I.
"Das gab es auch bei uns! Und es gibt noch mehr, was wir zeigen könnten." So lautete der Tenor von Besuchern aus dem geografisch eher nördlichen, politisch hingegen einst östlichen Teil des neuen Doppelbezirks Friedrichshain-Kreuzberg, als im Kreuzberg-Museum 2003 die Ausstellung "Geschichte wird gemacht! Berlin am Kottbusser Tor. Stadtsanierung und Protestbewegung in Kreuzberg SO 36" eröffnet wurde.
Der Bezirksteil Friedrichshain durchlebt zurzeit den zweiten Austausch seiner Bewohner seit 1990. Ursprünglich proletarisch geprägt, zogen seit den Siebziger- und Achtzigerjahren, aber besonders seit der Maueröffnung viele bunte Leute, Punks, Individualisten, Künstler, Hausbesetzer und andere in die marode Bausubstanz und verhalfen dem Stadtteil mit ihrer Präsenz zur Bezeichnung "Kreativbezirk". Inzwischen sind es eher junge Familien, Angehörige einer gut ausgebildeten Mittelschicht, die sich die sanierten Wohnungen leisten können und – wie manche befürchten – den Bezirk in eine Schlafstadt umwandeln. Kaum jemand von diesen Neubewohnern weiß etwas von der bewegten Geschichte Friedrichshains im letzten Jahrhundert. Dabei gibt es durchaus etwas zu erzählen, wie nur einige Stichworte belegen: Beginn des Aufstands am 17. Juni 1953, die Blues-Messen 1979–1980, der Kirchentag von Unten 1987 und die Mainzer Straße 1990.
Vor der Gründung des Museums formierte sich ein als Colloquium bezeichneter Gesprächskreis, bestehend aus Schul- und Museumspädagogen, einem Vertreter der Kirchengemeinde, ehemaligen Sozialarbeitern, einem Historiker und mehreren Vertretern widerständiger Gruppen, die in den Achtzigerjahren in Friedrichshain aktiv waren, sowie auch Vertretern der Hedwig-Wachenheim-Gesellschaft, die als Trägerin des Museum fungiert. Seit 2007 fanden unregelmäßig mehrere Treffen statt, im Februar 2010 sogar eine dreitägige Klausurtagung im Rüstzeitheim Hirschluch bei Storkow.
Schon früh in der Anfangsphase wurde die Erwartung formuliert, innerhalb von zehn Jahren ein Museum zu etablieren, das gerade Jugendliche ansprechen und sie über Jugendbewegungen vergangener Jahrzehnte in Friedrichshain informieren soll. Damit verbunden war von Beginn an der Gedanke, junge Menschen zu ermutigen, sich aktiv in der Gesellschaft für eigene Interessen einzusetzen: "Zivilcourage ist wie ein Muskel, der immer wieder trainiert werden muss."
Mit der Galiläakirche in der Rigaer Straße 9–10, deren Gemeinde sich mit der Samaritergemeinde vereinte, war auch ein Ort gefunden, wo diese Ausstellung eingerichtet werden konnte. Diese Kirche wurde 1910, kurz nach Errichtung der umliegenden Mietshäuser erbaut und ist als ein authentischer Ort unangepassten und widerständigen Handelns in beiden deutschen Diktaturen gut geeignet, Widerstandsgeschichte zu präsentieren. In den Dreißiger- und Vierzigerjahren wirkte hier mit Eugen Senger ein Pfarrer der Bekennenden Kirche, bis 1968 traf sich in den Kellerräumen der Kirche eine staatskritische Pfadfindergruppe und seit 1976 kamen unter Pfarrer Gerhard Cyrus Jugendliche, die mit der staatlichen Jugend- und Freizeitpolitik unzufrieden waren, in die Gemeinderäume. Seit Anfang der Achtzigerjahre waren es vor allem Punks, die sich hier trafen. 1986 ließ der Pfarrer erstmalig in der DDR eine Punkband in einem regulären Sonntagsgottesdienst spielen. Dabei erklärte er seiner Gemeinde: "Wenn ich Sorgen habe oder frustriert bin, dann setze ich mich in die Kirche und klage ich leise. Aber diese jungen Leute hier klagen laut."
