I.
Am 1. August 1961 besprachen Nikita Chruschtschow und Walter Ulbricht bei einem Treffen in Moskau einige Details der Grenzschließung, die sie gemeinsam planten. Chruschtschow wollte es genau wissen und fragte nach dem Umgang mit denjenigen Straßen in der Stadt, "deren eine Seite sich in der DDR befindet und die andere in West-Berlin." Ulbricht antwortete: "Wir haben einen bestimmten Plan. In den Häusern, die einen Ausgang nach West-Berlin haben, werden wir diesen Ausgang zumauern."
Anscheinend hatte die SED-Führung zu diesem Zeitpunkt jedoch noch keine genauen Pläne, wie sie mit den Bewohnern dieser Grenzhäuser verfahren wollte. Die Schließung der innerstädtischen Grenze in Berlin war zu diesem Zeitpunkt noch als Provisorium gedacht, um die Fluchtbewegung bis zum Abschluss eines Friedensvertrages zu stoppen. Mit dem Friedensvertrag, so die Vorstellung Chruschtschows und Ulbrichts, wäre auch das Fluchtproblem erledigt und für die SED keine Gefahr mehr, weil die DDR die Kontrolle über alle Transitwege von West-Berlin in den Westen einschließlich der Flugverbindungen erhalten würde. Die wenigen Flüchtlinge, die es dann noch geben würde, säßen in West-Berlin fest. Außerdem hatte Ulbricht schon Mitte Juni einem westlichen Journalisten mitgeteilt, dass nach dem Friedensvertrag die "sogenannten Flüchtlingslager in Westberlin" geschlossen würden und die sich mit dem "Menschenhandel" befassenden "Agenten" West-Berlin zu verlassen hätten.
Auch wenn die SED-Führung aufgrund dieser Vorstellungen noch keine Planungen für die Bewohner grenznaher Gebiete an der innerstädtischen Sektorengrenze hatte, gab es jedoch für den Umgang mit unliebsamen Bevölkerungsgruppen im Grenzgebiet historische Vorbilder, auf die Walter Ulbricht, Erich Honecker und ihre Mitplaner zurückgreifen konnten. Nachdem Stalin in der Sowjetunion die Wende zum "Aufbau des Sozialismus in einem Land" eingeleitet hatte, wurden die Grenzen zu den nichtkommunistischen Staaten hermetisch abgeriegelt. In den Zwanziger- und Dreißigerjahren wurde in den an diese Grenze anschließenden Regionen ein besonderes Grenzregime eingeführt, das die zwangsweise Umsiedlung großer Bevölkerungsgruppen und in den Jahren des stalinistischen Terrors auch die Ermordung Tausender einschloss.
II.
Der Charakter der Zwangsumsiedlungen in Berlin unterschied sich jedoch von denen an der innerdeutschen Grenze 1952 und 1961. Anders als dort wurden in Berlin nicht nur die politisch Verdächtigen ausgesiedelt, sondern letztlich alle Menschen, die, vor allem in den Stadtbezirken Treptow und Mitte, direkt in den an der Grenze liegenden Häusern wohnten. Und anders als bei den Zwangsumsiedlungen an der Westgrenze der DDR wurden die Umgesiedelten, soweit wir heute wissen, nach der Umsiedlung nicht besonders überwacht und galten offensichtlich nicht als potentielle Feinde der DDR.
Was die SED-Führung dazu brachte, die Zwangsumsiedlung von Menschen an der innerstädtischen Sektorengrenze in Berlin zu erwägen, waren das Ausmaß und die Aufsehen erregende Form der Fluchtbewegung aus den Grenzhäusern und deren medial vermittelte weltweite Wahrnehmung. Offensichtlich war die SED-Führung nach dem Mauerbau von der Intensität der Fluchtbewegung überrascht.
