Erinnerungsarbeit
Hansdieter Krüger: Die Heilstätte. Reportage zum 60. Jahrestag der "Rest-DDR", Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, 150 S., € 14,80, ISBN: 9783826044472.
Hans Christange, Klaus Stenzel: Ost-West-Denkstrukturen. Ein Briefwechsel zwischen Brandenburg und Hessen/Rheinland-Pfalz, Berlin: NoRa 2009, 349 S., € 23,50, ISBN: 9783865572158.
Fritz Liedemit, Hans Wachholz, Bärbel Liedemit, Helga Wachholz: Einmal ist genug. Zeitkritische biografische Einblicke in eine Epoche unter zwei totalitären Systemen, o. O. [Bernau b. Berlin]: Selbstverlag 2009, 96 S., € 17,50, ISBN: 9783000271182.
Heinz-Peter Preusser, Helmut Schmitz, Dominik Orth (Hg.): Autobiografie und historische Krisenerfahrung (Jahrbuch Literatur und Politik; 5), Heidelberg: Winter 2010, 290 S., € 38,–, ISBN: 9783825357399.
Elmar Brähler, Irina Mohr (Hg.): 20 Jahre deutsche Einheit – Facetten einer geteilten Wirklichkeit, Gießen: Psychosozial 2010, 298 S., € 29,90, ISBN: 9783837920932.
Agnès Arp, Annette Leo (Hg.): Mein Land verschwand so schnell. 16 Lebensgeschichten und die Wende 1989/90 (wtv-campus), Weimar: wtv 2009, 216 S., € 14,90, ISBN: 9783939964483.
Sebastian Pflugbeil (Hg.): Aufrecht im Gegenwind. Kinder von 89ern erinnern sich (Schriftenreihe des Sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen; 9), Leipzig: Evang. Verlagsanstalt 2010, 399 S., € 14,80, ISBN: 9783374028023.
Hannes Hofmann: Diestel. Aus dem Leben eines Taugenichts? Geschichten aus 174 Tagen, in denen Amateure und Profis deutsche Geschichte machten, Berlin: Das Neue Berlin 2010, 239 S., € 16,95, ISBN: 9783360019981.
Dem Sammeln lebensgeschichtlicher Zeugnisse wohnte lange ein kritischer, gegen den historiografischen Mainstream gerichteter Impuls inne. Sei es, dass gegen eine abstrahierende Struktur- und Sozialgeschichte der Blick auf das individuelle Erleiden von Geschichte gelenkt wurde, sei es, dass mit Dokumenten von sozial und kulturell Marginalisierten ihre Erinnerung und ihre vermeintliche Ohnmacht gegen das dominante Geschichtsbild der Mächtigen gerichtet wurde. Im Lüdenscheider Archiv "Deutsches Gedächtnis" oder ähnlichen Einrichtungen liegen jeweils Tausende autobiografischer Aufzeichnungen, zumeist durch Forscherinnen und Forscher mit den ausdifferenzierten Methoden der Oral History erarbeitet. Nur ein Bruchteil dieser Dokumente findet den Zugang zu einer größeren Öffentlichkeit. Die "Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen" der Universität Wien besitzt zum Beispiel Texte von über 3.000 Personen, denen jedoch nur gut 60 Buchpublikationen gegenüberstehen.
Neben diesem wissenschaftlichen Schatz, der oft im Verborgenen liegt, drängen in den letzten 20 Jahren zunehmend Einzelpersönlichkeiten auf den Buchmarkt, die ihre Erinnerungen für so lesens- und bewahrenswert halten, dass sie von sich aus den Weg in die Öffentlichkeit suchen. Es gibt inzwischen ein Segment von Verlagen, das sich darauf spezialisiert hat, diesem Mitteilungsdrang Raum zu schaffen. Einige dieser Verlage werben gar nicht mehr um Leser, sondern nur um neue Autoren, die für ihre Bücher die Produktionskosten bezahlen. Auch auf diesem Feld gibt es Schätze und kleine Überraschungen. Einige sind an dieser Stelle anzuzeigen.
