"Die Biographie eines Schriftstellers
sind seine Werke"
Konventioneller Würdigungen Stefan Heyms bedarf es längst nicht mehr. Bereits 1988 hatte der berühmteste Schriftsteller der DDR seine als "Nachruf" betitelten Memoiren veröffentlicht, ein einzigartig spannendes wie persönliches Dokument deutsch-deutscher Zeitgeschichte. Und als der in Chemnitz als Helmut Flieg geborene Autor am 16. Dezember 2001 88-jährig in Israel verstarb, war die Zahl der Nachrufe von Weggefährten und Kollegen Legion – von Wolf Biermann über Ralph Giordano, Günter Kunert und Johannes Mario Simmel bis zu Rolf Schneider.
Doch nicht der außergewöhnliche Umfang seines literarischen Schaffens und die Zahl seiner Leser und Bewunderer sind es, die Stefan Heym auch im zehnten Jahr nach seinem Tod interessant machen. Es war sein lebenslanges gesellschaftliches Interesse, seine Einsatz- und Kritikbereitschaft in und an den politischen Verhältnissen, in denen er lebte, sowie deren Rezeption und Reflexion in seinen Romanen und Erzählungen. Das wusste niemand besser als Heym selbst, der in seinem "Nachruf" schrieb: "Man sagt, die eigentliche Biographie eines Schriftstellers seien seine Werke. Das stimmt insofern, als die Erfahrungen seines Lebens, seine Ängste, seine Freuden in seine Schriften eingehen, und diese wiederum, durch eine Art Rückkopplung, auf dem Umweg über ihre Wirkung auf seine Zeitgenossen die Haltungen und Handlungen des Autors beeinflussen"
Literatur und Schriftsteller in der DDR
Mit der Gründung der DDR begann in der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone eine offene Instrumentalisierung der Literatur durch die Politik der SED. Literaten und Künstler waren zwar im "Leseland" hoch angesehen, jedoch bei den meisten Kulturfunktionären nur dann, wenn sie ihre Arbeit in den Dienst des Sozialismus stellten. So erklärte Otto Grotewohl 1951 in einer Rede mit dem bezeichnenden Titel "Die Kunst im Kampf für Deutschlands Zukunft": "Literatur und bildende Künste sind der Politik untergeordnet. [...] Die Idee in der Kunst muss der Marschrichtung des politischen Kampfes folgen. Denn nur auf der Ebene der Politik können die Bedürfnisse der Werktätigen richtig erkannt und erfüllt werden."
Denn viele Literaten und Intellektuelle ließen sich nicht auf die ideologische Linie der Partei bringen. Sie bewahrten sich ihre Kritikfähigkeit – gegenüber der SED-Propaganda und trotz der kulturellen Isolation im Ostblock. Da es nach den Vorstellungen der Ost-Berliner Führung keinerlei Kritik an der Richtigkeit des Sozialismus geben konnte, reagierte sie mit Unverständnis auf Publikationen, die nicht im DDR-Kontext verfasst waren. Offen kritische bzw. systemfeindliche Autoren wurden zu Haftstrafen verurteilt oder nach Westdeutschland abgeschoben, vorsichtigere Kritiker mit Zensur und Veröffentlichungsverboten bestraft. Als Zäsur in die DDR-Kulturgeschichte ging das 11. Plenum des Zentralkomitees der SED im Dezember 1965 mit seinem kulturpolitischen Kahlschlag ein.
Der politische Literat Stefan Heym
in der Ära Honecker
Mit dem Amtsantritt Erich Honeckers als Generalsekretär des ZK der SED im Juni 1971 endete – zumindest vorübergehend – die Zeit massiver Repressalien für DDR-Schriftsteller. Die Ablösung Ulbrichts wurde von Künstlern und Literaten positiv aufgenommen. Sie hofften auf Verjüngung und Veränderung. Tatsächlich zeigte sich die neue SED-Führung offener als früher. Auf dem 8. Parteitag der SED erklärte Honecker: "Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben."
