I.
Der Mandantenverrat des DDR-Anwaltes Wolfgang Schnur ist aktenkundig. Seine Klientin, die bekannte Künstlerin und DDR-Bürgerrechtlerin Freya Klier, war im Zusammenhang mit Protestaktionen, aus Anlass der traditionellen Demonstration der SED zu Ehren von Rosa Luxemburg 1988 mit anderen festgenommen worden. Während im Osten und Westen eine Solidaritätskampagne läuft, sitzt Klier wie die anderen isoliert ein. Der Kontakt zur Außenwelt wird nur durch die Stasivernehmer und Anwälte hergestellt. Klier erinnert sich: "Rechtsanwalt Schnur – völlig zerknüllt, aber diesmal Gott sei Dank ohne Bewachung ... Dann tauschen wir düstere Prognosen aus. Rechnen beide mit vier, fünf Jahren ... Schnur teilt auch meine Vermutung, dass die anderen vor allem deshalb verhaftet wurden, um mich psychisch unter Druck zu setzen. Dass für sie nur dann eine Chance besteht, schnell wieder rauszukommen, wenn Stephan [ihr Freund und Kollege Stephan Krawczyk] und ich nachgeben. Eine total verfahrene Kiste ... Ich ... formuliere einen Ausreiseantrag. Begründe ihn mit politischer Hoffnungslosigkeit. Schnur ist baff. Er meint, jetzt würde ich wohl noch vor meinem Geburtstag rauskommen (er ist rührend, weiß wohl nicht, dass ich in drei Tagen Geburtstag habe) ...". Bald darauf kehrt Schnur mit einer zweiten Person zurück: "Als sich einer der beiden als Rechtsanwalt [Wolfgang] Vogel vorstellt, fällt die Klappe. Er teilt uns mit, dass wir einen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft gestellt hätten, dass diesem Antrag stattgegeben werde und wir morgen die DDR verlassen dürften – mir verschlägt es die Sprache, ich breche in Tränen aus. Ich fühle mich hintergangen, weiß aber nicht, an welcher Stelle."
Klier ist instinktiv deutlich geworden, dass ihr Anwalt nicht mit offenen Karten gespielt hat. Schnur hat ihr, wie sich später herausstellt, die Unterstützungsaktionen und die Medienresonanz vorenthalten, damit das Gefühl der scheinbaren Aussichtslosigkeit verstärkt und sie und ihren Partner Stephan Krawczyk damit zur Ausreise aus der DDR bewegt. Diese Geschichte wurde später Teil eines standesrechtlichen Verfahrens, in dem Schnur – ein sehr seltener Fall – die Anwaltszulassung aberkannt wurde. Schnur war, wie seit Anfang 1990 bekannt ist, ein langjähriger inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit, der vor allem aus dem protestantischen und Bürgerrechtsmilieu berichtete, sein Agieren 1988 ein abgekartetes Spiel. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) wusste von seiner Beratung zur Ausreise, es billigte und förderte diese Tätigkeit des Anwaltes.
Ein umgekehrtes Beispiel, nur wenige Zeit nach dem eben behandelten: Im Jahr 1989 leitet die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit (BV) Erfurt eine umfangreiche Personenkontrolle gegen ein prominentes Mitglied des Bezirkskollegiums der Anwälte, einer DDR-typischen Anwaltsvereinigung, ein. Dem MfS war durch einen IM zu Ohren gekommen, dass der Anwalt "Antragsteller auf ständige Ausreise aus der DDR berät und sich die Rechtsauskünfte bezahlen lässt". Das MfS lässt den Anwalt überwachen und prüft, ob es sinnvoll ist, ihn in seinen beruflichen Möglichkeiten zu beschneiden.
Die Fälle, beide gegen Ende der DDR, zeigen wie unterschiedlich, scheinbar widersprüchlich sich das MfS gegenüber Anwälten verhielt, die DDR-Bürger in Sachen Ausreise berieten.