"Die Heilstätte"
Aber es bleibt das Unbehagen, ob wirklich alle, manchmal nur scheinbar autobiografischen Einlassungen zwischen zwei Buchdeckel gehören. Diese Frage beschleicht gewiss Leser in Ost und West bei der Lektüre der "Reportage" "Die Heilstätte" von Hansdieter Krüger, einem emeritierten Würzburger Professor für Neurologie. Über das Autobiografische des Werks mag man streiten; die Gattungszuschreibung Reportage trifft es sicher nicht. Krügers Ich-Erzähler – ein wie der Autor in Würzburg lebender, in den 1970er-Jahren aus der DDR nach Drangsalierung, Fluchtversuch und Hafterfahrung ausgereister Mediziner – erzählt von Begegnungen, die er und sein Lebensgefährte in den letzten Jahren mit einer früheren Kollegin aus Rheinsberg und ihrem Ehemann gehabt haben.
Die gegenseitigen Besuche in Franken und Brandenburg sind Anlass von Erinnerungen an das Leben in der DDR, wobei die Rheinsberger Ärztin und ihr Mann die DDR liebevoll verklären, zumal sie in der neuen Zeit nicht recht reüssieren konnten. Das Ausmaß der ihnen in den Mund gelegten Dümmlichkeiten ist grenzenlos, während das Männerpaar aus dem Westen sich in ihrer DDR-Kritik von niemandem überbieten lassen will. So hauen sich Ost und West in langen, gestelzten Mitteilungen ihre Weltsicht um die Ohren, wobei der Ich-Erzähler – hier mehr Autobiograf – seine Position mit wesentlich längeren Ausführungen und durchaus triftigen Argumenten über die SED-Diktatur betont, während er seinen ostdeutschen Gesprächspartnern nicht einen einzigen Punkt gönnt. Allein einige landschaftliche oder kulturhistorische Sehenswürdigkeiten – so lebendig beschrieben wie von einem ältlichen Schlossführer auf Neuschwanstein (vgl. 38f) – retardieren die Belehrungs- und Beschimpfungsflut. Angesichts der grotesken Stereotypisierungen – die Ossis können auch 20 Jahre nach der 'Wende' noch nicht mit einer Mischbatterie an der Dusche hantieren, mögen nur fette Wurst und keine Rohkost – fragt man sich, wie es diese ungleichen Paare eine Stunde miteinander aushalten, geschweige denn gemeinsame Feiertagsreisen unternehmen. Zu wirklicher Hochform läuft der Autor auf, wenn er die vernarrte Tierliebe der ostdeutschen Arztkollegin aufspießt: Das "aufreizend aufgeregte, sich überschlagende, in ein heiseres Krächzen überkippende Gebell" von Hexe, ihrer "Promenadenmischung [...], vorn mehr Spitz, hinten mehr Schäferhund" (7), begleitet die Erzählung leitmotivisch und symbolisiert die Unvereinbarkeit von Ost und West. Denn ebenso abgöttisch wie der "Köter" von seiner Rheinsberger Herrin geliebt wird, was ihre tief wurzelnde Deformation bezeugt, wird er vom souveränen westlichen Ich-Erzähler verabscheut. An keinem anderen als an Hexe scheitert schließlich dieser Versuch des Ost-West-Dialogs. Als nämlich die Ärztin bei einer gemeinsamen Fahrradtour in Tangermünde versucht, ihren aufgeregten Hund von einem Sprung in die Elbe abzuhalten, ist das den beiden Männern aus Würzburg zu viel. Nachdem sie ihren ostdeutschen Gastgebern über 100 Seiten die Welt im Allgemeinen und die DDR im Besonderen von den Abhörpraktiken der Stasi bis zum Rentensystem interpretiert haben, erklären sie das Rheinsberger Ehepaar wegen des wild kläffenden Hunds für "nicht gesellschaftsfähig" (116) und reisen entnervt ab.
