"Wir sind doch Brüder"
Allzu häufig konzentrieren sich die Betrachtungen, die sich mit den Beziehungen zwischen den evangelischen Kirchen in Ost und West zu Zeiten der innerdeutschen Teilung beschäftigen, auf die Entscheidungsebene.
Trotz der Schwierigkeiten, die sich aus der Frage ergeben, wie sich kirchliches Handeln auf den nachgeordneten Ebenen entfaltete, lohnt durchaus ein Versuch, auch einen Blick hierauf zu werfen. Der Erkenntnisgewinn kann nicht hoch genug bewertet werden. Jene nachgeordneten Ebenen, ob nun die Kirchenkreise, Kirchengemeinden oder Jungen Gemeinden vor Ort, waren im kirchlichen wie im gesellschaftlichen Kontext die eigentlichen Ebenen des praktischen Vollzuges. Hier erwies sich, wie sich Christsein und Gemeindeleben in der DDR im Alltag konkret gestalteten und was von den Verlautbarungen kirchenleitender wie staatlicher Stellen tatsächlich zu halten bzw. was von ihnen zu erwarten war.
Zum einen gaben die kirchenoffiziellen Erklärungen und Denkschriften häufig nur den Rahmen ab, in welchem das eigene Handeln zu verorten war. Die betreffenden Verlautbarungen der Bischöfe und Synoden kamen angesichts eines politisch hoch sensiblen Handlungsrahmens, den der SED-Staat vorgab, zustande und waren somit zumeist einer Wechselwirkung unterworfen: In ihnen manifestierten sich Vorstellungen sowie Ideale wie der gesellschaftliche Gestaltungsanspruch der Kirchen, den es, wie das "Wächteramt der Kirche", zu verteidigen und nicht aufzugeben galt. Zugleich wurde mit den Erklärungen auf konkret Erfahrenes, auf den Alltag der Gemeinden und das Staat-Kirche-Verhältnis reagiert und der Versuch unternommen, bestehenden Härten oder auch der Diskriminierung von Christen im DDR-Alltag entgegenzuwirken.
Eine wichtige Rolle kam in diesem Zusammenhang stets der Frage der deutschen Teilung in ihren grundsätzlichen Dimensionen und mit ihren konkreten Belastungen, zum Beispiel für die Gemeinden im Sperrgebiet an der innerdeutschen Grenze zu.
"Freiheit und Glaubwürdigkeit
kirchlichen Handelns und Sprechens"
Neben dem Bekenntnis der kirchenleitenden Gremien, an der Gemeinschaft mit den Kirchen in der Bundesrepublik festzuhalten, wurden die Gemeinden dann jene Ebene, auf der dieser Anspruch mit Leben erfüllte werden konnte. Auch nach Ansicht der Bischöfe, Oberkonsistorialräte und Konsistorialpräsidenten und Synoden erfuhr dieser Anspruch hier an der Basis seine tatsächliche Umsetzung.
Daher lohnt durchaus ein Blick, der hinaus aus den Sitzungssälen und Beschlussgremien weist und danach fragt, welche konkreten Erfahrungen von den Handelnden jeweils gemacht wurden. Dies gilt selbst für die Bischöfe: Bekannt ist beispielsweise, dass der Greifswalder Bischof Friedrich-Wilhelm Krummacher nach der Abriegelung West-Berlins ein kirchliches Protesttelegramm an Walter Ulbricht mit unterzeichnete.
Bereits kurz vor dem Mauerbau war Krummachers Wagen, der ihn zu einer Bischofskonferenz nach Berlin bringen sollte, auf der offenen Landstraße gestoppt worden. Dem Bischof war die Weiterfahrt untersagt und der Personalausweis abgenommen worden. Vor diesen Hintergrund liest sich die Erklärung, die Bischof Krummacher 1967 auf der EKD-Synode für den Bereich Ost in Fürstenwalde abgab, noch eindringlicher, als eine Edition es zu vermitteln vermag: Es sei "nicht mehr eine pragmatische Frage", so Krummacher vor den Ost-Synodalen, "sondern eine Frage des Glaubensgehorsams, ob wir an der Einheit und Gemeinschaft der Evangelischen Kirche in Deutschland festhalten. (...) Wenn wir uns trennen würden", so Krummacher weiter, "täten wir das ja lediglich aus säkularen Gründen ... Wir würden damit auf beiden Seiten die Freiheit und Glaubwürdigkeit kirchlichen Handelns und Sprechens gefährden."
