. In den im engeren Sinn politischen Kapiteln ist das anders: viele Quellen, wenig Autoren. Wird sie ideologisch, urteilt Tuchscheerer, ohne sich ihrer eigenen Aussagen als auch der aus verfügbaren Quellen zu versichern. So meint sie, die "Neue Linke", die sich vom Marxismus-Leninismus sowie der Sozialdemokratie abgrenze, sei durch den Zusammenbruch der DDR geschwächt und dadurch sei die "Neue Rechte" gestärkt worden. Trotzdem gelte: "das politische Übergewicht der Neuen Linken ist ungebrochen" (313). Die Veränderungen extremistischer Einstellungen beschreibt sie anhand der Ergebnisse einer älteren Studie (Erhebungen zwischen 1994 bis 2002). Sie will mangels eines einheitlichen Standards keine Vergleiche mit anderen – neuen – Studien ziehen. Den Autoren einer neuen Studie über Rechtsextremismus wirft sie Manipulation der Items vor. Ihr ist entgangen, dass relevante empirische Sozialforscher Standards für die Rechtsextremismusforschung entwickelt haben, auf deren Grundlage überwiegend gearbeitet wird
Heike Tuchscheerer wünscht sich Deutschland als "eine im 'Kern erweiterte Bundesrepublik'": ein "sowohl" als "auch". Sie möchte, dass Arbeiten wie ihre den Sinn für "Beständigkeit und Wandel der Bundesrepublik" schärfen sollen (333). Der Rezensent meint, dass die Beobachtung des Wandels eher durch Arbeiten gelingen könnte, die Veränderungen von Rahmenbedingungen in institutionellen Bereichen in Zusammenhang bringen mit Veränderungen in der Gesellschaft und dem Alltag der Menschen, die zugleich die Subjekte und die Objekte des Einheitsprozesses sind. Das würde diesem Anspruch in einem mehr als nur bilanzförmigen Sinne gerecht werden können und, wie etliche Beiträge der folgenden Publikation zeigen, näher an der Realität sein.
"20 Jahre Deutsche Einheit"
20 Jahre Deutsche Einheit (© Nomos Verlagsgesellschaft)
20 Jahre Deutsche Einheit (© Nomos Verlagsgesellschaft)
Die meisten Beiträge einer von der Europäischen Akademie Otzenhausen organisierten Tagung, die sich 2010 mit dem "Prozess der inneren Einigung" befasste, stammen von Akteuren aus verschiedenen Tätigkeitsfelder und der Wissenschaft, die als begleitende Beobachter die Auswirkungen der deutschen Einheit beschreiben und analysieren. Sie berichten und illustrieren Annäherungen ebenso wie das Fortbestehen von Differenzen. Sie machen dabei deutlich, dass der Einheitsprozess insgesamt nicht zu einer uneingeschränkten Dominanz westdeutscher Verhältnisse geführt hat und dass in Bereichen, die weniger aufmerksam betrachtet werden, Potentiale vorhanden sind, die dazu beitragen können, im Einheitsprozess nicht die Nivellierung von Gegensätzen auf einem niedrigen Niveau anzustreben, sondern deren produktive Aspekte zu einer Einheit auf höherem Niveau zu nutzen.
Der Psychologe Hans-Joachim Maaz skizziert west- wie ostdeutsche psychosoziale Prägungen und deren gesellschaftliche Relevanz sowie daraus resultierende Verhaltensmuster. Bislang entwickeln sich die deutschen Teilgesellschaft getrennt. Die gemeinsame Entwicklung wäre erst möglich, wenn die durch Verhaltensweisen wie Dominanz (West) und Anpassung (Ost) ausgelösten Probleme der Unterwerfung des Einen unter den Anderen aufgehoben würden und eine "neue Beziehungskultur" (37) entwickelt werde. Auch der Historiker Manfred Görtemaker sieht die Einheit nicht vollendet. Er schildert die Etappen des Einheitsprozesses und damit zusammenhängende politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklungen. Sein Fazit ist, der Einheitsprozess vollziehe sich nicht als "Angleichung des Ostens an den Westen, sondern als Strukturwandel, der das gesamte Deutschland betrifft" (59).