Außerdem bewog die Atmosphäre in den Grenzhäusern an der Bernauer Straße viele der Bewohner zur Flucht. In den ersten Tagen nach dem 13. August 1961 waren die meisten in den Westen führenden Haustüren zugenagelt und zum Teil bereits vermauert worden. Die notdürftig in die rückwärtigen Mauern gebrochenen neuen Eingänge, die Hinterhöfe, die Aufgänge und Treppen waren von Volkspolizisten und Angehörigen der Kampfgruppen besetzt, sodass die Bewohner wie in einem Kriegsgebiet lebten. Die Überwachung, die etwa dadurch fühlbar wurde, dass sie sich auf einem einzigen Einkaufgang mehrfach ausweisen mussten, war omnipräsent. Schließlich erlebten sie die Fluchtversuche der Nachbarn und die direkten Auseinandersetzungen der Volkspolizei mit West-Berliner Polizisten und Demonstranten hautnah mit.
Dies veranschaulicht der Bericht einer Betroffenen, Frieda Schultz: "Wissen Sie, das war furchtbar in der letzten Zeit. Keine Zeitung mehr aus West-Berlin. Und ich war Stammleser. Um das Radio wurden Kissen gepackt – hinten und an den Seiten – und man traute sich nur noch leise einzustellen. [...] Und dann die Gerüchte! Am Freitag hieß es, es stünden 400 Wagen bereit für die Deportation. Ich wurde immer unruhiger. 'Volkspolizei' kam und brach die Wohnung meines Nachbarn auf, der schon weg war. Das war aufgefallen. In der verlassenen Wohnung richtete sich ein Vopo in Zivil ein. Ein Aufpasser! [...] Und dann haben sie am Sonnabendvormittag einen Mieter ausquartiert, der wohnte fast 40 Jahre in diesem Haus. Ich übrigens fünfzehn. Da habe ich gedacht: jetzt geht's nicht mehr. [...] Noch ein paar schlaflose Nächte und ich wäre verrückt geworden."
Die SED und das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) registrierten die Fluchtversuche und insbesondere die erfolgreichen und medial dokumentierten Fluchten sehr genau. Besonders ihre weltweite mediale Wirkung alarmierte das MfS. Hierzu zählten unter anderem die teilweise spektakulären und deshalb medienwirksamen Fluchten in der Bernauer Straße. Später, im Dezember, ordnete der MfS-General Bruno Beater deshalb an, spektakuläre Fluchtversuche, besonders die von Grenzwächtern, über die in den westlichen Medien umfangreich berichtet werde und die als Symbol für den Zwangscharakter des SED-Staates präsentiert würden, seien auf jeden Fall zu unterbinden, um die durch den Mauerbau gesicherte weitere "Festigung" der DDR nicht zu gefährden.
III.
Zwangsräumung von Häusern an der Bernauer Straße, August 1961. (© Ullsteinbild, Foto: Jung)
Zwangsräumung von Häusern an der Bernauer Straße, August 1961. (© Ullsteinbild, Foto: Jung)
Die Zwangsumsiedlungen in Berlin betrafen hauptsächlich Gegenden an der Grenze zwischen den Stadtbezirken Treptow und Neukölln sowie zwischen Mitte und Wedding und dort besonders die Bernauer Straße. Dort gehörten die Häuser auf der einen Straßenseite zu Ost-Berlin und die Gehwege davor bereits zu West-Berlin.
Die zweite und größte Welle fand Ende September 1961 statt. Seit dem 14. September begann die Volkspolizei erneut damit, Bewohner einzelner Häuser an der Sektorengrenze umzusiedeln. Eine Woche später, am 20. September, begann in der Harzer Straße an der Grenze zwischen den Bezirken Treptow und Neukölln die von Volkspolizei, SED-Ordnern und Freiwilligen durchgeführte vollständige Zwangsräumung der Grenzhäuser. Dort bildeten wie in der Bernauer Straße die Vorderseite der Häuser die Grenzlinie. Schon am ersten Tag der Aktion mussten 250 Familien ihre Wohnungen räumen.