Im Gegensatz zu einer Berliner Initiative, die seit Jahren ein DDR-Widerstandsmuseum einzurichten plant, gab es hier keine Berührungsängste zur Kirche: Dass Widerstand gegen die SED-Diktatur in und aus den Räumen der Kirche stattfand, soll selbstverständlich gezeigt werden, zumal bis zur Gründung der neuen Basisgruppen in Sommer und Herbst 1989 sich alle widerständigen Gruppen in Ost-Berlin als Teil der evangelischen Kirche ansahen – bis auf die Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM). Aber: die evangelische Kirche war nicht der Ausgangspunkt, Entstehungsort oder, sinnbildlich gesprochen, die "Mutter der Revolution". Immer gab es nämlich auch Konflikte zwischen den widerständigen Gruppen, Kirchengemeinden und Kirchenleitungen, die viel zu oft auf ein ausgewogenes Verhältnis zum SED-Staat setzten. Das Jugend[widerstands]museum in den Räumen der Kirche einzurichten, bedeutet, sich diesen Konflikten zu stellen und sie zu erklären.
II.
Als Projektträgerin mietete die Hedwig-Wachenheim-Gesellschaft 2008 die Kirchenräume an und startete ein erstes Projekt mit MAE-Kräften
Die erste bescheidene Ausstellung, die am 9. November 2008 eröffnet wurde, mutete noch wie eine Wandzeitung an, wurde aber mit großem Interesse aufgenommen. Sie besaß bereits zwei wichtige Elemente, die grundlegend zur konzeptionellen Ausstattung der Dauerausstellung gehören: Rahmen und Träger der Ausstellungstafeln bestehen aus zusammenmontierten Baugerüsten. Damit soll auf den ersten Blick vermittelt werden, dass Geschichtsdarstellungen immer konstruiert und daher stets nur als vorläufige Erklärungen und als Angebote zu verstehen sind, nie aber als unerschütterlicher Kanon feststehender Ereignisfolgen. Dahinter steckt auch die Absicht, die Besucher aufzufordern und zu ermutigen, sich selbst ein eigenes Bild von der Geschichte zu erarbeiten.
Das andere bereits seit Anfang an bestehende Gestaltungselement der Ausstellung ist das Konzept der Eventibition, das Veranstaltung und Ausstellung in ein und demselben Raum anbietet und die Besucher selbst themenfremder Vorstellungen, wie weltliche Konzerte, erreicht. Hauptsächlich bietet das Museum aber themenbezogene Veranstaltungen an: zum Beispiel einen Vortrag über Denkmäler für Wehrdiensttotalverweigerer in Deutschland im Herbst 2009 (das vom Freundeskreis der Wehrsdiensttotalverweigerer 1988 initiierte Denkmal "Dem unbekannten Deserteur", das bis 1989 vor der Samariterkirche stand, befindet sich im Besitz des Museums), "Bemalt und ungenormt. Frauen im Ostpunk" im November 2009 oder "Jugendliche im Visier des MfS" Filmpräsentation und Zeitzeugengespräch in Zusammenarbeit mit der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) im Mai 2010.
In letzter Zeit ist das Museum auch beratend und vermittelnd aktiv geworden, etwa für die Produktion des Films "Der Verrat. Wie die Stasi Kinder und Jugendliche als Spitzel missbrauchte" von Kuno Richter, der 2011 mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet wurde. Eine ausgesprochen spannende Veranstaltung im Wahljahr 2009 war die Podiumsdiskussion mit Direktkandidaten der im Bundestag vertretenen Parteien, die mit Fragen zu ihrer Geschichtspolitik konfrontiert wurden.
III.
Flyer des Jugendwiderstandsmuseums. (© Gestaltung: Olga Akbal)
Flyer des Jugendwiderstandsmuseums. (© Gestaltung: Olga Akbal)
Das Jugend-[widerstands]museum richtet sich vor allem an Jugendliche, indem es Lebenswelten unangepasster Friedrichshainer Jugendlicher und junger Erwachsener von den Fünfzigerjahren bis ins Jahr 1992 darstellt und damit auch zeigt, dass es vornehmlich Jugendliche und junge Erwachsene waren, die auf gesellschaftliche Veränderungen drängten. Nicht nur Sicherheitskräfte oder Lehrer versuchten, sie daran zu hindern, oft genug waren es auch die eigenen Eltern, Nachbarn, sogar Kirchengemeinden und viele andere, die sich in der DDR eingerichtet hatten. Der in den letzten Jahren künstlich geschaffene Mythos Bürgerbewegung, dessen Befürworter eine Anti-SED-Volksbewegung beschwören, findet hier ebenso wenig Nahrung wie der Versuch, das soziale und kulturelle Widerstandspotential in urbanen Stadtzentren der Siebziger- und Achtzigerjahre in die Nähe bestimmter politischer Parteien zu rücken. Derartig intendierte Aufarbeitung der SED-Diktatur führt in eine gefährliche Sackgasse.