Dies mochte zugleich den Leitsatz für die vielfältigen Ost-West-Treffen auf kirchlicher Ebene abgeben. Gut 14 Monate nach der Synode in Fürstenwalde entschieden sich die ostdeutschen Kirchen dann doch anders, als es nach der Rede Krummachers zunächst noch ausgesehen hatte. Im Juni 1969 kam es zur Gründung des Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR (BEK). Dieser Schritt wurde als Trennung von der EKD wahrgenommen und war von der SED so auch eingefordert worden, auch wenn es im Gründungspapier noch hieß, der Bund sei eine "besondere Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland".
"Intensive persönliche Kontakte"
Daneben und dessen ungeachtet bestanden die Ost-West-Treffen in den evangelischen Kirchengemeinden als Brücke zwischen Ost und West fort und erfreuen sich nach wie vor eines großen Zuspruchs. Neben den mitunter noch vorhandenen familiären und persönlichen Kontakten zwischen Ost und West hielten sie das Bewusstsein für die Situation wach, in der sich das Land befand. Ihnen kam als einem der wenigen noch verbliebenen Wege, Menschen aus dem jeweils anderen Teil Deutschlands kennen zu lernen und sich mit ihnen auszutauschen, eine wichtige Funktion zu.
Verwandt wurden innerkirchlich zumeist die Bezeichnungen "Ost-West-Treffen" oder man sprach von der jeweiligen "Partnergemeinde" (bis in die Sechzigerjahre noch von der "Patengemeinde") im anderen Teil des Landes. Entscheidend war dabei für die staatliche Seite nicht so sehr, was auf diesen Treffen besprochen und welche Diskussionen im Einzelnen geführt wurden. Die Ost-West-Treffen galten für sich genommen schon als Politikum. Deutlich wurde dies insbesondere in den Gemeinden außerhalb Berlins und an den Orten fern der innerdeutschen Grenze, die nicht von dem am 17. Oktober 1972 eingeführten Kleinen Grenzverkehr
Von einem solchen von den Funktionären vor Ort als Ärgernis der visuellen Art wahrgenommenen Zusammentreffen zeugte unter anderem die Intervention des Ersten Stellvertreters für Inneres des Kreises Teterow, Olbricht, beim Ortspfarrer 1978. Olbricht erkundigte sich bei diesem, aus welchem Grund sich gleich mehrere Personen aus dem Westen in der mecklenburgischen Kleinstadt aufhielten, was die Kirchengemeinde am bevorstehenden Wochenende plane und ob sich hieraus eine besondere Situation, die die öffentliche Ordnung und das sozialistische Zusammenleben der Bürger tangiere, ergebe. Er erfuhr, dass es sich nur vordergründig um ein Ost-West-Treffen handle. Tatsächlich zählten die vor allem aus dem Großraum Hamburg, aus Lübeck und Schleswig-Hostein Angereisten zu den Goldenen Konfirmanden, die vor 50 Jahren in der Stadtkirche zu Teterow ihre Einsegnung erhalten hatten und nun anlässlich des Jubiläums eingeladen worden waren. Weder die Kirchengemeinde noch die Eingeladenen könnten, so der Ortspfarrer, der sogleich den Superintendenten in Malchin über den Vorfall informierte, für das Aufsehen, dass ihr Erscheinen auslöste, verantwortlich gemacht werden. Schließlich sei die Grenzziehung und die innerdeutsche Teilung in Ost und West erst nach ihrer Konfirmation erfolgt, und zum großen Teil hätten sich die einstigen Konfirmanden schon lange vor 1961 in den Westen begeben. Dass der Ort ihrer Konfirmation nun zu einem anderen Weltsystem zählte, sei nicht ihr Verschulden.
Zusammen mit seinen Partnern des Politisch-Operativen Zusammenwirkens (POZW), zu denen unter anderem die Abteilung Inneres der Bezirks- und Kreisräte, die Volkspolizeikreisämter und deren Pass- und Meldestellen zählten, sah sich das Ministerium für Staatssicherheit bestrebt, alle nur erdenklichen Informationen über die an sich häufig eher harmlosen Ost-West-Begegnungen zusammenzutragen.