Der Wirtschaftswissenschaftler Ulrich Busch räumt mit Vermutungen auf, es habe seit 1990 in den Bundesregierungen verlässliche Vorstellungen und Konzepte dafür gegeben, wie die angestrebte ökonomische und soziale Konvergenz in absehbarer Frist erreicht werden könnte. Er zweifelt daran, dass die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse überhaupt zu erlangen wäre. Der Soziologe Eckhard Priller, der "gesellschaftliche Aktivitäten" in der DDR als Teil ehrenamtlicher Arbeit definiert, fordert als eine Voraussetzung für die Aktivierung des bürgerschaftlichen Engagements die materielle Anerkennung ehrenamtlicher Tätigkeiten und deren Förderung durch staatliche Aktivitäten. Eike Emrich und Christian Pierdzioch machen in ihrem stark auf die Effizienz von Instrumenten der Elitenförderung im Sport ausgerichteten Beitrag auf die Paradoxie aufmerksam, dass die Übernahme von DDR-Praktiken in das bundesdeutsche System die Spitzenförderung teurer, jedoch nicht besser gemacht hat.
Radikale Zweifel an einem positiven Entwicklungsstand des Einheitsprozesses hat der Kunstkritiker Eduard Beauchamp, der von dem mehr als 60-jährigen "Kunstkrieg" zwischen Ost und West erzählt. Die Entwicklung zweier gegensätzlicher Kulturen habe die Grundlage für eine bis heute andauernden Konfrontation im Bereich der bildenden Kunst geschaffen, in der die "intellektuelle Provinzialität des Westens" (134) offen zutage trete. Bis heute gebe es keine Chancengleichheit für die ostdeutsche Kunst im öffentlichen Raum – und deshalb keine Einheit. Der Lyriker Andreas Reimann stellt in Hinsicht auf die "gedicht-ähnlichen Schreibübungen der Jüngeren" einen "geistigen Verseichtungsprozess" und den Verlust dessen fest, was die DDR-Lyrik von der westdeutschen unterschieden habe: "der große Gegenstand, der große Atem, die große Form." (193f)
Der Regisseur Wolfgang Engel schildert Erfahrungen an ost- und an westdeutschen Theatern seit 1983. Sein Beitrag verdeutlicht unter anderem Probleme der unterschiedlichen Interpretationen von Stücken und Spielweisen durch Regisseure und Schauspieler sowie das Publikum in Ost und West. Da Gegensätze und Differenzen weiter existierten, werde die Vereinigung erst dann vollendet sein, "wenn alle Zeitzeugen der deutschen Teilung tot sind" (155). Der Stadtplaner Gerhard Steinbach beschreibt die einzelnen Etappen dieser Entwicklungen seit den Vierzigerjahren sowie ihre Rahmenbedingungen, Ziele und Ergebnisse. Differenzen seien weniger in Folge der Vereinigung verschwunden, sondern aufgrund demografischer und regionaler Entwicklungen eingetreten, die einen Paradigmenwechsel vom Wachstum zur Schrumpfung veranlasst hätten.
Der Politikwissenschaftler Oscar W. Gabriel analysiert die politische Orientierungen – die Unterstützung der Demokratie, das Vertrauen in die politischen Institutionen sowie das politische Engagement –, die die Komplexität des Verhältnisses der Ost- und der Westdeutschen zur Politik nachweisen. Er bilanziert kritisch, dass "Angleichung, Konvergenz und fortbestehender Dissens" (207) nebeneinander existierten. Vorhandene Unterschiede könnten durch eine "fortschreitende Angleichung der Lebensverhältnisse" reduziert werden und zur Vertiefung der politischen Integration beitragen. Eckhard Jesse sträubt sich gegen Koalitionen, die "Die Linke" einschließen. Deshalb heißt es für ihn: "Zwei ist mehr als drei" (243).
Zum Schluss stellt Joachim Schild theoretische Erwartungen im Hinblick auf Ost-West Einstellungen und empirische Befunde zur Unterstützung der Europäischen Union vor. Dass erstere aufgrund von Sozialisationseffekten, situativen Effekten und Parteieinflüssen zu erwarten waren, mag nicht weiter verwundern. Die Auswertungen des Eurobarometers seit 1990 mit getrennten Stichproben zeigen, dass a) Ostdeutsche ein negativeres Bild von der EU haben als Westdeutsche, dass b) die anfangs hohe allgemeine Unterstützung sinkt und sich dem westdeutschen Niveau angleicht und dass c) weder in Ost noch in West ein "Trend zur Abnahme exklusiver nationaler Identifikationsmuster verzeichnet werden" kann (252). Die Deutschen wenden sich jedoch nicht von der EU ab. Das ist, wenngleich vor der jüngsten Euro-Krise ermittelt, insgesamt tröstlich.