Am selben Tag, als in der Harzer Straße die Räumungen bereits begannen, wurde in einer Lagebesprechung des zentralen Einsatzstabes für den Mauerbau beschlossen, auch in der Bernauer Straße "unzuverlässige Elmente" schnell und vollständig aus ihren Wohnungen zu entfernen, um weitere "Fälle des Abseilens" zu verhindern. Insbesondere Generalmajor Willi Seifert, stellvertretender Innenminister, forderte in der Sitzung am 20. September, in der Bernauer Straße, "wo die Grenzlinie entlang der Hausgrundstücke verläuft", seien "entschiedene Maßnahmen" zu treffen. Hier müsse entweder eine "vollständige Räumung oder schnellere Räumung unzuverlässiger Elemente erfolgen."
Die Räumungen selbst wurden vom Zentralen Stab angewiesen, in den Details jedoch in konkurrierender Planung von der soeben gebildeten 1. Grenz¬brigade und der Bezirksleitung Berlin der SED geplant.
Bei einer Massenaktion in der Bernauer Straße mussten am 24. September etwa 2.000 Menschen ihre Häuser verlassen und wurden zum Teil vorerst in Notunterkünften, zum Teil aber auch in Wohnungen untergebracht, die durch die Massenflucht im Vorfeld des Mauerbaus frei geworden waren. 50 bis 80 Häuser wurden im Lauf des Vormittages geräumt. Die Räumungen wurden in den nächsten Tagen in zahlreichen Einzelaktionen fortgesetzt, bei denen jeweils ein Haus oder ein Häuserblock geräumt wurden. Auch Wohnungen in den Seitenstraßen der Bernauer Straße waren davon betroffen.
Am 21. Oktober konnte der Stabschef der 1. Grenzbrigade für die Zwangsumsiedlungen an der innerstädtischen Sektorengrenze Vollzug melden.
IV.
Volkspolizisten überwachen die Räumung von Häusern in der Bernauer Straße, 24. September 1961. (© Picture alliance, dpa)
Volkspolizisten überwachen die Räumung von Häusern in der Bernauer Straße, 24. September 1961. (© Picture alliance, dpa)
Diese Aktionen verliefen immer gleich. Am frühen Morgen fuhren an den Nebenstraßen der Bernauer Straße zahlreiche Lastwagen auf, die von FDJlern, Studenten und Angehörigen der Kampfgruppen als Möbelpacker begleitet wurden. Gemeinsam mit Volkspolizisten betraten sie Häuser und Wohnungen an der Bernauer Straße.
Während der Räumungen gelang einigen überraschten Bewohner, teilweise unter dramatischen Umständen, noch die Flucht nach West-Berlin. Eine 57-jährige Frau sprang aus dem zweiten Stock auf den Bürgersteig, weil sie nicht auf die Feuerwehr mit ihrem Sprungtuch warten konnte, da das Räumkommando bereits an ihrer Wohnungstür war.
Am 24. September 1961 flieht die 77-jährige Frieda Schulze aus dem Fenster ihrer Wohnung in der Bernauer Straße. (© Ullsteinbild, Foto: Alex Waidmann)
Am 24. September 1961 flieht die 77-jährige Frieda Schulze aus dem Fenster ihrer Wohnung in der Bernauer Straße. (© Ullsteinbild, Foto: Alex Waidmann)
Die 77-jährige Frieda Schulze versuchte, sich und ihre Katze aus dem ersten Stock des Hauses Bernauer Straße 29 in ein bereit gehaltenes Sprungtuch der Feuerwehr fallen zu lassen. Während sie noch zögerte, den Sprung zu wagen, drangen Volkspolizisten in ihre Wohnung ein und versuchten, sie unter Abgabe von Warnschüssen am Sprung zu hindern und wieder in die Wohnung hochzuziehen. Junge West-Berliner zogen sie in das Sprungtuch der Feuerwehr.
Im Osten wurde die Räumungsaktion als menschliche Geste gegenüber den Grenzbewohnern dargestellt, die in ruhigere Stadtviertel umgesiedelt würden, wo sie den Belästigungen durch Lautsprecherwagen und westliche "Rowdies" nicht ausgesetzt seien. Um den deutlich sichtbaren Zwangscharakter der Aktion zu vertuschen, wurden zuschauende West-Berliner sowie die anwesende Presse durch Tränengaseinsatz, Wasserwerfer und Blendspiegel behindert.
