I.
Nirgendwo sonst liegen Wesen und Denken der SED-Diktatur so hüllenlos offen wie in ihrer eigenen Sprache. Besonders in jenen Dokumenten, die niemals dazu bestimmt waren, öffentlich bekannt zu werden, tritt uns dieses kommunistische Regime am authentischsten entgegen. Deshalb genügen 13 Seiten, die Essenz von 70 Minuten Besprechung an einem Dienstag im Sommer 1973, um einen geradezu intimen Einblick in die bewussten wie unbewussten Wahrnehmungen und Gedanken der Eliten des SED-Staates zu erhalten. Dazu muss man sie lediglich buchstäblich beim Wort nehmen.
Als "Geheime Verschlusssache des MfS Nummer 005–725/73" eingestuft, entstand an jenem 24. Juli 1973 die fast stenographische Niederschrift eines Treffens von
Staatssicherheits-minister Erich Mielke, Verteidigungsminister Heinz Hoffmann und Innenminister Friedrich Dickel.
Gegenstand des Ministertreffens war die finale Abstimmung der "bewaffneten Organe" im Vorfeld der vier Tage später beginnenden X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Ost-Berlin. Zum zweiten Mal war die "Hauptstadt der DDR" Austragungsort dieses kommunistischen Spektakels, des "Roten Woodstock"
Das Motto von "Frieden, Freundschaft und antiimperialistischer Solidarität", für die man einstehen wollte, kaschierte den harten politischen Kern dieser weich daherkommenden Veranstaltung dann auch nur in Maßen. Die Bedeutung der Weltfestspiele für das SED-Regime, als Plattform der internationalen und nationalen Präsentation der Staat gewordenen Errungenschaften des Sozialismus lässt sich beispielsweise daran ermessen, dass die noch unmittelbar aus ihrer diplomatischen Isolation heraustretende DDR den Rahmen des Sommers 1973 nutzte und – als erstes Land in Europa – den Vorsitzenden der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), Jassir Arafat, als Gast der Weltfestspiele empfing. In der Folge wurde ein weitreichendes Abkommen unterzeichnet, das unter anderem die Eröffnung eines Vertretungsbüros der PLO in Ost-Berlin zuließ. Symbolischer und politisch unverfänglicher konnte die SED das notwendige Abgrenzungsprimat nach dem Grundlagenvertrag und der Annäherung mit der Bundesrepublik bei gleichzeitiger antizionistischer, antiimperialistischer und israelfeindlicher Doktrin nicht zelebrieren, geschah dies doch nur zehn Monate nach dem von palästinensischen Extremisten der Fatah-Organisation verübten Anschlags auf die israelische Olympiamannschaft in München und sechs Wochen nach dem ersten Besuch eines Bundeskanzlers in Israel.
Die ganze Tragweite der Weltfestspiele für die DDR lässt sich aber auch auf der nicht-öffentlichen Ebene ermessen, das heißt: am Umfang und an der Intensität, mit der die "bewaffneten Organe" im Hintergrund agierten. Längst ist bekannt, mit welcher Akribie und welchem quantitativen Umfang Ministerium für Staatssicherheit (MfS), Nationale Volksarmee (NVA) und Volkspolizei dabei vorgegangen sind.
II.