Der Wert dieser Publikation liegt unter anderem darin, dass die meisten Autoren den Verlauf und die bisherigen Resultate des 20-jährigen Einheitsprozess nicht voraussetzungslos betrachten, sondern bestimmte "Vorgeschichten" oder "Vorverläufe" in ihre Betrachtungen einbeziehen. Beiträge, die über Kunst, Schauspiel oder Lyrik informieren, stehen selten im Mittelpunkt von Betrachtungen über Verläufe des Einheitsprozesses, sind aber für die Entwicklung seiner im weiteren Sinn kulturellen Aspekte wichtig. Insofern ist zu bedauern, dass ein Beitrag über die Entwicklung in den Geistes- oder in den Naturwissenschaften fehlt. Es hätte die Tagung wohl überfordert, wenn sie sich auch den sozialen Auswirkungen des Einheitsprozesses, die von dem erheblichen Gefälle in der Wirtschaftsleistung, von der Arbeitslosigkeit und den verschiedenen Möglichkeiten der Realisierung individueller Lebensweisen und -chancen ausgehen, gewidmet hätte, wenngleich diese Problematik angeschnitten worden ist. Insgesamt bieten die Beiträge jedoch dem wenig informierten Bürger fundierte Einsichten und jedem Leser Anregungen für eigene Beobachtungen des Fortgangs des Einheitsprozesses.
"Parteien in den deutschen Ländern"
Parteien in den deutschen Ländern (© C.H. Beck)
Parteien in den deutschen Ländern (© C.H. Beck)
Der von den Landeszentralen für politische Bildung herausgegeben Band präsentiert in drei Teilen – Grundlagen, Parteien in den Ländern und Statistischer Anhang – in Inhalt, Umfang und Qualität unterschiedliche Beiträge zum Thema Parteiengeschichte und Parteiensystem (Teil I: Grundlagen) und zu den Parteien in den Bundesländern (Teil 2: Parteien in den Ländern). Teil 3 (Statistischer Anhang) enthält in Tabellenform, beginnend mit der jeweiligen ersten Wahlperiode – 1946 bzw. 1990 – bis 2009/10, die Resultate der Wahlen in den Ländern sowie Angaben zur Zusammensetzung der Landtage und der Landesregierungen; das erspart mühseliges Suchen.
Texte, die für die politische Bildungsarbeit geschrieben werden, entsprechen in der Regel wissenschaftlichen Standards, zu denen auch Verständlichkeit gehört. Sie richten sich primär an Personen, die sie für Zwecke der politischen Bildung nutzen, werden jedoch ebenso als wissenschaftliche Arbeiten von einem Personenkreis genutzt, der kein Interesse an deren Umsetzung in die Bildungsarbeit hat. Die Texte dieses Bandes erfüllen, wenn auch unterschiedlich, die Standards und bedienen in der Regel beide Interessen.
Die einleitenden Beiträge führen die Leser einerseits aus – in weiterem Sinn – parteihistorischer und andererseits aus parteiensoziologischer Perspektive umfassend und systematisch in die Geschichte und Entwicklung von Parteien und Parteiensystem in Deutschland ein. Der Beitrag von Thomas Kühne über "Parteien und politische Kultur in Deutschland 1815 bis 1990" reflektiert die Herausbildung der Parteien und des Parteiensystems im Kontext der Verfassungs- und Demokratieentwicklung von der Zeit des Frühkonstitutionalismus bis zur deutschen Vereinigung. Frank Decker schreibt über die Parteien im politischen System der Bundesrepublik Deutschland einen Beitrag, der den State of the art in der Parteienforschung repräsentiert. Gegen beide Beiträge fällt der lexikalisch geratene Artikel von Peter Joachim Lapp über die "Staatsparteien der DDR" ab.