Das Thema Ausreise war hochpolitisch, ja geradezu existentiell für die DDR, die SED und ihr MfS. Dass Bürger den östlichen Teil Deutschlands verlassen wollten, war die Achillesferse des Systems, mehr noch als expliziter politischer Widerstand; denn der politische Dissens mündete in der DDR meist weniger in offenen Widerspruch oder gar Auflehnung, sondern wurde durch die dauerhafte Auswanderung in den westlichen Teil Deutschlands weitgehend kompensiert. Die DDR hatte gehofft, dieses Problem ein für alle mal gelöst zu haben, als sie am 13. August 1961 den "Pfahl im Fleische des Sozialismus" entschärfte und die offene Wunde West-Berlin mit der Mauer abschloss. Doch die Familienbande, das Unbehagen oder Leiden am Staatssozialismus und die Verlockungen der sozialen Marktwirtschaft waren so groß, dass der Wille "nach drüben" zu gelangen, nie wirklich abebbte, bis zum Untergang der DDR 1989/90 nicht.
II.
Markante Daten für die Ballung des Ausreise-"Problems" und die staatliche Reaktionen darauf waren 1975/76, 1984 und 1989. Nicht zufällig fallen diese Daten mit außenpolitischen Ereignissen zusammen, vor allem den Konferenzen bzw. Nachfolgekonferenzen für die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki, Madrid und Wien. Die DDR versuchte ihren minderen Status und die Ächtung im Westen, die ihrer Gründung durch die stalinistische Besatzungsmacht, ihrer diktatorischen Herrschaftsausübung und nicht zuletzt der Mauer und den Todesschüssen an der innerdeutschen Grenze geschuldet waren, auf dem internationalen Parkett wettzumachen.
Internationale Aufwertung war aber nur um den Preis von vertraglich fixierten Zugeständnissen, vor allem 1975 und 1989 gerade beim Thema Freizügigkeit, zu haben. Das Dilemma der Abschreckung durch die Mauer und die Zivilisierung im zwischenstaatlichen Verkehr wurde für die DDR durch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nach der Erdölkrise, den sinkenden sowjetischen Subventionen und der daraus resultierenden zunehmenden ökonomischen Abhängigkeit vom Westen seit Ende der 70er-Jahre verstärkt. Nach dem lateinischen Sprichwort: "Ein goldener Esel übersteigt jede Mauer", erwarteten westliche Politiker politische Gegenleistungen vor allem beim Freikauf von politischen Häftlingen und im Reiseverkehr mit der Bundesrepublik.
Bei diesen "Deals" spielten Rechtsanwälte immer eine bedeutsame Rolle. Der Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel war seinerzeit sogar geradezu das fernsehbekannte Symbol für derartige Vereinbarungen. Sein Nimbus war groß, aber immer ambivalent. Risse habe er durch seine Arbeit in die Mauer gemeißelt, meint einer seiner Biografen.
Vogel verkörperte gewissermaßen einen dritten Typus des Anwalts, neben den beiden bereits geschilderten Fällen anwaltlicher Tätigkeit. Er war diplomatisch in Sachen Ausreise für die DDR-Führung unterwegs. Seit 1963 war Vogel eine Art Diplomatenersatz, zu einer Zeit, als beide deutschen Staaten nach dem Mauerbau noch keine direkten diplomatischen Beziehungen pflegten, aber auch später, als man vieles unterhalb der offiziellen Diplomatie diskret ausloten und festzurren wollte.
III.
Der erste große Ausreiseschub nach dem Mauerbau, "eine Ausreisebewegung als echte Gefahr für den SED-Staat", baute sich nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte 1975 auf.