Die "Pastoren des Kreises", so meldete zum Beispiel die MfS-Kreisdienststelle Doberan im Bezirk Rostock 1974, würden vermehrt "Einreisen von Besuchern aus der BRD" beantragen. Zumeist handele es sich dabei "um Vertreter der Ev[angelischen] Kirche aus dem Hamburger Raum." Zudem hatte man erfahren, dass auch Pfarrer aus den grenzfernen Landkreisen des Bezirks mit ihren Jugendgruppen nach der Einführung des Kleinen Grenzverkehrs "in den Kreis Wismar fahren, um sich dort mit westdeutschen Pastoren zu treffen, die auf Tagespassierscheinen einreisen."
Weitere Beispiel ließen sich ohne Weiteres anführen: So berichtete die Kreisdienststelle Wolgast im Oktober 1983 vom "Zusammentreffen von Jugendlichen der Gemeinde Kröslin mit BRD-Jugendlichen im Pfarrhaus des Pastors"; besonders delikat erschien dem MfS an dem Vorgang, dass auch die "nichtkirchliche" Dorfjugend, die neugierig auf dem Besuch aus dem Westen war, der Einladung ins Pfarrhaus folgte.
"Der Pfarrer braucht nur zu pfeifen ..."
Worin lag nun die innerkirchliche Bedeutung dieser Ost-West-Treffen? Die Treffen ergänzten zunächst die umfangreiche Hilfe in Form von Materiallieferungen und finanziellen Zuschüssen aus der Bundesrepublik, in deren Genuss ostdeutsche Partner-Kirchengemeinden kamen. Die sogenannten "Genex"- und "Limex"-Sendungen, von bundesdeutscher Seite aus bezahlte Lieferungen an ihre Partnergemeinden, hielten die Kirchengemeinden im Osten Deutschland oft über Wasser. Sie halfen, Versorgungsengpässe zu überbrücken, und ermöglichten dringend notwendige Reparaturen an den Kirchen. Es war zugleich auch stets ein wirkungsmächtiges Signal und eine Demonstration von Andersdenkenden im SED-Staat, wenn Kirchendächer in der DDR neu eingedeckt, Türme repariert und Kirchenfenster neu verglast wurden. Und fast jeder wusste und sah es in den Dörfern und Städten, dass dies oft erst durch die Hilfe einer bundesdeutschen Partnergemeinde ermöglicht worden war. Häufig zeugten die Qualität des gelieferten Materials, das verwendete Handwerksgerät oder auch die farbenfrohen Aufdrucke auf den Verpackungen des Baumaterials von der Herkunft und dem Spender im Westen.
Auf die Solidarität aus dem angeblich gefühlskalten Westen antworteten Einzelne aus der vermeintlich solidarischen Ostgesellschaft gelegentlich mit offenem Egoismus. Als die bayrische Kirchgemeinde Planegg bei München Ziegelsteine für ihre Glaubensbrüder im mecklenburgischen Teterow spendete, wurde dies offensichtlich. Die Dachdecker des einzigen privaten Handwerkbetriebes, der die Arbeiten durchführen durfte, weigerten sich so lange, den Kirchturm einzudecken, bis der Pfarrer ihnen kostenlos West-Handwerkzeug beschafft hatte. Und auch die kircheneigene Baubrigade des Kirchenkreises benötigte Handwerkzeug: "Daß die Anfrage nach der Größe der gewünschten Werkzeuge für die Kirchengemeinde und über die genaue Art der übrigen Wünsche noch nicht erfolgt ist, bedaure ich sehr", schrieb der Planegger Pfarrer Wilhelm Hoffmann seinem Mecklenburger Amtsbruder, als die Nachlieferung sich verzögerte.
Krönung des Turms der Stadtkirche durch die Junge Gemeinde in Teterow, 1984. (© privat)
Krönung des Turms der Stadtkirche durch die Junge Gemeinde in Teterow, 1984. (© privat)
Über den DDR-Genex Geschenkdienst GmbH oder die Außenhandelsfirma Limex erreichten die Materialien die bedürftigen Gemeinden im Osten, wobei die DDR noch daran mit verdiente. Um den Verwerfungen der sich in Teilen entsolidarisierenden ostdeutschen Gesellschaft zu entgehen, in der sowohl SED-Staat als auch Privatbetriebe danach strebten, vom Mangel zu profitierten, mobilisierte der Pfarrer bei der nächsten Lieferung aus Planegg die christliche Jugend vor Ort. Die stieg nun selbst auf das Kirchdach und deckte es eigenhändig ein.