Plakat der X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Ost-Berlin 1973. (© Bundesarchiv, Plak 100-052-030)
Plakat der X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Ost-Berlin 1973. (© Bundesarchiv, Plak 100-052-030)
Im Zusammenhang mit dem bemerkenswert spät, erst im Juni 1973, verabschiedeten "Plan der Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit während der X. Weltfestspiele", stand auch die Sitzung am 24. Juli 1973. Erich Mielke hatte in die Normannenstraße eingeladen, um "eine Reihe vordringlicher Hauptaufgaben, die entsprechend dem Gesamtplan der Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit während der X. Weltfestspiele besonders in den Vordergrund zu stellen" waren, zu erläutern. In seinen beiden ersten Punkten ging der "Genosse Minister" dabei auf "feindliche Pläne" und die "Broschüren der Jungen Union" ein: "Wir haben", so Mielke, "jetzt den Überblick über die feindlichen Pläne und sind im Besitz der Broschüren [...]. Trotzdem bleibt eine unbekannte Größe: die Konkretheit der feindlichen Pläne und Absichten, d. h. die Termine, die Örtlichkeiten usw. für feindliche Handlungen. [...] Es ist unsere Aufgabe, alle Informationen zu erhalten, einzuschätzen, um Maßnahmen rechtzeitig einleiten zu können [...,] was sie vorhaben, wie sie das machen wollen". Außerdem sei "aus den Broschüren [...] zu erkennen, welche Taktik sie einschlagen wollen. Sie haben alle Festivale [sic!] analysiert, was los war, was geschah, wie auch die Armee reagierte usw. Sie haben eine ganze Guerilla-Taktik beschrieben. [...] Sie wollen den öffentlichen Diskussionen ausweichen, gewissermaßen aus der Kontrolle des offiziellen Veranstalters heraus". (73–75)
Ausgehend von dieser Bedrohungsperzeption umriss Mielke das Spannungsfeld, indem sich die "bewaffneten Organe" bewegten: "Alle Maßnahmen gegen diese Kräfte müssen der festgelegten Generallinie entsprechen; keinen Einsatz von unseren Kräften nötig werden lassen, um zu verhindern, dass sich daraus Weiterungen ergeben. Zum Beispiel durch den Einsatz des Zentralen Musikorchesters, von FDJ-Gruppen usw., also mit allen möglichen politischen Mitteln arbeiten, um dieser Sache, den Plänen der Jungen Union und ähnlichen, zu begegnen. Daraus ergibt sich auch, auf alle Kräfte, auch die Kräfte der NVA, durch die entsprechende Instruierung über die Kommandeure einzuwirken, damit die festgelegte politische Linie verstanden und eingehalten wird. Man muss sie richtig einweisen, damit sie sich richtig verhalten. [...] Nur wenn große Störungen verursacht werden, holen wir uns natürlich dann auch die Erlaubnis zum Eingreifen. Durch die notwendige Großzügigkeit in der Meinungsfreiheit können unsere jungen Soldaten und Volkspolizisten in eine komplizierte Lage geraten, zu entscheiden (wie sie sich verhalten sollen)." (74)
Weiter heißt es: "Es gibt bereits Vorkommnisse, wo Teilnehmer, Delegierte, mit feindlichen Elementen in Berührung gekommen sind. Man muss alle Kräfte aufklären und immun machen gegen solche Gefahren. Auch unsere eigenen Genossen müssen wir auf diese Gefahren aufmerksam machen, damit sie sich selbst schützen [...]. Solche Kontaktversuche feindlicher Kräfte zu erkennen, ist für manche nicht leicht, weil sie sich unter dem Deckmantel der Freundschaft – gerade jetzt zu den Weltfestspielen – tarnen und anbiedern können. Wir werden alle Vorkommnisse registrieren, wenn wir jetzt auch nichts machen können." (76f) Ergänzend bemerkte Innenminister Dickel: "Auch die Frage der Freizügigkeit der Meinung usw. wurde in den Einweisungen berücksichtigt, die Kräfte daraufhin orientiert. Der Volkspolizist hat eine bestimmte Ausbildung und auch politische Auffassung und versucht das zu tun, was man ihm bisher beigebracht hat. Das ist äußerst bedeutsam." (82)
III.