Was folgte, war die DDR-typische Taktik der "Heuchelei"
Anwälte waren natürlich Anlaufstellen für ausreisewillige Bürger, zumal wenn diese sich auf rechtliche Normen beziehen wollten. Entsprechend der Linie der SED sollte diese Möglichkeit jedoch verbaut werden. Justizminister Hans-Joachim Heusinger, ein Funktionär der Blockpartei LDPD, agierte ganz im Sinne der herrschenden SED, als er auf einer Sitzung der wichtigsten Rechtsanwaltsfunktionäre der DD
Im Zusammenhang mit den Versuchen, die innenpolitisch brisante internationale Vereinbarung ins Leere laufen zu lassen und dieses auch noch zu kaschieren, kam auch das MfS ins Spiel. Stasi-Chef Erich Mielke reagierte auf die internen Parteivorgaben schon im Oktober 1976 mit einer Weisung. Er legte fest, dass "ab sofort" alle Anträge auf Ausreise abzulehnen seien, die sich "auf die Schlussakte von Helsinki oder andere Begründungen ... der Nichteinhaltung völkerrechtlicher Verpflichtungen" durch die DDR bezögen.
Wegen der international eingegangenen Verpflichtungen konnten diese Verhinderungsstrategien, nicht explizit oder gar öffentlich gemacht werden. Bei derartigen Doppelspielen kam geradezu zwangsläufig die Geheimpolizei der SED ins Spiel. In den Jahren nach dem Mauerbau hatte das MfS primär die Aufgabe gehabt, Fluchten und Fluchthilfe möglichst präventiv zu verhindern. Bei Erschießungen an der Mauer sollten die Todesumstände durch das MfS möglichst vertuscht und verheimlicht werden, um das internationale Ansehen der DDR nicht zu gefährden.
1976 war zur Fluchtbekämpfung eine zentrale Koordinierungsstelle (ZKG) mit Pendants in den Bezirksverwaltungen gegründet worden. Ein Jahr darauf wurde sie mit Zusatzaufgaben für die Übersiedlung bedacht. Diese befand sich traditionell in den Händen der Abteilung Inneres des Innenministeriums (MdI). Die ZKG sollte nunmehr in bestimmten Fällen Einspruchsrechte für das MfS wahren. Zum anderen sollte sie Entscheidungen für Personen vorbereiten, die aus politisch-operativen Gründen ausreisen sollten.
IV.
Wie das MfS steuernd in den Ausreisemechanismus eingriff und welche Rolle dabei Anwälte spielten, zeigt ein besonders anschauliches Beispiel aus Chemnitz, damals Karl-Marx-Stadt.
Ein ehemaliger Justitiar mit längerer IM-Vita, ein "klassenbewusster Genosse"
Der Anwalt war Heinrich John, lange Jahre auch der Parteisekretär des Rechtsanwaltskollegiums. Er stellte das Interesse von Partei und Stasi nach Lage der Akten offenbar über das Interesse seiner Mandanten. Ohne Rücksicht auf die auch in der DDR geltende Pflicht zur Verschwiegenheit
Auf Grund derartiger Hinweise wurde mit dem MfS die Strategie gegenüber den Mandanten abgestimmt, eine Strategie die mehrstufig verlaufen konnte. 1978 wollte beispielsweise ein kirchennaher Facharbeiter ausreisen. "Trotz entsprechender Argumentation [durch den Anwalt] sei Y ... von seinen Vorgaben nicht abzubringen gewesen", protokollierte das MfS: "Der IM [also der Anwalt] habe den Y ... aufgefordert, dass er sich ruhig verhalten soll ... Der IM werde prüfen, inwieweit er Y in diesem Falle helfen kann. Er habe dabei jedoch in keiner Weise Versprechungen gemacht."
Auch die ökonomischen Interessen der DDR verfolgte der Anwalt konsequent. 1978 vertraute sich ihm in der U-Haft Mandant X an. Er habe für eine geplante Flucht 50.000 Mark in den Westen geschafft.
Der Anwalt baute eine Drohkulisse auf, X könne dafür bestraft werden. Darauf willigte dieser ein, durch seine Eltern in der DDR alles verkaufen zu lassen, was sie verkaufen könnten, um die 50.000 Mark nachweisen und dann legal ausreisen zu können.