Befördert wurde die Idee, zu dieser ungewöhnlichen Aktion aufzurufen, nicht zuletzt auch durch die SED-Kreisleitung. Sie hatte der Kirche für die Neueindeckung des Daches nur bedingt Baubilanzen gewährt, nach denen Betriebe regulär tätig werden durften. So blieb dem Pfarrer nur der Weg, erneut Handwerker in Feierabendarbeit mit Vergünstigungen an den Bau zu locken oder eben jenen Aufruf zu starten, zu dem es dann tatsächlich kam.
Bereits in den Wochen zuvor hatte sich Pfarrer Martin Kuske schon einmal auf die uneigennützige Hilfsbereitschaft anderer verlassen und war vom Erfolg seines Aufrufes mehr als überrascht worden. Im Juni 1984 erreichte ihn weitgehend unvorbereitet ein Anruf vom Güterbahnhof, dass "in zwei Stunden ... 7.000 Ziegel" in mehreren Waggons angeliefert würden, die umgehend, innerhalb von zwei Stunden, zu entladen seien. Ansonsten würden für jede volle Stunde Standgebühren erhoben, für die die Kirchengemeinde aufzukommen habe: "Um 20 Uhr waren nicht nur genügend Leute da, um per Hand die Waggons zu entladen, ein Traktor mit Hänger ebenfalls. Nach 90 Minuten war alles erledigt." Die Aktion musste in den folgenden Wochen noch zweimal wiederholt werden, erinnerte sich Kuske, der 1990 schrieb, dass insbesondere die spektakuläre wie "öffentlichkeitswirksame" Dacheindeckung rückblickend als "ein Höhepunkt im Gemeindeleben" vor 1989 gelten könne. Auch Menschen, die sich vordem kaum am Gemeindeleben beteiligten oder der Kirche eher fern standen, erkannten hierin eine Möglichkeit, ihre Distanz zum SED-Staat anschaulich zu demonstrieren.
Aber auch weniger erfreuliche Beispiele ließen sich anführen: Als in Lobetal bei Bernau die Kirche ein Epileptikerheim mit westdeutscher Hilfe ausbaute, brachen des Nachts ostdeutsche Häuslebauer ein und entwendeten die aus dem Westen gelieferten Sanitärarmaturen und das Elektromaterial: Solle sich doch die Kirche um neues Material für ihre Kranken kümmern, schließlich hatte sie doch die Westkontakte.
"Exzellente Kontakte"
Die Ost-West-Treffen verwiesen ergänzend zu den materiellen Lieferungen zunächst darauf, was der eigentliche Ausgangspunkt, der Sinn und das Anliegen der kirchlichen Ost-West-Partnerschaften waren – die Verbindungen zwischen den Menschen über die innerdeutsche Grenze hinweg aufrechtzuerhalten und das Bewusstsein für die Lebenssituation der bedrängten Gemeinden in der DDR zu schärfen. Für die West-Gemeinden waren die Unterstützung und der Besuch im Osten nicht nur eine Art Landpartie in einer dem bundesdeutschen Bürger immer fremder werdenden Welt. Sie waren vor allem ein Bekenntnis und ein Akt der gelebten Solidarisierung. Für die Ost-Gemeinden bedeutete dies vor allem eine Bestärkung im DDR-Alltag, in dem Christen sich nicht selten diskriminiert fühlten. Verbunden war dies mit der Botschaft, dass es außerhalb ihrer von der SED diktierten Wirklichkeit noch eine andere Art von Normalität gab, in der Kirche und der christliche Glauben akzeptiert und geachtet wurden.
Zudem stellten die Ost-West-Treffen mit dem dazugehörigen Besuch der Gäste aus dem Westen im Osten innerkirchlich eine Art ausgleichende Gerechtigkeit her, soweit wie dies möglich war. Das Privileg, in den Westen reisen zu dürfen, zählte in der DDR zu den vom SED-Staat bewirtschafteten und gezielt eingesetzten Ressourcen, die immer auch einem politischen Zweck zu dienen hatten. Die SED setzte dieses Mittel, das Reiseprivileg, gezielt ein, um ihr loyal erscheinende Theologen und Kirchenvertreter zu begünstigen, oder verband hiermit zumindest die Hoffnung auf ein entsprechendes Wohlverhalten. Den somit Privilegierten erwuchs dadurch – zusätzlich zu den Reiseeindrücken und Erfahrungen – ein unschätzbarer ideeller Vorteil, der sich auch auf ihre Chancenwahrnahme im innerkirchlichen Bereich auszuwirken vermochte. Gesprächskontakte, die durch Besuche erneuert werden konnten, innerkirchliche Einsichten, die sich nicht aus der Ferne gewinnen ließen und die Teilhabe an den neuesten theologischen Diskursen im Westen erbrachten einen Vorteil, der schwer aufzuwiegen war.
