1. Innere Einheit als Herausforderung für die Erwachsenenbildung nach der deutschen Wiedervereinigung
Eine wichtige Herausforderung für die Erwachsenenbildung/ Weiterbildung im Zuge der deutschen Wiedervereinigung war es, zur Schaffung einer "inneren Einheit" im vormals geteilten Deutschland beizutragen. Schließlich geht die Vereinigung Deutschlands über die institutionelle Integration weit über hinaus. Es ist unbestritten, dass eine Angleichung der ökonomischen Verhältnisse der Ost- und Westdeutschen für die "innere Einheit" eine große Bedeutung hat. Doch ist die innere Einheit zwischen den Deutschen nicht nur durch die ökonomische Angleichung zu erreichen. Die Tatsache, dass nach dem Niederreißen der Mauer zwischen den Gesellschaften der vormaligen deutschen Teilstaaten deutlich "ein geistiges und gesellschaftliches Miteinander" gewachsen ist und dies als bedeutsame Herausforderung angesehen wird
Erwachsenenbildung hat in Phasen des gesellschaftlichen Umbruchs auf verschiedene Weise Relevanz, da sie mit ihrem eigenen Organisationskonzept zur Planung von Bildungsangeboten, also einem "Angebot-Nachfrage-Modus", flexibel auf aktuelle gesellschaftliche Aufgaben reagieren und einen Beitrag zur Bewältigung der daraus resultierenden Probleme leisten kann.
Um herauszufinden, wie die Frage der "inneren Einheit" von den Akteuren wahrgenommen und in die Praxis umgesetzt wurde, wurden Tagungsdiskussionen analysiert, auf der verschiedene Experten aus Ost- und Westdeutschland über Erwachsenenbildung/Weiterbildung debattierten.
2. Tagungsdiskussionen als Quellenmaterial
Untersuchungsgegenstand sind zehn Tagungsdiskussionen, die im Rahmen der Konzertierten Aktion Weiterbildung (KAW) durchgeführt wurden. Die KAW war ein unabhängiges Sachverständigengremium für den Bereich der Weiterbildung, das als Forum für alle im Bereich der allgemeinen, politischen, beruflichen und der wissenschaftlichen Weiterbildung Verantwortlichen fungiert. Eingerichtet wurde die KAW, nachdem eine Reihe von Faktoren wie der Strukturwandel und die technische Entwicklung in den letzten Jahren die Bildungsarbeit vor neue Herausforderungen stellte.
Das KAW-Kolloquium war ein organisiertes Forum für die Bildungsexperten. Da diese aus verschiedenen Bereichen kommen und auf der Grundlage wissenschaftlicher Theorien und Erfahrungen zu aktuellen Themen umfassende Diskussionen führten – und dadurch Anregungen für die Partizipation am gesellschaftlichen Entwicklungsprozess gaben – dürften die Tagungsdiskussionen auf die Praxis der Weiterbildung wesentlichen Einfluss ausgeübt haben. Schließlich dienten die Tagungen der KAW als bundesweites Konsultations- und Koordinationsveranstaltungen für die im Bereich der allgemeinen, politischen, beruflichen und wissenschaftlichen Weiterbildung tätigen Träger und Organisationen und hatten einen offenen und kontinuierlichen Informations-, Erfahrungs- und Meinungsaustausch zu wichtigen weiterbildungsbezogenen Themen zu pflegen und in bildungspolitischen Fragen zu beraten und Empfehlungen zu erarbeiten.
Die Konzertierte Aktion Weiterbildung konnte deshalb als der erste – gelungene – Versuch in der Geschichte der deutschen Erwachsenenbildung gelten, alle Träger, die in diesem Bereich tätig sind, zu kontinuierlichen partnerschaftlichen Beratungen und Abstimmungen über gemeinsame Anliegen und Probleme zusammenzubringen.