Was Mielke und Dickel hier zum Ausdruck bringen, umschreibt die zentrale Herausforderung vor die die Weltfestspiele das SED-Regime stellten: Die Suggestion einer pluralistischen offenen Gesellschaft bei gleichzeitiger unverminderter Kontrolle und Verfolgung von Kritik am Sozialismus und der DDR. Der Rahmen der Spiele bedingte eben nicht nur das Handlungsprimat des Vorbehalts für die Vorgehensweise der "bewaffneten Organe", das heißt, eine dem politischen Gebot des Augenblicks gehorchende Domestizierung des Repressions- und Verfolgungsapparates im Hinblick auf die Schwelle des noch zu duldenden Ausdrucks freier Meinung. Es bedeutet vielmehr auch eine selbstauferlegte Zurückhaltung in der Verfolgung und Ahndung. Denn allein die Anwesenheit ausländischer Teilnehmer und internationaler Korrespondenten, aber ganz besonders die durch Ost-Berlin initiierte umfassende mediale Berichterstattung ließen Repressivmaßnahmen nur um den Preis eines katastrophalen Ansehensverlustes zu. Sowohl der Umstand von zu billigender freier Meinung per se als auch die gebotene Sensibilisierung des einfachen Soldaten und Volkspolizisten dafür, dass sein ausgebildetes, gewohnheitsmäßiges Vorgehen inopportun sein konnte – er also nicht zu großzügig in der Billigung freier Meinung werden durfte, aber eben auch nicht zu restriktiv –, waren der Kern der "festgelegten Generallinie" während der Weltfestspiele.
Wenn Mielke erklärt, dass die "notwendige Großzügigkeit in der Meinungsfreiheit" eine politische Entscheidung sei, die es zu "instruieren" gelte, dass "Weiterungen" im Vorgehen unbedingt zu verhindern seien und Vorkommnisse "nur registriert" werden sollten, weil "wir jetzt nichts machen können", dann ist dies eine desaströse Selbstoffenbarung. Nicht nur das Faktum an sich, dass die Meinungsfreiheit erst während der Weltfestspiele "großzügig" erlaubt wurde, sondern dass dies auch als dezidiert "notwendiger" Akt galt, ist ein vernichtendes Eingeständnis. Es ist geradezu grotesk und bezeichnend zugleich, wenn man sich auf der einen Seite der Meinungsfreiheit im Sinne eines an- und abschaltbaren Instrumentariums politischer Opportunität bedienen musste, aber damit die eigenen Sicherheitskräfte, die eine "bestimmte Ausbildung und auch politische Auffassung" hatten, in eine "komplizierte Lage" brachte und sie "deshalb" erst daraufhin "orientieren" musste, damit sie sich "richtig" verhielten. Dass damit ausgesagt wurde, dass die politisch intendierte "Auffassung" des Volkspolizisten Meinungsfreiheit weder vorsah noch akzeptierte, sowie das Eingeständnis der Tatsache, dass die Weltfestspiele es bedingten, "nur" zu "registrieren", weil man "jetzt" nichts "machen konnte", sind in Syntax und Semantik Belege der "Grammatik des Totalitarismus"
Mielkes Charakterisierung der "feindlichen Elemente" ist allerdings noch entscheidender. Er beschreibt sie im Protokoll geradezu biologistisch und hoch emotionell. Bei ihm kommt man in "Berührung" mit "Elementen", "feindlichen" zumal. Da gilt es, sich "immun" zu machen gegen derartige "Kontakte"; da muss man darüber "aufklären", damit sich die eigenen Kräfte "schützen" können vor den "Gefahren". Mielke konnotiert hier das, was er sagt, als gelte es während der Weltfestspiele eine Seuche zu bekämpfen, eine grassierende Epidemie einzudämmen. Er entwirft das stark das Gefühl ansprechende Bild einer scheinbar gefährlichen, heimtückischen, abstoßenden, fast unsichtbaren Bedrohung. Und "manche", das heißt: nicht er und die "Genossen Minister", erkannten diese Gefahren nicht, weil sich die "feindlichen Elemente" unter dem "Deckmantel der Freundschaft tarnen und anbiedern". Ein verachtendes Vokabular für einen vermeintlich verschlagenen, gerissenen und skrupellosen "Gegner": die freie Meinung, das individuelle Denken.
IV.
Mielke griff die "feindlichen Elemente" an zentraler Stelle wieder auf, nämlich als es um eine "weitere Hauptfrage; [die] Frage der Grenze" ging. (77) Hier habe man aber, führte er aus, "zum Glück gut gearbeitet", denn es bestünde schon ein "dreifacher Ring" – gemeint war die Strukturierung des unmittelbaren Grenzraumes in eine fünf Kilometer umfassende "Sperrzone", einen 500 Meter großen "Schutzstreifen" und den zehn Meter breiten "Kontrollstreifen".