Der frühere Leiter des Pastoralkollegs Templin, Horst Kasner, 2008. (© Ullsteinbild, Foto: Seyboldt)
Der frühere Leiter des Pastoralkollegs Templin, Horst Kasner, 2008. (© Ullsteinbild, Foto: Seyboldt)
Pfarrer Horst Kasner, Mitwirkender im DDR-unkritischen bis SED-freundlichen Weißenseer Arbeitskreis und wohl auch aufgrund seiner dortigen Kontakte zu Albrecht Schönherr Leiter des Pastoralkollegs in Templin, mag als ein solches Beispiel angeführt werden. Horst Kasner, so schrieb Werner Krätschell in seinem jüngst erschienenen Nachruf, bereicherte Dank seiner "exzellenten Kontakte 'in den Westen' jedes Konventstreffen mit Informationen."
Hervorzuheben sind die Breite und die hohe Zahl der kirchlichen Ost-West-Kontakte, die es nahe legen, fast von einer Bewegung zu sprechen: von einer Bewegung des inneren Aufbegehrens und des Drangs, aus der Belanglosigkeit des DDR-Alltags für einige Stunden auszubrechen. Denn nicht zuletzt dies versprachen die Ost-West-Begegnungen, ein Stück Exklusivität im DDR-Alltag, die Möglichkeit, an Themen und Meinungen teilhaben zu können, die sonst nicht und nicht so unmittelbar zu vernehmen waren. Auch entstanden hieraus immer wieder Brieffreundschaften bis hin zu einer Reihe deutsch-deutscher Ehen.
Ost-West-Kontakte gab es auf allen kirchlichen Ebenen: zwischen einzelnen Gemeinden, aber ebenso zwischen den Studentengemeinden, die hierbei besonders aktiv waren, ebenso zwischen den kirchlichen Posaunenwerken, Kirchenchören und anderen. Der Kirchenchor der evangelischen Gemeinde Ludwigsfelde in Brandenburg unterhielt zum Beispiel eine enge Verbindungen zu einem Kirchenchor in Baden-Württemberg, was immer auch den Vorteil hatte, dass man an gutes Notenmaterial herankam. Man führte bei den Besuchen der Südwestdeutschen gemeinsame Konzerte in der sozialistischen Industriestadt durch, zu denen allerdings nicht öffentlich mit Plakaten eingeladen werden durfte.
Nach dem Passierscheinabkommen Ende 1963 trafen sich in der Ost-Berliner Golgatha-Gemeinde mindestens einmal jährlich bis zu hundert Frauen aus Ost und West zu den "Berliner Gesprächen". Einzelne reisten bis aus Greifswald hierzu an, unter den West-Frauen stammten einige aus Tübingen oder auch aus Dortmund. Neben geschmuggelter Literatur, die hier die Besitzerinnen wechselte, gab es auf den Tagungen eine Bibelarbeit, dann einen Bericht zur Lage der Kirche in der DDR und Vorträge. Vorgetragen haben hier unter anderem Hilde Domin, Heinrich Albertz, Kurt Scharf oder auch Christa Wolf.
Allein im Bezirk Rostock, so vermeldete es die MfS-Bezirksverwaltung 1988, existierten in den dortigen 216 Kirchengemeinden 200 "Partnerschaftsbeziehungen in das NSW, hauptsächlich zu Kirchgemeinden der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche und der Bremischen Evangelischen Kirche der BRD."
"Staatsgefährdende Hetze und Propaganda"
Die Ost-West-Treffen gab es bereits – in intensiver Form – vor dem 13. August 1961. Der Mauerbau erschwerte zwar ihre Durchführung, konnte aber nicht verhindern, dass die Begegnungen weiter stattfanden. Dementsprechend zählten die Ost-West-Treffen zu einer der verbliebenen Brücken zwischen Ost- und Westdeutschland, die zu zerschlagen SED und MfS sich nach dem Mauerbau vorgenommen hatten.