Den Untersuchungszeitraum bilden die Jahre 1990–1996. Die wichtigsten Beiträge hatte die Weiterbildung in der Anfangsphase des deutschen Vereinigungsprozesses zu leisten, und dementsprechend ist diese Thematik in jenen Jahren am intensivsten behandelt worden. In methodischer Hinsicht wird ist die vorliegende Untersuchung hauptsächlich als qualitative Inhaltsanalyse
3. Der Begriff "innere Einheit"
Für die Analyse der Tagungsdiskussion war es zunächst notwendig, sich mit dem Begriff "innere Einheit" zu beschäftigen, um zu erkunden, welcher theoretischer Hintergrund dem Begriff zugrundeliegt. Der Begriff "innere Einheit" wird genutzt, um den Stand des Verhältnisses zwischen Ost- und Westdeutschen im vereinigten Deutschland zu charakterisieren. Er bezieht sich auf die beabsichtigte Annäherung zwischen den ost- und westdeutschen Lebensverhältnissen bzw. deren Reflexion
Die Rede von der "Mauer in den Köpfen" drückt das negative Verhältnis zwischen beiden Seiten bzw. von Angehörigen der verschiedenen politischen Systeme des zuvor geteilten Deutschlands im vereinigten Deutschland aus und weist auf gegenseitiges Misstrauen und innere Konflikte hin. Vielfach besteht schließlich aufgrund der schlechten oder als schlecht empfundenen wirtschaftlichen Lage eine negative Einstellung gegenüber der jeweils anderen Seite. Dieses (Spannungs-)Verhältnis kann sich negativ auf die Überwindung der aus der deutschen Einheit resultierten Probleme auswirken. Um dieses schwierige Verhältnis zu bewältigen, muss eine gesellschaftliche Atmosphäre geschaffen werden, in der beide Seiten einander verstehen und akzeptieren lernen und eine gemeinsame Wahrnehmung der gesellschaftlichen Lage entwickeln.
Diesen Aspekt berücksichtigt jedoch die Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit "innere Einheit" nur ungenügend. Vielmehr intendiert er häufig, dass ausschließlich die Ostdeutschen Schwierigkeiten hätten, sich in der oft als übergestülpt empfundenen Gesellschaftsstruktur des Westens zurechtzufinden, während es tatsächlich darum geht, wie die Menschen aus beiden Teilen Deutschlands miteinander harmonieren. Die "innere Einheit" kann also nicht allein durch die Ostdeutschen hergestellt werden. Auch die Westdeutschen haben einen Beitrag zu leisten – ungeachtet dessen, dass die deutsche Einheit als Beitritt der DDR zur BRD vollzogen wurde.
In diesem Sinne bedarf der Begriff "innere Einheit" in Teilen der Ergänzung. Er wird hier als ein Prozess definiert, in dem die Ost- und Westdeutschen die Vorurteile gegenüber dem jeweils Anderen korrigieren und versuchen, gemeinsam einen Weg für ein harmonisches Miteinander zu finden. "Innere Einheit" stellt also einerseits das Ziel dar und wird andererseits als ein langer Prozess ausgelegt. Dieser Prozess könnte zur Schaffung eines Konsens' über die aktuelle gesellschaftliche Lage und zu einem harmonischen Leben der Ost- und Westdeutschen beitragen.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Erwachsenenbildung/Weiterbildung bei der Begleitung der deutschen Vereinigung nicht nur an die Ostdeutschen, sondern auch an die Westdeutschen zu adressieren ist
Für die Analyse der Tagungsdiskussionen der Konzertierten Aktion Weiterbildung muss – ganz in Entsprechung zu dieser Vorüberlegung – der Begriff "innere Einheit" anhand verschiedener Kriterien beschrieben werden. Der Begriff selbst war hier hauptsächlich in den Diskussionen über Bildungsinhalte zu finden. Deshalb wird er im Folgenden vor allem auf Inhalte der Erwachsenenbildung/Weiterbildung in diesem Aufsatz verwendet und für die Aufgaben, die in diesem Bereich erfüllt werden sollen. Grundsätzlich stehen nicht nur die Ostdeutschen und die Westdeutschen vor der Aufgabe einer harmonischen Integration in die neue politische und gesellschaftliche Situation, sondern auch Migrantinnen und Migranten. Dieser Aspekt wird hier allerdings nicht aufgegriffen, zumal er in den 1990er-Jahren kaum thematisiert wurde.