Blick auf die Grenzsicherungsanlagen der Berliner Mauer am Checkpoint Charlie, März 1973. (© AP)
Blick auf die Grenzsicherungsanlagen der Berliner Mauer am Checkpoint Charlie, März 1973. (© AP)
An den GÜST [Grenzübergangsstellen] werden wir weiter strenge Kontrollen durchführen. Den Prozess gegen diese Elemente werden wir nach dem Eintritt in die UNO durchführen", so Erich Mielke. (78)
In Bezug auf Mauer und Grenze hatte man allerdings noch weitergehende Besonderheiten zu beachten, denn im Monat der Weltfestspiele ereigneten sich gleich zwei, von der Öffentlichkeit in der Bundesrepublik und West-Berlin sehr aufmerksam verfolgte Zwischenfälle. Besonders die Umstände der Flucht von Klaus Gomert wurden dabei intensiv diskutiert.
Mielke nahm nun den "Fall Gomert" (im Protokoll durchgängig "Gommert") zum Anlass, um auf zwei Aspekte aufmerksam zu machen. Zum einen gab der Minister "einige Erläuterungen [...] über Untersuchungsergebnisse, Wirkung bei Journalisten und Polizei in Westberlin". Er führte aus: "Nach den festgelegten und guten Plänen, die es gibt zwischen NVA-Grenze und Volkspolizei, wurde bei Gomert nicht gehandelt. Das Zusammenwirken wurde durchbrochen. Es darf von keinem ein Befehl geändert werden, der dazu gegeben ist. Alles lässt sich im Fall Gomert nicht mehr rekonstruieren. Hätten alle genau nach den Befehlen gehandelt, wäre er gar nicht bis vor [die Mauer selbst] gekommen." – "Wir müssen", so Mielke weiter, "noch einmal genau überprüfen, ob wir alles bedacht haben; zum Beispiel wenn Teilnehmer [der Weltfestspiele] zu einem Punkt an der Grenze strömen. Das ist schon aus Neugier denkbar. Darunter können Provokateure sein. Einer oder zwei laufen los zu sehen was die Grenzer machen. Das kann weitere veranlassen, ebenfalls loszulaufen. Was dann?" (77f)
Wie Stefan Wolle schrieb, gab es bereits lange vor dem "Fall Gomert" Befürchtungen und "Gerüchte, dass – gewissermaßen im Schutz der internationalen Gäste – eine "Sturm auf die Mauer" geplant sei". Dieser Umstand führte zu einer "gesonderten 'Schusswaffengebrauchsbestimmung'".
Aus diesem Grund sollte man, so der Minister für Staatssicherheit, während der Weltfestspiele an der Grenze "die Menschen lautlos ergreifen und nicht schießen. Auch was von drüben kommt, so in Empfang nehmen und einlochen; so müßten die Grenzer ausgebildet sein. Man müßte dem eine Prämie geben, der den Mann ergreift, ohne zu schießen. Deshalb muß man die Kräfte ganz spezifisch einweisen an der Grenze." (84) Und Verteidigungsminister Hoffmann ergänzte: "Es ist auch richtig, daß wir alles vorbereiten aus der guten Überzeugung heraus, tätig zu werden, damit keine Sache entsteht, die wir nicht mehr beherrschen können. [...] Nach den Erfahrungen und den jetzt getroffenen Vorbereitungen ist wahrscheinlich alles erkennbar, was von innen kommt. Der Unsicherheitsfaktor für uns ist die Auslösung von drüben. Deshalb wollen wir auch bei Angriffen von drüben mit Nebelkörpern arbeiten usw., um möglichst nicht schießen zu müssen. [...] Sie wollen ein paar Tote haben. Das müssen wir verhindern. Wir werden eine große Anzahl Offiziere einsetzen, damit nicht der neunzehnjährige Wehrpflichtige entscheiden muss. Besonders auch Offiziersschüler des letzten Lehrjahres, die ziemlich ausgebildet sind, damit politische Entscheidungen getroffen werden. Damit wollen wir weitgehendst alle Voraussetzungen schaffen, um alles zu sichern." (80)
Auch hier offenbart man sich im Stil seiner Sprache: Mielke straft sich selbst und das SED-Regime Lügen; denn man wusste, dass das, was die "Grenzer machten", jenseits von gesellschaftlich akzeptierten Werten lag und sich im eklatanten Widerspruch zur Allgemeinheit befand, der "Affront gegen das zivilisierte Leben"