Wo es sich nicht "lohnte", DDR-Bürger weiter zu halten, waren Partei und Staat auch schon einmal bereit, sie gehen zu lassen. "Die Z ... wäre wohl für unseren Staat kein Verlust", schrieb Rechtsanwalt Vogel mit zynischem Zungenschlag an seinen Karl-Marx-Städter Beauftragten. Rechtsanwalt John leitete diese Argumente offenbar weiter. Bald darauf konnte er nach Berlin vermelden, "daß die Sache örtlich eigentlich vorgeklärt ist, ... dass für unseren Staat kein Verlust eintritt."
V.
Ungeachtet derartiger Steuerungsversuche über ausgewählte Anwälte, kam es 1984 erneut zu einer regelrechten Ausreisewelle. Die Zahl der Ausreiseantragsteller nahm 1984 "fast explosionsartig", um fast das Zweieinhalbfache zu.
Kinder und Frauen aus der DDR, die als Flüchtlinge in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Zuflucht gefunden haben, spielen im Garten der Botschaft, Oktober 1984. (© AP)
Kinder und Frauen aus der DDR, die als Flüchtlinge in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Zuflucht gefunden haben, spielen im Garten der Botschaft, Oktober 1984. (© AP)
Die Besetzung der Prager Botschaft der Bundesrepublik sollte Anwalt Wolfgang Vogel 1984 in den Griff bekommen. Er sollte die Besetzer vor Ort mit Hilfe seines Renommees überzeugen, auf das Angebot der DDR-Regierung einzugehen, die Botschaft zu verlassen. Er winkte mit Straffreiheit und zügiger Bearbeitung der Ausreiseanträge, drohte schließlich mit dem Ablauf der Angebotsfrist. Die Strategie war von SED-Generalsekretär Honecker abgesegnet
Honecker nutzte diese scheinbare Nachgiebigkeit aber auch als Ventil, um Missliebige, "Feinde" bzw. "kriminelle Elemente" und "langjährige hartnäckige Antragsteller", loszuwerden.
VI.
Auch wenn sich das Ausreiseventil 1984 ungewöhnlich weit öffnete, blieb die Zielstellung die alte. Die Mehrheit der DDR-Bürger sollte zurückgehalten werden. In diese Strategie passte es, dass die Vorsitzenden der Kollegien der Rechtsanwälte instruiert
"Es gehört zur Verantwortung der Rechtsanwälte, den ihnen möglichen Beitrag zur ... offensiven Unterbindung und Zurückdrängung weiterer Versuche, von Bürgern der DDR zur Erreichung der Übersiedlung in das nichtsozialistische Ausland zu leisten." Für die Beratung von Antragstellern und die Hilfe bei der Antragstellung "gibt es keine anwaltliche Zuständigkeit", wies der Minister die Anwälte unmissverständlich an. Gefordert wurde von den sozialistischen Anwälten jedoch mehr als die Ablehnung eine aktiven Hilfe bei der Ausreise, nämlich aktive Gegenpropaganda. Längst hatten die Oberen der DDR erkannt, dass Bürger Anwälten noch vertrauten, wo sie Staatsvertretern nicht mehr zuhören wollten. Die Anwälte sollten nun helfen, Antragsteller in die Resignation zu treiben, "damit ... argumentieren, dass bei Nichtaushändigung von Anträgen zur Wohnsitzveränderung offenkundig keine Voraussetzungen ... entsprechend den Rechtsgrundsätzen der DDR" vorlägen. Sie sollten Bürger von "Handlungen, die auf die Erzwingung von staatlichen Genehmigungen" abzielten, abbringen, indem sie sie warnten, dass dies "strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen" könnte.
Diese informelle Weisung des DDR-Justizministeriums war, formal betrachtet, rechtswidrig. Der § 3 des Rechtsanwaltsgesetz der DDR sah die "juristische Beratung der Bürger ... in allen Rechtsangelegenheiten" vor.