Die FDJ glaubte, dass ihr mit dem Mauerbau die Aufgabe zufalle, der SED und dem MfS hierbei assistieren zu müssen. In einem Strategiepapier, das auf den 19. September 1961 datiert, bekundete die Führung der Jugendorganisation, dass es jetzt darum gehen müsse, "gegen die Einflüsse Westdeutschlands und Westberlins auf die kirchliche Jugendarbeit" vorzugehen und zur "Entlarvung reaktionärer Leiter" der Jungen Gemeinden beizutragen. Als besonderes Ziel wurde dabei die "Liquidierung" der Patenschaften, also der kirchlichen Ost-West-Treffen, hervorgehoben.
Im Oktober 1961 sollte in Berlin deshalb Sabine Rackow, Chemiestudentin an der Humboldt-Universität und seit 1958 Vertrauensstudentin der Evangelischen Studentengemeinde (ESG), verhaftet werden. Festgenommen wurde am 29. September 1961 ebenso Pfarrer Hans-Hermann Kleiner aus Groß Beese im Kreis Wittenberge, der anschließend zu zwei Jahren und drei Monaten Zuchthaus verurteilt werden sollte; man warf ihm unter anderem vor, im Sommer 1961 "mit einer Gruppe von 15 Mitgliedern der 'Jungen Gemeinde' aus Wittenberge an einem Treffen mit gleichartigen Gruppen aus Westdeutschland in Westberlin" teilgenommen zu haben.
Auch in Potsdam blieben die SED, der Staatssicherheitsdienst und die FDJ nicht untätig. Am 27. bzw. 28. September 1961 verhaftete man "von der Straße weg"
Am 1. Dezember 1961 wurde der Prozess vor dem 1. Strafsenat des Bezirksgerichtes Potsdam eröffnet; drei Tage später folgte die Urteilsverkündung: Eberhard Grauer wurde zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Wie in anderen Prozessen auch stellte das Gericht Bezüge zum Mauerbau vom 13. August 1961 her: "Unter völliger Verdrehung der Tatsachen", so hieß es, habe Grauer "die Maßnahmen der DDR (am 13. August) als unmenschlich bezeichnet." Ebenfalls vom Gericht der "staatsgefährdender Propaganda und Hetze" bezichtigt, wurden Ulrich Krüger zu zwei Jahren und neun Monaten und Christian Wendland zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt.
Die meisten der Ost-West-Treffen verliefen in kirchlichen Bahnen. Doch gab es immer wieder auch Ost-West-Gruppen, die sich weitgehend verselbständigten, eigenständig Begegnungen abseits der kirchlichen Aufsicht organisierten und sich verstärkt politischen Inhalten zuwandten. Zudem ließen die Treffen sich ohnehin nicht losgelöst von politischen Fragen durchführen.
Als ein solches Beispiel seien hier die Ost-West-Treffen einer Jungen Gemeinde im Umkreis von Rostock angeführt, die vom Staatssicherheitsdienst im Operativvorgang "Tonsur" und nachfolgend auch in einer Diplomarbeit an der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam analysiert wurden.
Eine noch weitergehende Tendenz zur Verselbständigung wies eine Jugendgruppe auf, die sich Ende der Siebzigerjahre zunächst rund um Neustrelitz fand und mit Jugendlichen aus Hamburg in Kontakt stand. Auch hier rückten verstärkt politische Diskussionen in den Mittelpunkt der Treffen, so unter anderem während eines zehntägigen gemeinsamen Aufenthalts im August 1979 auf einem Zeltplatz bei Krakau in Polen.
Fazit und Ausblick
Trotz der offenkundigen Missbilligung der Ost-West-Treffen durch die SED – das Ministerium für Staatssicherheit führte hierzu eigens eine Deliktrubrik – die der "Partnerschaftsarbeit" – ein, hinzu kamen die offenkundigen Beobachtungsmaßnahmen und demonstrative Postkontrollen durch das MfS – erfreuten sich die Ost-West-Treffen ungebrochen eines hohen Zuspruchs unter kirchlichen Jugendlichen. Zunehmend nahmen aber auch nicht kirchlich gebundene Jugendliche an den Treffen teil.
Der Zuspruch und die Beharrlichkeit, mit der die Ost-West-Treffen stattfanden, mochten dabei zugleich als zaghaftes Zeichen gelten, das in gewisser Weise den Herbst von 1989 symbolisch vorwegnahm. Es zeigte nicht nur die Grenzen der Bindung an das SED-System auf, sondern machte zugleich klar, dass auch die Ostdeutschen ein Risiko einzugehen bereit waren, wenn sie sich hiervon einen Ausbruch aus dem DDR-Alltag versprachen und sich ihnen eine entsprechend Perspektive bot.