4. Analyse der Diskussion
Das Thema "innere Einheit" sowie das der "gegenseitigen Annährung" wurde insgesamt auf sechs von zehn Tagungen behandelt und stand vor allem am Anfang der 1990er-Jahre auf der Agenda. Gerade auch auf den Tagungen zur politischen Weiterbildung war von "innerer Einheit" die Rede. Aus bildungsinhaltlicher Sicht wurden der "Dialog" und die "Begegnung" zwischen beiden Seiten für die politische Weiterbildung als bedeutsam angesehen. Die "gemeinsame Geschichtserfahrung" und der "unterschiedliche Umgang mit Geschichte" wurden als wichtige Faktoren für die Annäherung zwischen beiden Seiten betrachtet, eine offene Atmosphäre zwischen beiden Seiten als wichtige Voraussetzung für den Dialog.
Diese Bildungsinhalte sind zwischen Ost und West unterschiedslos behandelt worden. Allerdings wurde die "innere Einheit" als Bildungsinhalt in den Tagungsdiskussionen nur nachrangig thematisiert. Die Begriffe "gegenseitige Annährung" und "innere Einheit" wurden weder theoretisch noch auf der Handlungsebene geklärt, und der relativ oft genannte Begriff "gegenseitige Annährung" wurde meist im Sinne von "innerer Einheit" verwendet – allerdings immer nur mit Blick auf die Ostdeutschen. Sowohl "gegenseitige Annährung" als auch "innere Einheit" wurden als Bildungsinhalte für die Westdeutschen nicht angesprochen.
Die Bildungsexperten gingen davon aus, dass das jene, die die deutsch-deutschen Lebensgeschichten "zur Kenntnis nehmen" einen Beitrag zur Verständigung und zur gegenseitigen Akzeptanz leisten könnten. Indem die Deutschen aus den zuvor unterschiedlichen politischen Systemen, den unterschiedlichen Wirtschaftssystemen und den mental unterschiedlichen Kulturen ihre Erfahrungen miteinander austauschten
Allerdings wurden diese Aspekte auf den Tagungen in ebenso geringem Umfang behandelt, wie der Begriff "innere Einheit" in den Diskussionen nicht geklärt wurde. Da jedoch gerade der politischen Weiterbildung ein wichtiger Beitrag zur gegenseitigen Annäherung zugeschrieben wird, hätte dieses Thema aus verschiedenen Aspekten erörtert werden müssen. Als Bildungsinhalt war die Diskussion zur "inneren Einheit" marginalisiert.
Auch die Annäherung zwischen beiden deutschen Seiten wurde als Bildungsinhalt nur wenig thematisiert, obwohl es reichhaltige Programmangebote zur Geschichte beider deutschen Staaten gab
Da wegen der soziokulturellen Unterschiede dem gegenseitigen Dialog große Bedeutung zukommt,
5. Die Rolle der Erwachsenenbildung im Einigungsprozess
In den Tagungsdiskussionen wurde die Rolle der Weiterbildung für die "innere Einheit" zwischen beiden deutschen Seiten nicht ausdrücklich betont. Gleichwohl waren die Träger der Erwachsenenbildung/Weiterbildung sich der Herausforderungen bewusst, sich der "inneren Einheit" im wiedervereinigten Deutschland zu widmen.
Allerdings genoss aufgrund der Massenarbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern der Wiedereinstieg auf dem Arbeitsmarkt absolute Priorität. Angesichts dessen ist es verständlich, dass sowohl auf den Tagungen als auch in der Weiterbildungspraxis die berufliche Qualifizierung im Mittelpunkt stand, wenngleich Weiterbildung kein Eintrittsbillet auf den Arbeitsmarkt war, wie sich nach und nach herausstellte. Auf jeden Fall wurden Qualifizierungsmaßnahmen intensiv diskutiert, verlangte der gesellschaftliche Umbruch doch neue, umfassende und zusätzliche berufliche Kompetenzen. Allerdings wurde die Dominanz des beruflichen bildungsbezogenen Aspekts in den Diskussionen der KAW-Kolloquien stets kritisiert.