Mielke spricht – in einer geradezu brutal anmutenden Überheblichkeit und Verachtung gegenüber menschlichen Grundrechten – von "lautlosem Ergreifen", in "Empfang nehmen", "einlochen", "Prämien" und dem "Schießbefehl". Indem er dabei im doppelten Konjunktiv formuliert – so "müssten die Grenzer ausgebildet" sein, und man "müsste dem eine Prämie geben" –, demonstriert er zum einen die Ausnahmesituation des Sommers 1973, zum anderen aber – und dies noch viel nachdrücklicher – die eigentliche Regel: die Ausbildung zum Schießen und die Prämien auf das Schießen.
Im Sommer 1973 kehrt sich dieses "Grenzregime" der DDR nur bedingt um. Während der Weltfestspiele des Friedens, der Freundschaft und der Solidarität wurde der "Schießbefehl natürlich nicht aufgehoben". Man wollte lediglich "möglichst nicht schießen". Es gab also auf der einen Seite ein Szenario, wonach Menschen aus "Neugier" an die Grenze "strömten", "Provokateure" oder ganze Gruppen auf die Grenze "zuliefen", einfach nur um "zu sehen, was die Grenzer machten". Dabei bestand die Gefahr, dass eine "Situation" entstand, die man "nicht mehr beherrschen" konnte. Ein Schuss an der Mauer hätte einen katastrophalen Ansehensverlust bedeutet. Auf der anderen Seite aber blieb der "Schießbefehl" ausdrücklich in Kraft. Die Konsequenz, die Mielke und Hoffmann aus dieser Lage zogen, lautete: die "festgelegten und guten Pläne" durchsetzen, damit überhaupt erst niemand "nach vorn kommt", und nur "ziemlich ausgebildete Offiziersschüler" einsetzen, damit "politische Entscheidungen" getroffen würden und nicht der "Wehrpflichtige entscheiden muss".
Beides – sowohl dass man die Option des "Aufhebens" überhaupt in Betracht zog als auch dass man sie im Juli 1973 willentlich verwarf – macht deutlich, welche Funktionen der Schießbefehl für das SED-Regime erfüllte: Er war ein der politischen Opportunität gehorchendes Machtinstrument und zugleich ein Stabilitätsgarant für die "Undurchlässigkeit" von Mauer und Grenze.
"Vor den Augen der Weltjugend und der Repräsentanten von Partei-und Staatsführung der DDR legte die junge Generation der DDR am 4.8.73 ein machtvolles Bekenntnis zu ihrem sozialistischen Vaterland ab." (Originaltext ADN): Ehrentribüne während der Weltfestspiele in Ost-Berlin mit der amerikanischen Bürgerrechtlerin Angela Davis und (neben ihr) Verteidigungsminister Heinz Hoffmann. (© Bundesarchiv, Bild 183-M0804-717, Foto: Dieter Demme)
"Vor den Augen der Weltjugend und der Repräsentanten von Partei-und Staatsführung der DDR legte die junge Generation der DDR am 4.8.73 ein machtvolles Bekenntnis zu ihrem sozialistischen Vaterland ab." (Originaltext ADN): Ehrentribüne während der Weltfestspiele in Ost-Berlin mit der amerikanischen Bürgerrechtlerin Angela Davis und (neben ihr) Verteidigungsminister Heinz Hoffmann. (© Bundesarchiv, Bild 183-M0804-717, Foto: Dieter Demme)
Es ist Heinz Hoffmann selbst, der das Schießen an der deutsch-deutschen Grenze als "politische Entscheidung" bezeichnet. Das In-Kraft-Belassen des Schießbefehls und das gleichzeitige Bemühen um ein makelloses Bild während der Weltfestspiele 1973 widersprachen sich nur vermeintlich. Tatsächlich zeigte sich eben darin, wie abhängig der SED-Staat von Grenze und Mauer war und welcher Stellenwert dabei dem Schießbefehl zukam. Die Reaktion der Führung belegt das Maß der von ihr wahrgenommenen Gefahr einer potenziellen Erosion ihrer Herrschaft, die aus dem Prozess der Annäherung mit der Bundesrepublik und der Öffnung gen Westen resultierte.