Nun mag man über die erinnerungskulturelle Signifikanz dieser "Satire mit realem Hintergrund" (Klappentext) nur den Kopf schütteln und allenfalls dem Ich-Erzähler (respektive Autor) für seinen Kampf gegen die Unbill des DDR-Gesundheitswesens und die Verbrechen der SED-Diktatur Respekt zollen, auch wenn kaum Details erzählt werden. Aber der treffliche Mediziner belässt es nicht bei der Diagnose – er konstatiert bei den Rheinsbergern unter anderem "Verklärungs- und Beschönigungs-Ostalgie" (90) –, sondern schließt mit einem Therapievorschlag in Form einer kontrafaktischen Geschichte: Als Radikalkur für besonders gravierende Ostalgie empfiehlt Professor Krüger also die "Heilstätte 'Rest-DDR'", welche in einem Fleckchen rund um Görlitz vor sich hingammelt. Von den bräsigen Volkspolizisten bis zur täglichen Stromsperre und "Speckgriebenblutwurst" zum Abendessen sei hier alles so, wie es in der DDR gewesen wäre. Und die Rheinsberger Ärztin braucht bis zur Heilung von ihrem "Herzenskommunismus" nur eine kurze Kur, in die sie und andere Ostalgiker auf Veranlassung der Bundesrepublik, wohl als 'Seuchenschutzprogramm', eingewiesen worden ist. Von ihren Verwandten vorzeitig freigekauft (schon wieder Satire!), schwört sie der Ostalgie ab und beschließt, fortan als bloße "Salonkommunistin" weiterzuleben.
Die Verquickung von lebensgeschichtlichem Dokument, Fabulierlust und Satire hätte mit einer etwas lebendigeren Sprache und einer Portion Selbstironie ein lesbares Zeitdokument abgegeben. So bleibt es ein alberner 'Beleg' mehr dafür, dass Ost und West offenbar nicht miteinander kommunizieren können, oder im Fazit des Erzählers: "Zu verschieden sind Lebensentwürfe und Lebensverläufe. Das ist das tragikomische Ende einer deutsch-deutschen Beziehung" (116).
"Ost-West-Denkstrukturen"
Ost-West-Denkstrukturen (© NoRa Verlag)
Ost-West-Denkstrukturen (© NoRa Verlag)
Auch dem Briefwechsel, den der Deutsch- und Politiklehrer Klaus Stenzel (geboren 1960) aus Speyer mit dem bis 1990 als Staatsanwalt in Cottbus tätigen Hans Christange (Jahrgang 1934) seit 1996 führt, könnte man das Attribut des Tragikomischen beifügen, wenn dieser Briefwechsel nicht so ernst wäre. Stenzel war Mitte der 1990er-Jahre mit seinen Abiturienten auf Klassenfahrt in Magdeburg gewesen, die dort manche irritierende Begegnung hatten und vieles mit Wessi-Augen bestaunten, worüber das "Neue Deutschland" berichtete. Christange nahm den "ND"-Artikel zum Anlass für einen beifälligen Brief an Stenzel, woraus sich in mehr als zehn Jahren eine Korrespondenz von über 300 Druckseiten ergab.
Ähnlich wie in Krügers Buch schenken sich die beiden Seiten nichts, allerdings sind die Gewichte hier deutlich anders verteilt. Denn Christange beansprucht eine absolute Interpretationshoheit über die DDR-Geschichte, die er nicht mit lebensgeschichtlichen Details untermauert, sondern aus seinem respektablen Alter und der Tatsache eines leidenschaftlich begeisterten Lebens in der DDR ableitet. Wirkliche Erlebnisse aus der eigenen Biografie erfährt man gleichwohl selten, obwohl Stenzel in seinen Briefen oft konkret nachfragt und geradezu um Details bettelt. Wenn aber, dann sind sie von so affektvoller Wucht, dass sie mehr als Rhetorik denn als Erinnerung wirken. So berichtet Christange gleich zweimal von dem "Freudenschrei" (2001) bzw. "Riesenfreudenschrei" (2006), den er noch im "Bett am 13. August 1961 ausgestoßen" habe, als er "nach dem Aufwachen die Nachricht von der Schließung der Grenze zu Westberlin und Westdeutschland im Radio hörte" (277) Endlich, so erinnert er sich 2001, "haben wir nun die Möglichkeit, uns gegen die Ausplünderung durch den Westen zu schützen" (130).
Das Beispiel zeigt, dass sich die Debatte über die Jahre nicht entwickelt, sondern sich immer wieder um die gleichen Themenkreise dreht: Christange spielt die sozialen "Freiheiten" der DDR gegen Stenzels Insistieren auf Demokratie und rechtsstaatlicher Freiheit der Bundesrepublik aus, er setzt die "Opfer" der SED-Diktatur in Anführungszeichen und fragt nach den Opfern der Bundesrepublik und der Systemtransformation in Ostdeutschland, bringt die "Ermordung" Philipp Müllers im Jahre 1951 gegen die Mauertoten in Rechnung oder setzt sie in ähnlich schiefem Vergleich in Bezug mit dem Unterschlupf, den RAF-Terroristen in der DDR gefunden haben. Diktion und Denkwelt des Kalten Kriegs sind in diesen Passagen sehr gegenwärtig.