Viele Schriftsteller nutzten die neuen politischen Freiräume. Allerdings unterschieden sich die Vorstellungen von "einer festen Position zum Sozialismus" der Kulturschaffenden und -funktionäre deutlich. Eine Konsequenz war die erneute Verschärfung von Zensur und Indizierung zahlreicher Veröffentlichungen. Bereits 1973 hatte sich Honecker besorgt über einige kritische Bücher geäußert, was zunächst folgenlos blieb. Das änderte sich ab 1974. Stefan Heyms Roman "5 Tage im Juni" erschien im Westen, im Osten dagegen "entspräche das Buch den geltenden Anschauungen über das Ereignis in keiner Weise und könne daher in der DDR nicht veröffentlicht werden"
Die Rede von der Ausbürgerung Wolf Biermanns als dem "Anfang vom Ende der DDR"
Der Abkühlung des Verhältnisses zwischen SED-Spitze und kritischen Autoren folge eine kulturpolitische Eiszeit. Die gravierendste Folge war neben dem Exodus zahlreicher Künstler nach Westen der Ausschluss von neun Mitgliedern aus dem DDR-Schriftstellerverband am 7. Juni 1979. Heym, dessen drei neuen Bücher nicht in der DDR erscheinen durften, ließ im Frühjahr des Jahres den Roman "Collin" bei Bertelsmann in München verlegen. Ganz bewusst unterlief er eine Bestimmung, wonach unveröffentlichte Werke erst die DDR-Zensurbehörde passieren mussten. Wieder nutzte Heym seine besondere Rolle und trat mutiger als alle seine Kollegen hervor. Entschieden sprach er sich für Demokratie und Meinungsfreiheit aus und bekundete dies öffentlich. Heym war sich sicher: Je größer die Öffentlichkeit desto geringer die Folgen. Denn einen Strafprozess gegen ihn, den weltbekannten Antifaschisten und "DDR-Freiwilligen", konnte sich die DDR nicht leisten. So erklärte er während des Tribunals des Schriftstellerverbandes: "Es ist leider so, dass gewisse Probleme, die uns betreffen, in unseren Medien nicht debattiert werden. Und dass gewisse Bücher von unseren Verlagen nicht veröffentlicht werden. Obwohl der Artikel 27 der Verfassung allen Bürgern, also auch den Schriftstellern, das Recht auf freie Meinungsäußerung zusichert, gilt nur eine Meinung bei uns."
Durch den Künstlerexodus Richtung Bundesrepublik war Stefan Heym (neben Christa Wolf) in den 1980er-Jahren zur am stärksten wahrgenommenen Stimme intellektueller Regimeskepsis mit internationalem Renommee geworden. Sein politischer Spielraum vergrößerte sich. Er hatte weitgehend unbeschadet die Querelen in den späten 1970er-Jahren überstanden. Wenn ihn die DDR-Führung doch noch Richtung Westen abschieben sollte, hatte er sowohl finanzielle Sicherheit als auch einen gesamtdeutsch derart hohen Stellenwert, dass er auch weiterhin im für ihn so wichtigen öffentlichen Interesse stehen würde. Heym, sich seiner telegenen Wirkung wohl bewusst, nutzte im letzten Jahrzehnt der DDR verstärkt das westdeutsche Fernsehen, um seine Meinung dem westdeutschen, aber vielmehr noch seinem ostdeutschen Publikum mitzuteilen. Seine Themenschwerpunkte hatten sich gewandelt. Zu Heyms zentralen Anliegen zählten die Befriedung internationaler Konflikte, atomare Abrüstung und die Zukunft des geteilten Deutschlands, wobei der Sozialist Heym trotz aller Kritik an der DDR nie einen Zweifel daran ließ, welches System er für das bessere hielt. Die Veränderungen in der UdSSR seit der Machtübernahme Michail Gorbatschows nutzte Heym konsequent, um mit indirekter sowjetischer Legitimation Missstände in der DDR noch schärfer anzuprangern, Veränderungen noch vehementer zu fordern und die Machthaber noch offensiver und offensichtlicher zu kritisieren.
Dass Stefan Heym in den letzten Wochen der DDR abermals eine bedeutende Rolle spielen würde, verstand sich für ihn selbstredend.