Nimmt man die großen Beiträge als eine Art Hintergrund für die Lektüre der länderspezifischen Beiträge, dann kann festgestellt werden, dass Autoren, die den Mustern dieser Beiträge folgen, sie jedoch nicht als strikte Vorgaben betrachten, in der Regel stärker empirisch-analytisch arbeiten als die wenigen, die einem eher länderkundlichen Ansatz folgen. Stellvertretend für die erste Kategorie kann der Beitrag über Hessen (Sigrid Koch-Baumgarten/Christoph Strünck), stellvertretend für den zweiten Ansatz der Beitrag über Sachsen (Werner Rellecke) genannt werden. In jedem Fall erhält die Leserin/der Leser genug Informationen über die Landesparteien und das dortige Parteiensystem
Die Einzelbeiträge illustrieren auf unterschiedliche Weise die Vielfältigkeit der Parteien und die Entwicklung der Parteisysteme in den einzelnen Bundesländern sowie weitere Aspekte wie das Wahlverhalten oder Koalitionsbildungen. Manche Autorinnen und Autoren beginnen ihre Beiträge mit dem 19. Jahrhundert und brauchen nur eine knappe Seite bis 1945, andere beginnen erst danach, dritte lassen sich viel Zeit mit Vor- und Frühgeschichte (Kaiserreich und Weimarer Republik); in Sachsen beginnt die politische Geschichte im Jahr 929, in Brandenburg in der Mitte des 12. Jahrhundert. In der Regel enden sie Mitte 2010. Manche Autoren gliedern ihre Abschnitte in zeitlich begrenzte Etappen und behandeln die Parteien summarisch, andere behandeln sie einzeln, einschließlich ihrer historischen Entwicklung, und dritte wie Jürgen Dittberner (Brandenburg) oder wie Ulrich Sarcinelli und Timo S. Werner (Rheinland-Pfalz) nehmen in ihre Beiträge landespolitische Schwerpunkte bzw. sowohl einen Abschnitt über die Ministerpräsidenten als auch einen mit Thesen über "Entwicklungstrends und Perspektiven" auf; in der Regel werden "Ausblicke" unternommen. Oft wird durch die Lektüre über Landesparteien klar, welche Beiträge sie, sei es durch Wahlergebnisse, durch Personen oder durch politische Leistungen, zur bundespolitischen Rolle der Gesamtpartei erbringen – oder warum sie das nicht können. Quellen und Literaturverzeichnisse sind unterschiedlich und selten umfangreich.
Fazit: Neben politischen Bildungsarbeitern und Studierenden können auch Journalisten sowie politisch interessierte Bürgerinnen und Bürger von den Beiträgen dieser Publikation profitieren, selbst wenn sie sich nur vor einer Landtagswahl über die Parteien und das Parteiensystem sowie in dem ausführlichen Anhang über bisherige Wahlergebnisse, Regierungskoalitionen und Regierungschefinnen und -chefs informieren wollen.
"Ein rot-roter Sonderweg?"
Ein rot-roter Sonderweg? (© Böhlau)
Ein rot-roter Sonderweg? (© Böhlau)
Vertiefte historische und politische Interessen sind Voraussetzung dafür, sich dem Werk von Steffen Kachel zuzuwenden. Hier liegt eine Dissertation mit allein 524 Seiten Text vor, dazu Tabellen und Übersichten über Parteigremien und mit Wahlergebnissen, ein Anhang mit Biografien von 105 Aktivisten der Thüringer Arbeiterbewegung, Orts- und Personenregister sowie weitere Verzeichnisse, darunter eins mit den Quellenangaben aus sechs Archiven. Dieser Aufwand schlägt sich im Umfang nieder. Doch am Ende der Lektüre kann dem Autor mehr als der übliche Respekt gezollt werden, denn an diesem Werk über die "parteipolitisch organisierten Kerne der Weimarer Arbeiterbewegung ... sowie auf die ihnen folgenden Mitgliedschaften und Elektorate" (19) zwischen 1919 und 1948/49 kommt fortan nicht vorbei, wer sich mit der politischen Geschichte Thüringens befasst.
Kachel will Meinungen im geschichtspolitischen Diskurs über die DDR entgegen treten, dass das System scheitern musste, weil "seine ganze ideologische Grundlage falsch war" (Konrad H. Jarausch) – damit befasst er sich nur am Rande –, oder dass es nach einem einheitlichen Modell der Sowjetisierung gestaltet worden sei, also von Beginn an kein "System in der Tradition der sozialistischen Arbeiterbewegung" gewesen sei. In Thüringen hätten die Parteien der Arbeiterbewegung nach 1945 einen Sonderweg beschritten, der auf gemeinsamen politischen Anschauungen über die nach Kriegsende erforderlichen Aufgaben beruhte. Die Gemeinsamkeiten in politischen Fragen zwischen SPD und KPD, die eine immer schon linker als die Gesamtpartei, die andere immer schon widerspenstiger gegen die "preußisch-berlinische Vorherrschaft" (Hans Mommsen) beruhten sowohl auf Traditionen und Erfahrungen in politischer Kooperation während der Weimarer Zeit als auch darauf, dass wichtige Akteure aus gleichen oder ähnlichen Milieus stammten und durch die Nazis verfolgt worden waren. Die Gemeinsamkeiten überwogen das Trennende – und selbst eine kurze Eiszeit zwischen KPD und dem Bund demokratischer Sozialisten, wie die SPD bis August 1945 hieß. Sonderheiten zeigten sich unter anderem darin, dass die Sowjetische Militäradministration in Thüringen (SMATh) den deutschen Akteuren mehr Spielräume ließ und die politischen Eliten regionale Interessen im Kontext der Vorstellung verfolgten, es könnte einen Gesamtstaat geben, der demokratisch und sozialistisch, aber nicht sowjetsozialistisch sein würde. Das Ende dieser spezifischen Arbeiterbewegung als einer "durch gemeinsames weltanschauliches, kulturelles und politisches Erbgut verbundene Bewegung" (19) war besiegelt, als 1949 mit dem neuen politischen System die SED als Staatspartei an ihre Stelle trat.