Das Konzept des Jugend[widerstands]museums sieht vor, renitentes Verhalten Jugendlicher bereits auf einem relativ niedrigen Niveau als authentische Willensäußerung darzustellen, gerade weil es von DDR-Sicherheitskräften oft als politisch motiviert angesehen und hart bestraft wurde. So stehen Ereignisse, wie die Beat-Demonstrationen am Strausberger Platz am 7.Oktober 1965 und 1966, die Krawalle am Alexanderplatz am 7. Oktober 1977 und die Bemalung des Storkower Tunnels im November 1983 gleichwertig neben eindeutig politisch widerständigen Ereignissen, wie den Berliner Appell 1982 oder den Kirchentag von Unten im Juni 1987. Spontane unbestimmte Unmutsgefühle und -äußerungen, wie sie jedem bewusst widerständigem Verhalten vorausgingen, sind typische Artikulationsformen Jugendlicher.
Hier ist der Ansatzpunkt, den Besuchern Geschichte zu vermitteln und sie selbst in ihrem eigenen couragierten Handeln zu bestärken. Dadurch wird auch eine ungerechtfertigte Verklärung von Helden vermieden. Oft genug stehen Helden aufgrund ihrer Darstellung in abstrakten Handlungsräumen weit entfernt von der Lebenswelt heutiger Jugendlicher. Emotionales Aufbegehren gegen eine als ungerecht empfundene Situation, aber auch das Gefühl, eine strengen Autorität durch eine witzige Aktion "aufs Kreuz" gelegt zu haben, kennt hingegen jeder. Genau hier wird in der Ausstellung angesetzt. Damit soll auch den leider weit verbreiteten Vorstellungen entgegentreten werden, dass die Friedens-, Umwelt- und Menschrechtsbewegung in der DDR aus alten bärtigen, traurig dreinschauenden Männern und Frauen mit trostlosen Geschichten bestand, deren aktuelles gesellschaftspolitisches Interesse bestenfalls noch im Verteilen moralinsaurer Ratschläge zu erkennen ist.
IV.
2010 gewährte die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur einen Zuschuss, der aus Lottomitteln ergänzt wurde, mit dem dringend benötigte Beleuchtung, Elektronik, weitere Rüstungselemente und der Grundstock einer Bibliothek angeschafft wurden. Zudem konnte in einem Querschiff ein Seminarraum mit einem Rechner-Arbeitsplatz eingerichtet werden. Zur Eröffnung im Januar 2011 erschien auch ein handlicher 100-seitiger Ausstellungskatalog. Die neugestaltete Homepage ging im Juni 2011 unter Externer Link: www.widerstandsmuseum.de ins Netz.
Detailansicht der Ausstellung in der Galiläakirche. (© Olga Akbal)
Detailansicht der Ausstellung in der Galiläakirche. (© Olga Akbal)
Auf 33 neu konzipierten Ausstellungstafeln sind jetzt mehr als 50 Ereignisse aus der Geschichte Friedrichshains seit 1945 dargestellt, komplettiert mit einem Zeitstrahl, der den vorgestellten Themen 162 wichtige, auch internationale zeithistorische Ereignisse gegenüberstellt. Aus mehr als 15 Zeitzeugeninterviews wurden drei ca. 20-minütige Filmschleifen produziert, die auf drei Bildschirmen in der Ausstellung abgespielt werden. Neben einigen Tafeln wurden laminierte Dokumente des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zum Nachlesen angebracht, um den Zuschauern ein authentisches Bild von der Herrschaftssprache zu vermitteln. Bei der inhaltlichen und gestalterischen Bearbeitung hat das Rechercheteam der Hedwig-Wachenheim-Gesellschaft Hervorragendes geleistet, ebenso das Bauteam in der Kirche, zumal aus Gründen des Denkmalschutzes kein Stück Wand gestrichen und kein Nagel in die Mauern geschlagen werden darf.