Dissidenz im literarischen Schaffen Stefan Heyms
Heyms politische Überzeugungen und sein Engagement gegen die Missstände in der DDR sowie seine offenen Kritikbekundungen gegenüber der SED finden sich in zahlreichen seiner Romane. So bezeichnete der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki Heyms epische Formen als Verpackung für zeitkritische Befunde und polemische Diagnosen. Die Breitenwirkung, nicht die Kunstform seiner Bücher stelle Heym in den Vordergrund. Dies sei das Besondere, das Wesentliche seiner Werke, so Reich-Ranicki weiter. Die Qualität der Prosa nennt Reich-Ranicki gelegentlich etwas hausbacken, mit groben Mitteln agierend und daher in der Gefahr, seine Bücher in die Nähe der Kolportage geraten zu lassen. Die direkte und unterhaltsame Weise, wie Heym in seinen Romanen die Auseinandersetzung mit der DDR-Spitze sucht und aufklärerisch die Missstände des Landes offenbart, waren für Reich-Ranicki hingegen das besondere Verdienst um dessen Literatur.
Im "König-David-Bericht" erzählt Stefan Heym die biblische Geschichte um die Legende von David gegen Goliath weiter. Die Hauptfigur des Romans, Ethan, hat am Hof von König Salomo in Jerusalem die Aufgabe, die historischen Begebenheiten um den Sieg von Salomos Vater David über den Riesen Goliath niederzuschreiben. Während seiner Recherche erkennt Ethan, dass die Wahrheit jedoch nicht der glanzvolle Sieg Davids und seiner Leute ist, sondern eine umstrittene Geschichte voller Unklarheiten, Lügen und Intrigen. Die Offenlegung seiner Ermittlungen erregt den Hofstab Salomos derart, dass Ethan vor der Verkündung des Todesurteils steht. Nur das "salomonische" Urteil des Königs lässt ihn überleben, allerdings mit der Konsequenz, dass der Inhalt des König-David-Berichtes für alle Zeiten tot geschwiegen werden solle.
Offenkundig handelt es sich bei Heyms Roman nicht um ein historisches Werk, sondern um die verschlüsselte Schilderung des Schriftstellerdaseins in einer Diktatur. Heym selbst ist durch die Betonung persönlicher Eigenschaften deutlich als Hauptfigur Ethan auszumachen. Aber auch andere Charaktere sind erkennbar an die DDR-Realität angelehnt. So erscheinen im Roman neben dem Hofstab als dem Heer sozialistischer Funktionäre die Tempelwächter Krethi und Plethi als Angehörige der Staatssicherheit, aber auch mutige Bürger als Oppositionelle der DDR. Zudem belegen nicht nur personelle, sondern auch sprachliche Parallelen, dass die historische Kulisse nur als Stilmittel dient. Heyms Duktus ist nicht altertümlich, sondern im DDR-Jargon geschrieben. Spöttisch nennt er den Schriftsteller Ethan einen "behördlich zugelassenen Erzähler von Geschichten und Legenden". Eine im Buch enthaltene Preisliste ist in sächsischer Mundart geschrieben und ein Verhör mit Ethan im typisch repressiven Stil der Staatssicherheitsrhetorik abgefasst. Reich-Ranicki urteilte, eben dieser Witz und diese Ironie seien die Stärke des Buches, während er Schwachstellen dort sieht, wo Heym versuche, dramatisch und feierlich zu werden.
Zu den Autoren, die im Zuge der "Biermann-Affäre" die DDR verließen, gehörte auch Günter Kunert, hier mit Stefan Heym auf einem Empfang des Bertelsmann Verlages anlässlich der Veröffentlichung von Heyms "Schwarzenberg" in Hamburg, 15. März 1984. (© AP, Foto: Helmut Lohmann)
Zu den Autoren, die im Zuge der "Biermann-Affäre" die DDR verließen, gehörte auch Günter Kunert, hier mit Stefan Heym auf einem Empfang des Bertelsmann Verlages anlässlich der Veröffentlichung von Heyms "Schwarzenberg" in Hamburg, 15. März 1984. (© AP, Foto: Helmut Lohmann)
1984 erschien der Roman "Schwarzenberg" im Bertelsmann-Verlag. Es war das erste Mal, dass Heym im Westen nicht zunächst in englischer Sprache veröffentlichte. Er wählte dieses Mittel gern, um Angriffe und Kritik gegen die DDR-Führung weniger eindeutig und stärker interpretierbar zu formulieren. Dass "Schwarzenberg" gleich in deutscher Sprache verlegt wurde, zeigt deutlich, wie machtlos die SED in ihrer Endphase gegenüber Heyms politischer Einflussnahme und literarischen Äußerungsmöglichkeiten war. Das Buch handelt von der historischen Begebenheit des Gebietes um die erzgebirische Stadt Schwarzenberg, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges für sieben Wochen weder von sowjetischen noch von amerikanischen Truppen besetzt wurde.