Für den westdeutschen Lehrer Stenzel, der Christange seinerseits oft ebenso recht pauschal antwortet, scheint der Briefwechsel mit dem Ostdeutschen einerseits Ausdruck seines deutsch-deutschen Respekts zu sein, andererseits aber Material und fast Spiel. Die Tatsache, dass ein so streitiger Ost-West-Dialog geführt werden kann, ist dem Politiklehrer Beleg seiner eigenen Toleranz und Zeugnis für die Überlegenheit der bundesdeutschen Demokratie. Während Christange in den ersten Jahren wiederholt die Fortsetzung der Korrespondenz infrage stellt – er müsse sich die Frechheiten, sprich: den Widerspruch der Westdeutschen "nicht antun" (129) –, bleibt Stenzel meist gelassen. Mit Notizen aus dem Familienleben und freundlichen Kommentaren seiner Frau zu ihrem Briefwechsel will er Christange erheitern und mit seiner Freude über die Erfolge ostdeutscher Fußballvereine wie Hansa Rostock und Energie Cottbus beweist der bekennende Bayern-Fan Stenzel sein großes gesamtdeutsches Herz. Der Lehrer nutzt Christanges Briefe regelmäßig als Dokumente im Politikunterricht, gelegentlich kommentieren Schüler Christanges Thesen oder man diskutiert gemeinsam über Presseartikel. Diskussion heißt freilich für Christange primär zu prüfen, ob die Schülerinnen und Schüler seine Auffassung teilen. Bei markanten Gegenargumenten heißt es dann mitunter: "Dafür ist mir meine Zeit tatsächlich zu schade!" (129), und das Ende der Korrespondenz wird angedroht.
Aber auch Christange hängt an diesem Briefwechsel. Nicht nur, dass er selbst bitterböse Briefe mit "herzlichen Grüßen" beschließt und beste Wünsche zu Oster-, Advents- oder Weihnachtstagen anfügt – Stenzel spottet schon, ob er doch ein verkappter guter Christ sei. Für Christange ist der Briefwechsel vielmehr eine Art Mission, ist er doch stets hoch erfreut, wenn er in bestimmten Punkten, etwa beim Kampf gegen Rechtsextremismus, Konsens mit Stenzel registrieren kann. Freilich schwindet die Hoffnung, Stenzel irgendwann von der Perfektion der DDR zu überzeugen, sodass er sich – und hier liegt der heikle Punkt des ganzen Unternehmens – in die Formel von unaufhebbaren westlichen und östlichen Denkstrukturen rettet. Damit wird die Ost-West-Positionierung aber nicht nur zementiert, sondern Christange erhebt seine Position zur alleingültigen Stimme des Ostens. Alle abweichenden Ostpositionen, wie sie Stenzel – selten genug – aus den Medien dagegenhält, etwa die Joachim Gaucks, werden mit Hohn und Empörung als Verrat zurückgewiesen.
Der Einzigartigkeit ihres Briefwechsels sind sich die beiden Autoren bewusst. Früh suchen sie nach einer Publikationsmöglichkeit, die schließlich in einem Verlag des oben skizzierten Sektors gefunden wurde. So fehlt dem Konvolut das dringend nötige Lektorat, sodass, besonders nach Ergänzung der Kommunikation um Emails, manche Bezüge auf Texte des Partners unklar bleiben. Gleichwohl haben Christange und Stenzel, die sich übrigens erst nach der Publikation persönlich begegnet sind (!),ein spannendes Buch vorgelegt, das die Mühe der manchmal ärgerlichen Lektüre lohnt, auch wenn ihre These, dass sich hier die Ostsicht und die Westsicht auf Geschichte und Gegenwart begegnen, nicht überzeugt.