Felix Busse meint: Gegen "das Vertretungsverbot wurde kein Widerstand geleistet" ; das ist nicht ganz richtig. Es kam zwar nicht zu einem offenen Aufbegehren, schon gar nicht von den Vorsitzenden der Anwaltskollegien. Friedrich Wolff, der Anwaltsfunktionär der DDR par exzellence hat keinen Hehl daraus gemacht, dass er von Mandanten, die die DDR verlassen wollten, nicht viel hielt.
In Cottbus beispielsweise stand ein Anwalt wegen offensiver Beratung im Rahmen der Familienzusammenführung seit 1977 auch beim MfS unter Verdacht. Er hatte im Rahmen eines Disziplinarverfahrens
Der Vorstand des bezirklichen Anwaltsgremiums akzeptierte. Man wollte auf Anraten der SED die Sache auf sich beruhen lassen. Der Anwalt galt als kirchlich gebunden, und man fürchtete, die Kirche könne sich in dem Fall engagieren, der Austritt wäre daher "die beste Lösung". Auch das Justizministerium folgte dieser Opportunitätsabwägung, da ein Disziplinarverfahren "ungünstiger" wäre.
VII.
Die "Selbstverwaltungsgremien" der Anwälte wirkten im Benehmen mit der SED und dem Justizministerium disziplinierend.
Im Bezirk Karl-Marx-Stadt war es gelungen, auch in Zwickau einen IM als Vertrauensanwalt systematisch aufzubauen.
Der ehemalige Kreisrichter und örtliche LDPD-Vorsitzende war schon länger als IM "Dr. Peters" oder "Peter" registriert und hatte über seine Mitmenschen berichtet.
Die Beziehung des Anwaltes zum MfS war selbst für DDR-Verhältnisse ungewöhnlich. Wenn Bürger, die die DDR verlassen wollten, sich hilfesuchend an den Zwickauer Anwalt wandten, legte dieser eine Akte an. Bald darauf traf der Anwalt seinen Stasi-Kontaktoffizier. Laut Protokoll des MfS fand die "Übergabe/Übernahme Akten und Ifo [zusätzlicher Informationen]" statt.
Obwohl der Rechtsanwalt mit dem MfS geradezu sprichwörtlich Hand in Hand arbeitete – eigentlich betrieb er mehr eine Stasi-Dependence und keine Kanzlei –, wurde er selbst vom MfS abgehört. Wenn sich ein Ausreiseantragsteller bei dem Anwalt meldete, wurden Personalien und die abgehörten Sachverhalte kurz protokolliert.
Auch abgesichert durch die Abhörmaßnahme, war das MfS zufrieden mit "seinem" Anwalt. Mehrfach gab das MfS zu Protokoll: Der Mandant "zog jedoch seinen Antrag auf Übersiedlung wieder zurück."
Die Frage ist, inwieweit Wolfgang Vogel in das Lenkungssystem seines Unteranwaltes eingeweiht oder gar einbezogen war. Der Karl-Marx-Städter Anwalt sollte Vogel gegenüber seine Stasi-Kontakte zwar verheimlichen.
VIII.
In zwei Bereichen durften alle Anwälte legal Ausreiseantragsteller vertreten: Wenn DDR-Bürger strafrechtlich wegen ihrer Bemühungen, das Land zu verlassen, belangt wurden bzw. wenn der Antrag bewilligt und die Ausreise abzuwickeln war.
Im Laufe des Jahres 1976 hatte das Regime "eine Strategie gegen die Übersiedlungsbewegung entwickelt, an der es mit unterschiedlichen Akzenten bis zum Ende der DDR festhielt."