Kachels Methode, lokale und regionale Entwicklungen mit denen auf der zonalen und nationalen Ebene zu verflechten, führt dazu, dass der Autor, der als ein Vorbild für seinen Ansatz Franz Walter und andere nennt
Im Kapitel III (Die Wiedergründung nach dem Ende des Krieges) wird die Zeit zwischen April 1945 und der ersten Landtagswahl im Oktober 1946 in den Unterkapiteln "Das Scheitern der spontanen Einheit", "Die Verschiebungen im Kräfteverhältnisse nach dem Besatzungswechsel", "Die Verschmelzungskampagne" sowie "Thüringen wird 'Schrittmacher' der Einheit" und "Die sowjetische Besatzungspolitik und das politische System der 'Ära Paul'" – dieses enthält erhellende Beispiele über die Praxis der Besatzungsmächte – dargestellt und analysiert. Das Kapitel IV (Der Weg zur Staatspartei) schildert "'Die Phase der versuchten Einheit': Zwischen Landtagswahl und Londoner Konferenz" sowie "Das Ende des 'deutschen Weges zum Sozialismus': Die Thüringer SED 1948/49". Als "Schlaglichter der Zeit" werden die Landesparteitage der SED 1947 bis 1950 unter dem Aspekt der Verdeutlichung der Veränderungen der innerparteilichen Entwicklung dargestellt.
Im Schlussteil, der im Verhältnis zum historischen Teil etwas kurz ausgefallen ist, werden die Ergebnisse bilanziert und die Frage beantwortet, ob die "deutschen politischen Potentiale" für einen Weg jenseits der "kapitalistischen Grundlegung im Westen und Sowjetisierung im Osten" – soll heißen: ein Deutschland, politisch parlamentarisch-demokratisch und ökonomisch teilweise sozialisiert strukturiert – vorhanden gewesen wäre. Kachel untermauert das mit Hinweisen auf das sächsische Volksbegehren (Enteignung und "Kriegsfrage"), auf die Verfassungen von Hessen und Nordrhein-Westfalen sowie auf das Ahlener Programm der CDU 1947 und auf Überlegungen in den Vorständen von SPD und SED zwischen 1945 und 1948. Seine Idee, die Vorstellung Otto Grotewohls, "dass das Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion mit der Autonomie der Arbeiterbewegung prinzipiell zu vereinbaren sei" (313), auf einen Akteur außerhalb des "Loyalitätsgefängnisses" (524) einer der beiden Großmächte zu projizieren, der beiden ein Angebot zu einer gemeinsamen deutschen Entwicklung hätte unterbreiten können, erinnert an die doppelten Konjunktive im Satz von Rudolf Herrnstadt: "Wäre es schön? Es wäre schön!"
Gleichwohl: Insbesondere dort, wo Steffen Kachel über die einzelnen Versuche autonomer Entwicklungen in Thüringen, beispielsweise in der Bildungspolitik und in der Kulturpolitik erzählt oder über die Pluralität im Funktionärskörper der SPD und der KPD (hier dominierten nicht die Kader mit Erfahrungen aus dem Exil, sondern aus der Gefangenschaft) und der SED, über die Strategien der SMATh sowie über die Kontroversen zwischen den Parteizentralen in Berlin und denen in Thüringen – oder über die innerparteilichen Auseinandersetzungen im Land zwischen den unbedingten und den bedingten Anhängern der Zentralen berichtet, bietet er auch dank der intensiven Archivarbeiten viel an, was neu oder – als bisher bekanntes Material durch zusätzliche Erkenntnisse – neu strukturiert worden ist.