Dass nicht alle Volkspolizisten und Helfer diese Maßnahmen billigten und nicht alle freiwillig daran teilnahmen, sieht man daran, dass mehrere von ihnen ebenfalls die Fluchtchance nutzten. Am 25. September beispielsweise gelang einem der in den Räumkommandos eingesetzten Männer die Flucht.
V.
Auch nachdem die große Welle der Zwangsaussiedlungen und die damit verbundenen Betriebsverlegungen vorbei war, erfolgten beispielsweise 1962 noch einzelne Räumungen und weitere Betriebe wurden aus dem Grenzbereich entfernt.
Schon seit dem Mauerbau bestand in den grenznahen Gebieten in Berlin eine besondere Ordnung, die durch restriktiven Zugang und höhere Überwachungsintensität gekennzeichnet war. Legalisiert wurde diese Situation erst 1963, als durch eine Verordnung des Ministerrats der DDR und eine Anordnung des Verteidigungsministers ein besonderes Grenzgebiet geschaffen wurde. Eigentlich hatte die SED-Führung dies schon Anfang 1962 einführen wollen. Die Verzögerung war erheblichen Bedenken der Moskauer Regierung und insbesondere des sowjetischen Botschafters in Ost-Berlin geschuldet. Erst nachdem diese in langwierigen Verhandlungen ausgeräumt worden waren, ließ die SED-Führung im Sommer 1963 das Sperrgebiet durch legislativen Akt schaffen und in der Topographie der Stadt durch Schilder und Markierungen kenntlich machen. Untersagt war seitdem das Betreten, der Aufenthalt und die Wohnsitznahme ohne ausdrückliche Genehmigung. Ebenso bedurften Besucher und Arbeitnehmer besonderer Genehmigungen (sogenannte Passierscheine), um das Grenzgebiet zu betreten. Das galt beispielsweise auch für Ärzte und Handwerker, was das Alltagsleben erheblich beeinträchtigte. Davon waren 1963 immerhin etwa 16.000 Menschen betroffen, die im Grenzgebiet lebten, und weitere 16.000 Beschäftigte, deren Betriebe im Grenzgebiet lagen.
Mit den zentral gelenkten Umsiedlungsaktionen im September und Oktober 1961 waren die Zwangsaussiedlungen nicht abgeschlossen. Es folgten später kleinere Aktionen, bei denen Menschen, deren Häuser an der Mauer lagen, den immer weiter ausgreifenden Sicherheitsbedürfnissen der SED für das Grenzregime weichen mussten. 1965 bis 1967 wurden Menschen ausgesiedelt, deren Häuser dem entstehenden Grenzstreifen weichen mussten, der im Zuge des Grenzausbaus und der Schaffung der "modernen Grenze" angelegt wurde.
Außerdem galt an der Mauer – und das wird häufig vergessen – immer ein besonderes Sicherheitskonzept, das es ermöglichte, Menschen aus dem Grenzgebiet auszuweisen. Für diese Bewohner Ost-Berlins bestand – wie auch für die Menschen im Grenzgebiet an der innerdeutschen Grenze – immer die Gefahr, aus dem Grenzgebiet ausgewiesen zu werden, wenn sie sich politisch verdächtig machten oder sich auffällig verhielten. Mit dieser dauerhaft angelegten Drohung erhöhte sich der Konformitätsdruck im Grenzgebiet im Vergleich zu anderen Territorien in der DDR erheblich, da jede Form von Abweichung mit dem Verlust des angestammten Wohnortes bestraft werden konnte. Hiervon war nicht nur politische Dissidenz betroffen, sondern auch Lebensweisen, die als asozial eingestuft wurden oder unangepasst waren.
Der vorstehende Beitrag wurde als Vortrag gehalten auf der Tagung der Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG): Zwangsausgesiedelte als Opfer von Mauer und deutscher Teilung Berlin, 24.9.2011.