§ 213 des DDR-Strafgesetzbuches ahndete auch schon den Versuch eines ungesetzlichen Grenzübertrittes. Das ermöglichte einen breiten Sanktionsspielraum, vor allem in Kombination mit § 225, der die Bestrafung der unterlassenen Anzeige eines Fluchtplanes androhte. Wer Personen oder Stellen außerhalb der DDR über seine Ausreisewünsche informierte, konnte seit den 70er-Jahren mindestens mit einer Verfolgung nach § 219 (ungesetzliche Verbindungsaufnahme), wenn nicht wegen Spionagevorwürfen nach den §§ 97, 99 oder 100 rechnen. Proteste, die dem Ausreisewunsch Nachdruck verleihen sollten, konnten nach den §§ 214 (Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit), 217 (Zusammenrottung), 220 (öffentliche Herabwürdigung), 249 (Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit) oder unter Rückgriff auf den Gummiparagrafen der frühen DDR wegen staatsfeindlicher Hetze (§ 106) verfolgt werden. Dieses Instrumentarium wurde in den späten 70ern ausdifferenziert, kam Anfang der 80er-Jahre voll zur Geltung und wurde später allerdings zugunsten anderer Sanktionsformen teilweise zurückgenommen.
Derartige Verfahren wurden großenteils von der HA IX der Staatssicherheit vorermittelt. Die anwaltliche Vertretung in derartigen MfS-Ermittlungsverfahren wurde über staatsanwaltliche Bedingungen in der Regel stark beschränkt. In Prozessen zu derartigen Delikten konnte der Anwalt nach eigener Wahrnehmung nur wenig ausrichten.
Die seit Ende der 70er-Jahre besonders devisenknappe DDR war stets an Einnahmen interessiert. So ermunterte sie auch die Anwälte, die sich eigentlich aus dem Übersiedlungsgeschäft heraushalten sollten, Ausreisen zu betreuen, wenn der Antrag genehmigt war: "Die Sicherung der politischen und ökonomischen Interessen der DDR und der Rechte ihrer Bürger sind besonders zu beachten."
"Die Sicherung der politischen und ökonomischen Interessen der DDR ... sind besonders zu beachten". Das klingt in diesem Zusammenhang schon wie eine Aufforderung zum Mandantenverrat. Bestimmte Anwälte, vor allem Vogel und seine Unteranwälte, durften Antragstellern auch die Ausreise anbieten, wenn diese im Gegenzug ihre Immobilie zu einem geringen Taxpreis an den Staat verkauften.
Die anwaltlichen Verhaltensmuster von 1984 – Kollaboration, Folgsamkeit, zivilrechtliche Ausreisebetreuung, heimliche Beratung und Diplomatie – blieben dieselben bis 1988. Auffällig und symptomatisch für die schleichenden Dissense selbst im Herrschaftsapparat der DDR ist, dass in dieser Zeit auch Vorsitzende von Rechtsanwaltskollegien unter Verdacht gerieten, Antragsteller zu beraten.
IX.
Das Wiener KSZE-Abkommen brachte eine neue Dynamik in die Ausreisefrage und die anwaltliche Vertretung. Üblicherweise hat die DDR versucht, ihre rechtlichen Regelungen vor oder zeitnah zum Abschluss internationaler Vereinbarungen anzupassen, um von vornherein Kritik zu vermeiden. So war vor dem Ende der Wiener Konferenz im November 1988 eine Reiseverordnung verabschiedet worden.
Das MfS in Erfurt stellte fest, dass wegen der Gesetzesänderung die juristische Vertretung "legitim geworden" sei und keine "strafrechtliche Relevanz" vorläge.
Ob die neuen Verwaltungsvorschriften wirklich zu einer Liberalisierung, auch der Rechtsvertretung, im Sinne des KSZE-Treffens von Wien geführt hätten oder DDR-typisch eingeschränkt bzw. unterlaufen worden wären, muss offen bleiben. Die Dynamik der internationalen Politik und der innenpolitischen Krise überrollte das kleine Land. In den diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik in den östlichen Anrainerstaaten baute sich eine neue Ausreisewelle auf, die jene von 1984 noch übertraf. Wieder wurden Anwälte, zu denen die DDR besonderes Vertrauen hatte, eingeschaltet.