"Einmal ist genug"
Einmal ist genug (© Selbstverlag Liedemit)
Einmal ist genug (© Selbstverlag Liedemit)
Wie vielfältig auch benachbart beginnende Lebenswege in der DDR gestaltet waren und wie man sich trotzdem freundschaftlich über die unterschiedlichen Grundentscheidungen im Leben austauschen kann, zeigt das im Selbstverlag erschienene Buch der Ehepaare Liedemit und Wachholz mit der programmatischen Überschrift "Einmal ist genug". Beide Ehemänner haben an der Oberschule im westmecklenburgischen Schönberg 1953 und 1955 Abitur gemacht. Liedemits kurze Autobiografie umkreist die Schulzeit von der NS-Ära über Krieg, Besatzung und sich entwickelnder SED-Diktatur; ein anschaulicher Text, der natürlich bei Kennern der Region besonderes Interesse finden wird, in vielerlei Hinsicht jedoch auch überregional charakteristisch ist. Auch die Frauen verbindet diese frühe Lebensphase; die Künstlerin Helga Wachholz steuert einen sehr schönen Grafik-Zyklus "Frühe Heimat" mit Impressionen zu dieser Zeit bei, wie überhaupt das Büchlein im DIN A 4-Format fein gestaltet ist und mit vielen Fotos zum Blättern einlädt.
Während das Ehepaar Liedemit im medizinisch-psychologischen Bereich in der DDR tätig blieb – in einem kurzen Text schildern sie eindrucksvoll ihre Empfindungen in der Umbruchszeit von 1989, auch die Verpflichtung bei den Patienten zu bleiben –, machte Hans Wachholz zunächst Karriere als Rundfunkjournalist in der DDR, bricht 1968 jedoch mit dem System: Sein Beitrag ist aus übergreifender Perspektive besonders markant, schildert er doch schnörkellos einen Weg aus "ärmlichen" Verhältnissen und von der Provinz in die berühmte journalistische Zuchtstätte des "Roten Klosters" in Leipzig und zurück nach Mecklenburg, wo er vom Dorfzeitungsredakteur durch mancherlei Zufälle zum Direktor des Senders Rostock aufsteigt, um schließlich erster DDR-Rundfunkkorrespondent in Schweden zu werden. Die Kadersteuerung verblüfft ihn selbst immer wieder; erst aus der Außensicht, die ihm die Tätigkeit in Stockholm ermöglicht, gewinnt er genug Selbstvertrauen, sich dieser Fremdsteuerung gewahr zu werden. Der Einmarsch in Prag ist für ihn letzter Anstoß, mit dem Regime zu brechen. Bis 1997 arbeitete er dann beim schwedischen Auslandsprogramm. Wachholz' Schilderungen ergänzen vorzüglich die autobiografischen Interviews von DDR-Medienleuten, wie sie jüngst Michael Meyen und Anke Fiedler vorgelegt haben, freilich ganz auf die prominenten und systemkonformen Köpfe konzentriert.
"Autobiografie und historische Krisenerfahrung"
Autobiografie und historische Krisenerfahrung (© Universitätsverlag Winter )
Autobiografie und historische Krisenerfahrung (© Universitätsverlag Winter )
Die drei bisher vorgestellten Bücher liegen aus unterschiedlichen Gründen wohl außerhalb des üblichen Blickfelds wissenschaftlicher Wahrnehmung der seit Längerem anhaltenden Autobiografie-Flut. In der vorzüglichen Zwischenbilanz zur Autobiografieforschung, den Heinz-Peter Preusser und Helmut Schmitz als fünften Band des Jahrbuchs Literatur und Politik vorgelegt haben, würde man sie jedenfalls vergeblich suchen. Immerhin räumen die beiden Forscher in ihrer instruktiven Einleitung über "Autobiografik zwischen Literaturwissenschaft und Geschichtsschreibung" ein, dass "Lebensgeschichten von 'ganz normalen Menschen' den größten Teil des Zuwachses" auf diesem Markt ausmachten (7). Sehr deutlich plädieren sie indes, sowohl mit der Wahl des in den Beiträgen behandelten empirischen Materials als auch in der theoretischen Argumentation, für die "großen" Texte. In raschem Durchgang wird ebenso der poststrukturalistischen Dekonstruktionen der Autobiografietheorie wie geschichtstheoretischen Einwänden hinsichtlich der Referenzproblematik Rechnung getragen und die Auflösung der "Alternative 'Wirklichkeit oder Fiktion'" im Zeichen von Narrativität, einer "subjektiven Wahrheit und des Gegenwartsbezuges jeder Erinnerung" (14) gefunden. Mit den Stichworten Gegenwart und Erinnerung ist zugleich die ertragreiche Fragestellung nach der besonderen Herausforderung des autobiografischen Genres durch Brüche und Krisen begründet.