Wie alle (zeit-)historischen Romane Heyms beruht "Schwarzenberg" auf Originalquellen. Im Gegensatz zu anderen Büchern war er hierbei sehr eingeschränkt. Heym selbst recherchierte einen Großteil des Materials über die Enklave im Süden der sowjetischen Besatzungszone. Dies prägt den Stil des Buches. Heym schreibt stark journalistisch, durch die umfassende Anreicherung mit vermeintlichen Fakten wirkt der Text beinahe dokumentarisch. Doch wie die meisten Heym-Romane gewinnt auch "Schwarzenberg" seine besondere Bedeutung nicht aus sprachlich-stilistischen Mitteln, sondern aus der politischen Brisanz des Stoffes. Sowohl Heyms Vision vom "wahren" Sozialismus als auch die Negativdarstellung der Besatzungsmacht Sowjetunion, welche er ironisch als "die Freunde" und "die große ruhmreiche Sowjetarmee" bezeichnet, machen "Schwarzenberg" zu einem der kritischsten DDR-Romane überhaupt.
Stefan Heym und die Überwindung der SED-Diktatur
Stefan Heym spricht auf der Kundgebung am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz. (© Bundesarchiv, Bild 183-1989-1104-039, Foto: Hubert Link)
Stefan Heym spricht auf der Kundgebung am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz. (© Bundesarchiv, Bild 183-1989-1104-039, Foto: Hubert Link)
1990 traf Stefan Heym das Schicksal vieler ostdeutscher Bürgerrechtler und Dissidenten: Was er wollte, bekam er nicht – eine demokratische und sozialistische DDR –, und was er bekam, wollte er nicht – den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik.
Stefan Heyms literarisches Oeuvre zählt in Umfang und Bedeutung zu den wichtigsten Werken der deutschen Nachkriegsliteratur. Viele seiner Bücher wurden zu internationalen Bestsellern und seine verständlichen, häufig ironisch witzigen, wenn auch nicht immer bestechenden und brillanten Ausdrucksformen sind sein Markenzeichen. Doch Stefan Heym spielte unter den DDR-Schriftstellern nicht nur wegen seiner Biografie und seines Renommees eine herausragende Rolle – er nutzte diese auch bei vielen Gelegenheiten. Die gewaltige Wirkung von Heyms Belletristik hat zwei wesentliche Ursachen. Zum einen waren Heyms Bücher keine gesellschaftlich unbedeutenden Individualgeschichten, sondern stets zeitkritische Befunde über Probleme und Missstände in der DDR, die er in seinen Romanen aus literarischer Fiktion und politischer Realität geschickt verknüpfte. Zum anderen machte ihn diese für DDR-Verhältnisse kritische Schreibweise sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR zu einem vielbeachteten Autor. Da die meisten Westschriftsteller im Osten nicht veröffentlichen durften und es außer Heym und Christa Wolf keine DDR-Literaten gab, die es in der Bundesrepublik zu größerem Erfolg gebracht hatten, lässt sich die These aufstellen, dass Stefan Heym in der Zeit des Kalten Krieges der meistgelesene Gegenwartsautor in Gesamtdeutschland war und somit auf künstlerischem Gebiet einen entscheidenden Teil zum Zusammenhalt der beiden deutschen Staaten beigetragen hat. Konsequent zeichnete er ein kritisches Abbild der (real)sozialistischen Diktatur, offerierte somit seinen Lesern, aber auch Künstlerkollegen und Politikern im In- und Ausland die Fehlentwicklungen in seiner Heimat und leistete damit einen wichtigen Beitrag zur inneren wie äußeren Destabilisierung der DDR. Dies erkannte der deutsche Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll lange vor dem Ende des "sozialistischen Experimentes". 1972 schrieb er treffend wie vorausschauend über Stefan Heym und die DDR: "Was nutzen Verträge, Annäherungen, Normalisierung, Beteuerungen, wenn ein Autor nicht da erscheinen darf, wo die Sprache gesprochen und gelesen wird, in der er schreibt? Das wird letzten Endes nur peinlich und ist eines Staates unwürdig, der international anerkannt sein möchte, aber seine Literatur, die längst international anerkannt ist, selbst nicht anerkennt."