Der Beitrag von Erwachsenenbildung/Weiterbildung liegt ausschließlich darin, die Menschen demokratiefähig zu machen, indem ihre sozialen und personalen Kompetenzen erweitert werden. Zugleich geht es darum, ihre Klienten arbeitsmarktfähig zu machen bzw. zu halten, indem sie ihre beruflich-fachliche Qualifikation verbessert wird. Die Teilhabe an der Gesellschaft und die Partizipation am Arbeitsmarkt sind für alle Menschen die Grundbedingungen für eine Harmonisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Erwachsenenbildung/Weiterbildung kann dazu einen Beitrag leisten, aber unmittelbaren Einfluss auf politische und ökonomische Rahmensetzungen, unter denen sich die "innere Einheit" zwischen beiden deutschen Seiten vollziehen kann, hat Erwachsenenbildung/Weiterbildung nicht. Mit ihren Bildungs- und Qualifizierungsangeboten schafft sie allerdings eine wichtige Grundlage dafür, dass Menschen sich damit auseinandersetzen und daran partizipieren.
6. Nachbemerkung
Im Sommer 2005 erklärte Manfred Stolpe, dass beim Aufbau Ost "Halbzeit" sei. Das klang, als könnten die Ostdeutschen in den nächsten 15 Jahren erreichen, wovon sie 1990 träumten: eine starke, transferunabhängige Wirtschaft, gleiche Lebensverhältnisse und "innere Einheit". Fachleute sind skeptischer. Statt einer stabilen "inneren Einheit" rechnen sie einer starken Differenzierung innerhalb Ostdeutschlands in wenige städtische Zentren und unterentwickelte ländliche Regionen, mit anhaltender Abwanderung und rascher Überalterung, mit verfestigten Unterschieden beim Einkommen und Vermögen, mit anhaltendem Transferbedarf und einer Tradierung ostdeutscher Besonderheiten. Der Verteilungskonflikt um die Transfergelder wird – entgegen aller Solidaritätsbeschwörungen – zuspitzen, der Ost-West-Gegensatz noch Jahrzehnte andauern. Alter und Arbeitslosigkeit haben in den ostdeutschen Ländern ein anderes Gesicht, sie treffen auf eine Gesellschaft, in der soziale Bindungen nahezu vollständig in die Strukturen der Arbeitswelt eingelassen waren.
Einige Publizisten sagen eine fortdauernde Kultur der Ungleichheit und der Unterschiede voraus, auf die im Osten wie im Westen kaum jemand vorbereitet sei.
Für den Rückgang der Demokratiezufriedenheit sind drei Faktoren zu nennen: das Ausbleiben eines selbsttragenden wirtschaftlichen Aufschwungs in den neuen Bundesländern, der trotz enormer finanzieller Transfers von West nach Ost nicht zustande kam. Zur Unzufriedenheit mit der Demokratie trägt auch bei, dass viele Ostdeutsche das Gefühl haben, bei der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums ungerecht behandelt worden zu sein bzw. behandelt zu werden und am allgemeinen Wohlstand nicht partizipieren zu können. Und schließlich resultiert die geringere Akzeptanz des demokratischen Systems in Ostdeutschland auch aus dem Empfinden vieler, im vereinigten Deutschland nicht gleichberechtigt zu sein und als "Bürger zweiter Klasse" behandelt zu werden. Darüber hinaus erschwert die – unerwartet ausgeprägte – emotionale Bindung vieler an die DDR die Befürwortung der Demokratie.
Nicht Mangel an Verständnis für die Prinzipien von Marktwirtschaft und Demokratie ist der Grund für die verbreitete Skepsis der Ostdeutschen beidem gegenüber, sondern die Unzufriedenheit mit den erfahrbaren und häufig unmittelbar erfahrenen Auswirkungen dieser Prinzipien. Deshalb ist es falsch, die diagnostizierte rückläufige Demokratieakzeptanz als Bildungsproblem zu betrachten und zu schlussfolgern, dass die Menschen noch besser über die Grundlagen der westlichen Ordnung aufgeklärt werden müssten. Die "innere Einheit" ist kein bildungspolitisches Problem mehr, weil die Ostdeutschen in den vergangenen Jahrzehnten genug Belehrung erhalten haben