Fünf interessante Studien machen dies an Texten zum "Jahrhundert der Weltkriege" deutlich, bevor sechs Aufsätze an "Das Ende der DDR" erinnern: Dennis Tate erläutert einführend seinen in "Shifting Perspectives" (Rochester/New York 2007)
Auch im abschließenden Kapitel mit sechs Aufsätzen zum Kontext von "Gender und Generation" nehmen Alexandra Pantzen und Helmut Galle unter anderem auf Texte mit DDR-Hintergrund Bezug. Auch wenn der Band hier nur knapp charakterisiert ist, sei er als anregendes und dichtes, literaturtheoretisch ehrgeiziges Sammelwerk nachdrücklich empfohlen.
"20 Jahre deutsche Einheit – Facetten einer geteilten Wirklichkeit"
20 Jahre deutsche Einheit (© Psychosozial Verlag)
20 Jahre deutsche Einheit (© Psychosozial Verlag)
Noch weniger detailliert kann ein zweiter Sammelband besprochen werden, dessen Beiträge nur in Passagen das Autobiografische streifen, da die Autoren, meist Leipziger und Dresdener Medizinsoziologen und Psychologen aus dem Team der Sächsischen Längsschnittstudie, stark auf das empirische Argument setzen. Der Band, den Elmar Brähler und Irina Mohr herausgegeben haben, ist eine in vielen Details aufschlussreiche Zwischenbilanz zur deutschen Einheit, die als sich annähernde 'geteilte Wirklichkeit' beschrieben und in Fallstudien zu Familiensituation, Mediennutzung, Binnenmigration, Gerechtigkeitskonzepten, Gesundheit und Körperverhalten untersucht wird. Hinzu kommen Analysen zur retrospektiven Wahrnehmung der DDR und zur Bewertung der "inneren Einheit".
Neben die prägnanten Zahlen, die in bündige Thesen münden – etwa das Fortwirken der DDR-Sozialisation im dritten Jahrzehnt der Einheit (169) –, treten essayistische Beiträge und Kommentare zur deutschen Einheit, die oft in einem Text ein ganzes Spektrum von Gefühlen abbilden. Friedrich Schorlemmer brennt ein Feuerwerk lutherischer Dialektik über den "Arbeiter- und Mauernstaat" ab; mit Peter Bender, Wolf Wagner, Hans-Jürgen Misselwitz oder Rolf Reißig sind weitere Bekannte mit ihren Thesen dabei. Bewegend liest sich Annett Gröschners Skizze "Der Osten in mir", die einen weiten Bogen von Silvester 1988 in die Gegenwart ihres Sohnes schlägt, für den "Diskussionen über Ost und West" nur noch "ein Relikt aus früheren Zeiten" sind (19). Auch Judka Strittmatter bindet Gegenwart und Vergangenheit eng zusammen in der Erinnerung an die erste Westreise, die Entscheidung, 1988 im Westen zu bleiben, die Rechtfertigungsfragen vieler Westdeutscher und das Missverhältnis zwischen offizieller Einheitsfreude im Jahr 2010 und ihren Gefühlen. Man liest diese Texte mit Respekt und lernt viel aus dieser kritischen, facettenreichen Einheitsbilanz, die doch hoffen lässt.
"Mein Land verschwand so schnell"
Mein Land verschwand so schnell (© wtv)
Mein Land verschwand so schnell (© wtv)
Ein wenig gedämpfter noch ist der Tenor der meisten lebensgeschichtlichen Interviews, die Studierende der Universität Jena mit 16 Zeitzeugen über ihre Erinnerungen an das Jahr 1989/90 geführt haben. Nur für wenige war die "Wende", wie es hier durchweg heißt, "eine Befreiung und eine wichtige Station" (97) im Leben, wie sich der Greizer Dichter Günter Ullmann erinnert. Reinhold Anderts Fazit trifft es sicher auch nicht: "Ich kam mit der DDR nicht klar und komm heute nicht klar" (106), doch überwiegt ein Gefühl der Enttäuschung. Es resultiert aus vielen Kleinigkeiten und dem großen Ganzen, aus generationeller Lagerung ("Wir sind schon eine Generation, die es nicht ganz so einfach hat", 124) oder auch aus übergroßen Erwartungen ("Ich dachte, im Westen scheint immer die Sonne", 107ff), kurz: aus der ganzen Fülle gelebter Wirklichkeit vor wie nach 1989, die in den sehr klug komponierten Interviewauszügen, die mit knappen Überleitungen und Fragen strukturiert sind, anschaulich wird.