Im vierten Jahr der Zehn-Jahres-Planung ist noch vieles unbefriedigend, so zum Beispiel die Gestaltung des hohen Kirchenraumes und die Ausstattung des Museums mit gegenständlichen Exponaten. Dagegen finden sich immer wieder Themen aus den Achtzigerjahren, mit denen die Ausstellung komplettiert werden können: unabhängige Autoren und Dritte-Welt-Gruppen in Friedrichshain oder illegal hergestelltes und vertriebenes Modedesign.
Auch gibt es noch keine zufriedenstellende Lösung, wie die Ergebnisse eines Projektes der Geschichtswerkstatt der Hedwig-Wachenheim-Gesellschaft aus den Jahren 2009/10 in einer adäquaten Weise präsentiert werden können. Dabei entstanden unter der Leitung des Historikers Hans Wolfgang Funke 15 Ausstellungstafeln zum Thema "Jugendwiderstand in Friedrichshain im Dritten Reich". Auch hier waren Projektmitarbeiter und Ausstellungsbesucher über die Vielfalt widerständigen Handelns im Bezirk überrascht. Dabei galt es, unter der vereinheitlichten Schicht antifaschistischen Widerstandskampfes, wie ihn die SED propagiert hat, eigenständige Artikulationsformen in den proletarischen Milieus in zahlreichen sozialen Gruppen, Massenorganisationen und Parteien herauszuarbeiten. Eine echte Forschungsleistung.
Zurzeit wird an einem museumspädagogischen Konzept gearbeitet, um Schulklassen auch Workshops anbieten zu können. Analog zur Kombination von Ausstellung und Veranstaltung, der Eventibition, sollen noch weitere Angebote ausgearbeitet werden, die in Wortspielen wie Edutainment und Museotainment ausgedrückt werden, und das Museum zu einem Ort machen, an den vor allem Jugendliche und junge Erwachsene gern kommen.
Das Jugend[widerstands]museum befindet sich inzwischen in einer Phase, in der es einen weiteren Schritt in Richtung Professionalisierung gehen kann. Das bedeutet, sich trotz der bereits erreichten Standards in den Kernaufgaben Bewahren, Forschen, Ausstellen und Vermitteln, die das International Council of Museums (ICOM) festgeschrieben hat, sich weiteren Erfordernissen des ICOM anzunähern und bereits bestehende Kontakte zu musealen Instituten, Museumsverbänden, kommunalen Institutionen und vor allem Bildungseinrichtungen zu vertiefen. Klassisches Networking gehört ebenso zum weiteren Ausbau des Museums, wie die Konzeption eines leistungsfähigen Marketing- und Eventmanagement. Erste Schritte wurden hierfür bereits unternommen.
Eröffnung der Sonderausstellung "Poesie des Untergrunds" am 18. August 2011. (© Bernhard Freutel)
Eröffnung der Sonderausstellung "Poesie des Untergrunds" am 18. August 2011. (© Bernhard Freutel)
Gegenwärtig wird im Schnitt eine Besucherzahl von etwa 30 Personen in der Woche gezählt. Ein großer Teil der Besucher sind junge Touristen aus dem Ausland. Mitunter kommen auch Schulklassen aus anderen Städten, denen Führungen angeboten werden. Dies ist natürlich noch kein akzeptabler Zustand. Die Steigerung der Besucherzahlen gehört, wie bereits beschrieben, zur Agenda des Museums.
Interessant ist die Beobachtung, dass das Museum in den Publikationen Aufarbeitungsszene bislang nicht zur Kenntnis genommen und auch von Mitarbeitern anderer Aufarbeitungsinitiativen, -einrichtungen und -instituten nicht besucht wird.
Das Jugend[widerstands]museum ist inzwischen mehr als ein im Entstehen begriffenes Stadtteilmuseum. Es hat die Galiläakirche, die bei vielen Anwohnern als Gotteshaus immer ein gesellschaftlicher Mittelpunkt war, nach Jahren der Schließung wieder zu einem offenen Raum gemacht.