Erich Mielke liefert im Verlauf der Sitzung auch eine plausible Antwort auf die Frage, wie das "Ein- und Aussetzen" eines Schießbefehls in der Praxis funktioniert haben könnte: Denn für einen Grenzposten war es beispielsweise dann besonders eingängig, wenn man, wie im Dokument geschehen, ideologisch verbrämt darauf verwies, dass der "Feind" gezielt mit "Grenzverletzungen provozieren" wolle. Man könnte hier also einen Mechanismus vermuten, der vorgab, dass zu bestimmten Anlässen der "Gegner" mit Mauertoten die DDR zu "diskreditieren" suche und aus diesem Grund die Waffe nicht in Konsequenz zu gebrauchen war. Man erwartete an der Grenze quasi vom Westen angeheuerte DDR- oder Bundesbürger, die bei ihrem Handeln den Tod in Kauf nahmen, nur um den SED-Staat in Misskredit zu bringen. Dies ist die Logik eines strikt manichäischen Weltbildes und seiner Sprache.
Dabei war gegenüber "dem Grenzsoldaten" niemals die Rede von Menschen oder dem Bürger der DDR, sondern er hatte es mit "feindlichen Elementen" zu tun
V.
Der Schießbefehl der DDR war nicht allein die Unterordnung des Rechtes unter einen politischen Willen, sondern zugleich auch Ausdruck der entfesselten unumschränkten Staatsgewalt. Sie ist ein Wesensmerkmal des SED-Regimes, so wie das Primat des Politischen der Kern seines diktatorischen Unrechtsprinzips ist.
Dieses Protokoll entkleidet nicht nur die von der DDR zum Hort der sozialistischen Idee und Ideale stilisierten Weltfestspiele von diesem Nimbus, sondern auch die ideologisch kaschierte Bemäntelung der Politik des SED-Regimes selbst. Zum Vorschein kommt der alleinige Kern der Sache: ein repressiv-diktatorisches System. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" kommentierte die Weltfestspiele im August 1973 folgendermaßen: "Die Diktatur hatte Handschuhe angelegt. Vielleicht hat das manche im Westen zu der falschen Schlussfolgerung geführt, diese Diktatur sei doch noch demokratisch. Der Bevölkerung der DDR hingegen soviel Naivität zu unterstellen widerspräche aller Erfahrung. Die Ostdeutschen wissen schon, was sie an ihrem Staat haben, sie haben sich mit ihm arrangiert. Aber daß er ein Zwangsstaat ist, vergessen sie darüber nicht. [...] Lange haben wir in der Bundesrepublik nicht wahrhaben wollen, daß die Ostdeutschen mit ihrem Staat einen Modus vivendi suchen. Nun dürfen wir nicht in den entgegengesetzten Fehler verfallen und glauben, sie wünschten sich gar nichts anderes mehr. Beim Betrachten der DDR müssen wir nach beiden Seiten nüchtern blicken, auch wenn drüben Weltfestspiele sind".
Wer wissen möchte, wie der SED-Staat dachte und auf welchen Prinzipien er beruhte, muss dieses Protokoll nur lesen. Er muss die Sprache dieses Systems nur verstehen. Eine Lektüreempfehlung der besonderen Art.