Um den von Agnès Arp und Annette Leo herausgegebenen Band hat es geschichtspolitischen Ärger gegeben, doch muss ein Beitrag zur politischen Bildung immer eine Festschrift für die Marktwirtschaft sein? Die Bundeszentrale für politische Bildung übernahm Externer Link: das Buch schließlich in ihr Programm. Wenn denn im Erzählen von Lebensgeschichten ein wirklicher Sinn für das Verstehen von Ost und West liegt, dann kann man diese Entscheidung nur begrüßen, denn das hält die Demokratie nicht nur aus, das macht die Demokratie aus.
"Aufrecht im Gegenwind"
Aufrecht im Gegenwind (© EVA Leipzig)
Aufrecht im Gegenwind (© EVA Leipzig)
Aber der Rezensent leugnet nicht, dass er den letzten vorzustellenden Sammelband mit noch mehr Freude und Anteilnahme gelesen hat. Sebastian Pflugbeils Sammlung von 25 Erinnerungen junger Menschen, den "Kindern von 89ern", die die letzten Jahre der DDR und die Revolution zumeist als Schüler erlebten, ist vielleicht das schönste Erinnerungsbuch zum Jubiläum von 2010 gewesen, und die Autoren hätten allesamt den "Bürgerpreis zur Deutschen Einheit" verdient. Sie waren in den aufregenden Wochen vom Herbst '89 oft allein, auf sich gestellt, erleben Stasi-Überwachungen als Abenteuer oder managten Besuche und Anfragen neugieriger West-Journalisten. Manche wurden schlagartig erwachsen, weil ihre Mütter und Väter die Revolution machten, demonstrierten und diskutierten, zur öffentlichen Person wurden.
Wieder ist jeder Text ein Griff ins bunte Leben mit widersprüchlichen Akzenten und Wertungen, auch wenn hier die kritische Sicht auf die DDR überwiegt: schon als Folge der habitualisierten Außenseiter-Erfahrung bis 1989, die sich aus der familiären Distanz zum System fast durchweg ergab. Im Lesen durchschaut man Zusammenhänge und erkennt, dass alle vier Pflugbeil-Töchter und auch die vier Kinder von Erika und Heiko Lietz ihre familiären Geschichten dann doch, trotz sich wiederholender Anekdoten und Ereignisse, mit individuellen Details und verschobenen Perspektiven erzählen – gerade dies ein erinnerungstheoretisches Lehrstück, das eine detaillierte Analyse verdiente. Wer es noch nicht wusste, kann hier lernen, dass die so graue, monotone und totalitäre DDR dann eben doch eine gewaltige Spannweite von Erfahrungen zuließ. Die eine Tochter darf studieren, die andere nicht, hier ist die Lehrerin tolerant und die Kleine, die nicht bei den Jungen Pionieren ist, darf trotzdem zum Besuch des Patenschaftsbetriebs. Dort ist die Weigerung, in die FDJ einzutreten, dagegen fast eine biografische Katastrophe.
"Diestel"
Diestel (© Verlag Das Neue Berlin)
Diestel (© Verlag Das Neue Berlin)
Ganz zum Schluss wenigstens ein Prominenter! Schließlich hat fast als Letzter von den großen Gestaltern der deutschen Einheit endlich Peter-Michael Diestel seine Memoiren vorgelegt. Allerdings stehen die folgenden Bemerkungen ganz unter dem Schutz der privaten Meinungsäußerung, es handelt sich im Zweifelsfall immer "um eine Metonymie", wie es der Verfasser des zu besprechenden Buchs an einer Stelle festhält, um "nicht gleich einen neuerlichen Rechtsstreit [...] heraufzubeschwören" (168). Denn auf etlichen Seiten wird von Rechtsstreitigkeiten und Ehrenhändeln erzählt, die der letzte DDR-Innenminister als Rechtsanwalt in eigener wie fremder Sache eifrig und meist erfolgreich austrägt, sodass der Rezensent ebenso beeindruckt wie verängstigt ist. Überhaupt ist das Buch eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft, da es zwar den Namen Diestel auf dem Titelblatt trägt und sein prachtvolles Porträt auf dem Schutzumschlag, aber wohl doch keine Memoiren beinhaltet, sondern eine Biografie, da die "Geschichten aus 174 Tagen" des Jahres 1990 von Hannes Hofmann aufgeschrieben sind. Schließlich ist Peter-Michael Diestel doch viel zu bescheiden, als dass er all das Gute, was über ihn gesagt werden muss, selbst sagen mag.