DDR-Flüchtlinge blicken durch den Zaun der Prager Botschaft der Bundesrepublik, 30. September 1989. (© AP, Foto: Diether Endlicher)
DDR-Flüchtlinge blicken durch den Zaun der Prager Botschaft der Bundesrepublik, 30. September 1989. (© AP, Foto: Diether Endlicher)
Rechtsanwalt Wolfgang Vogel reiste nach Prag und Warschau. Mit dabei war diesmal Gregor Gysi, der inzwischen zum höchsten Anwaltsfunktionär der DDR aufgestiegen war. Der Empfang beider Spitzenanwälte in Prag verlief anders als Vogels Besuch 1984. Damals waren alle Hoffnungen auf den Vermittler gerichtet, 1989, waren die Besetzer fordernder. Manche schubsten und bespuckten sogar die Anwälte.
Diesmal sollten sogar alle Anwälte, eingespannt werden, die Krise zu bewältigen. Zwei MfS-Offiziere sprachen das Vorgehen mit dem Justizminister ab. Vor dem Treffen mit den Anwälten stimmen sich alle zuständigen Stellen, MdI, MfS, Außenministerium, Generalstaatsanwaltschaft und SED mit Gysi und Vogel noch einmal ab. Gysi kritisierte, die bislang übliche "ethische Verurteilung der Rechtsanwälte durch die Abt. innere Angelegenheiten"
Das Szenario entsprach einer Umkehrung der Verhältnisse von 1984. Damals hatten die Anwälte Ausreiseantragsteller nicht beraten, sondern mithelfen sollen, sie in die Resignation zu treiben. Fünf Jahre später sollte der anwaltliche Vertrauensbonus der DDR aus der diplomatischen und innenpolitischen Klemme helfen. Um die Protestierenden aus den Botschaften der sozialistischen Staaten zu locken, sollten die Anwälte die Garanten für ein faires Ausreiseverfahren sein. Der Weg über die legale Ausreise sollte der DDR selbst im Moment der Niederlage eine neue staatliche Legitimation zurückgeben.
Dazu kam es bekanntermaßen nicht mehr. Unter außen- und innenpolitischem Druck musste die DDR ihre Bürger direkt ausreisen lassen, mit Zügen die von Prag durch die DDR in die Bundesrepublik fuhren.
X.
Doch der Staat hatte mit seinem vorletzten Angebot die Anwälte zum Dreh- und Angelpunkt der Ausreiseproblematik gemacht. Die Anwaltschaft, die im Rechtsgefüge der DDR bis dato eine untergeordnete Stellung innehatte, ergriff die Gelegenheit zur Aufwertung. Sie war jetzt quasi von der Partei und dem Staat legitimiert, sich in dieser Sache zu äußern. Schon lange gärte es unter klarsichtigeren DDR-Juristen. Dass Bürger wegen ihres Ausreisebegehrens erst eingesperrt und dann vom Westen freigekauft und mit der Ausreise in den Westen belohnt wurden, untergrub den rechtsstaatlichen Schein, die präventive Abschreckung, die staatliche Legitimität überhaupt. Sogar in bestimmten Bereichen des MfS plädierten Juristen für eine konsequente Rechtsanwendung, dies allerdings gepaart mit eindeutigen Weitungen der Ausreisebestimmungen, mit "längerfristig prinzipiell möglichem mehrjährigen oder ständigen Auslandsaufenthalt von DDR-Bürgern, die dies wünschen."
Von den prominenten staatsnahen Anwälten trat als erster Wolfgang Vogel aus der Deckung. Am 13. Oktober ließ er über eine Agenturmeldung seine Kritik an der Kriminalisierung von Ausreisewilligen verbreiten.
So hatten die Anwälte, die sich – abgesehen von Spezialanwälten – jahrelang aus den Ausreisefragen hatten heraushalten sollen, ihren Anteil an der Geschichte des 9. November. Zumindest waren sie mittelbar beteiligt, sei es um den Menschen zu nützen oder um die DDR und ihre eigene Reputation zu retten. Die Mandate für Ausreiser, die manipulativ-verräterischen wie die ehrlich gemeinten, hatten sich mit diesem Datum freilich erübrigt.