Und so beginnt das Werk mit einem "Diestel-Hymnos", worin zehn Prominente – decken wir über ihre Namen den Mantel mitleidigen Schweigens – Diestels Klugheit, Gastfreundlichkeit, Ehrlichkeit, Lebenslust, hohe Bildung, Sportlichkeit, ja Fitness und Durchtrainiertheit, Wein- und Frauenkennerschaft und nicht zuletzt Verlässlichkeit rühmen. Leider erfahren wir hingegen über die 'Vorgeschichte' Diestels, seine DDR-Biografie, nur Bruchstücke, etwa, dass er nicht als Rechtsanwalt zugelassen wurde, sondern als Jurist in einem Agrarbetrieb tätig war. Immerhin werden die Bildung der DSU, die ersten Kontakte mit den Förderern von der CSU, der Wahlkampf und die Begegnungen mit Helmut Kohl erinnert – übrigens mit kräftigem Zugriff auf dessen Memoiren. Aber keine Sorge, ganz ohne Plagiat, alles ist sorgfältig in 146 Anmerkungen nachgewiesen, natürlich ohne Seitenangaben. Zu einfach muss es dem Leser nicht gemacht werden.
Von den Amtsaufgaben des DDR-Innenministers werden nur die wirklich wichtigen Themen intensiv behandelt, sodass die Experten diese wohl mit Gewinn lesen: die Auflösung des Staatssicherheitsdienstes, die dank der entgegenkommenden Mitwirkung der höchsten MfS-Generalität prima gelingt (man erklärt netterweise sogar, "dass alle feindlichen Aktivitäten gegen die Bundesrepublik Deutschland eingestellt sind", 113), und die Schatzsuche nach dem Bernsteinzimmer und anderen Kostbarkeiten. Nichts Geringeres als zwei von Hermann Göring in Auftrag gegebene, illegale Nachgüsse von Breker-Plastiken gehen dem findigen Innenminister dabei ins Netz – ein so bedeutsamer Fund, dass sogar der Briefwechsel mit Arno Breker im Faksimile erscheint.
Also nichts außer memoirentypischer Eitelkeit? Weit gefehlt! Wie hier auf die SED-Aufarbeitung eingedroschen wird, das hat Methode und ist ein Meisterstück der Ost-West-Konfrontation. Ihm komme, so Diestel im sehr reichlich eingestreuten Wortlaut, die "Gauck-Birthler-Behörde wie eine ABM-Firma für Westler vor, für die sich bürgerbewegte Ostdeutsche in verstaubten Stasi-Aktenregalen die Finger schmutzig machen. Mit seriöser Geschichtsaufarbeitung hat das nichts zu tun." Der "Irrglauben an den Wahrheitsgehalt der Stasi-Akten" sei aberwitzig, wisse man doch, dass "Geheimdienstler professionelle Lügner" seien (105). Indem Diestel-Hofmann permanent den Staatssicherheitsdienst als Geheimdienst kleinreden, ihn dutzendfach als "Schlapphüte" metonymisieren, reden sie auch das Leiden von Hunderttausenden klein, die keinem Geheimdienst, sondern einer Sicherheitspolizei zum Opfer fielen. So mag auch der etwas weinerliche Brief an seinen verstorbenen Vater, mit dem Diestel nun authentisch seine (Auto-)Biografie beschließt, nicht über diesen nassforschen Umgang mit eigener und fremder Geschichte hinwegtrösten und das ironisch in den Titel dieser Rezension gesetzte Zitat von Hans Christange bekommt für dieses Buch sein ernstes Recht.