Ein "Arbeitsbesuch"
Am Nachmittag des 11. Dezember 1981 landete Bundeskanzler Helmut Schmidt auf dem Flughafen Schönefeld im Süden der "Hauptstadt der DDR". Erich Honecker, Generalsekretär der SED und Vorsitzender des DDR-Staatsrates, begrüßte ihn "recht herzlich" in der Deutschen Demokratischen Republik. Die Begrüßung verlief ohne großes Protokoll und fand mit Ausnahme der zahlreichen Journalisten ohne Publikum statt, der Charakter eines "Arbeitsbesuches" sollte so unterstrichen werden. Unmittelbar nach der Ankunft ging es mit der Wagenkolonne in eine stille Waldgegend im Norden Berlins. Die Schorfheide war das Ziel, hier lagen das Jagdschloss Hubertusstock am Werbellinsee, in dem die Delegationen logierten, und das Gästehaus des DDR-Staatsrates am Döllnsee, in dem am 11./12. Dezember die offiziellen Delegationsgespräche geführt wurden. Am letzten Tag des Treffens der beiden deutschen Staatsmänner, am Adventssonntag des 13. Dezember, stand ein Besuch in der mecklenburgischen Kleinstadt Güstrow auf dem Programm.
Von der Entspannung zum Zweiten Kalten Krieg
Gut elf Jahre waren seit den ersten und vorerst letzten deutsch-deutschen Gipfeltreffen vergangen. Im Frühjahr 1970 hatten sich Bundeskanzler Willy Brandt und Willi Stoph, Vorsitzender des DDR-Ministerrates, in Erfurt und Kassel zu Gesprächen getroffen. Besonders der 19. März 1970 war den Herrschenden der DDR schmerzhaft in Erinnerung geblieben – es war jener Tag, als eine begeisterte Menge den Bundeskanzler auf dem Platz vor dem Tagungshotel "Erfurter Hof" mit "Willy, Willy"-Rufen feierte.
Die Gipfelgespräche zwischen Brandt und Stoph waren wegen der starren Haltung der DDR-Führung und ihres Beharrens auf völkerrechtlicher Anerkennung durch die Bundesrepublik ergebnislos geblieben. Angesichts der bisherigen Sprachlosigkeit zwischen beiden Seiten war allein die Tatsache ein Erfolg, dass man sich zu Gesprächen getroffen hatte. Obwohl zunächst eine "Denkpause" eingelegt wurde, bewegte sich bald ganz Grundsätzliches und Zukunftweisendes in den deutsch-deutschen Beziehungen. Eingebettet in die "neue Ostpolitik" Bonns und in die daraus resultierenden Vertragswerke mit der Sowjetunion und mit Polen gelang es, eine vertragliche Basis zwischen beiden deutschen Staaten zu finden. Mit dem Grundlagenvertrag vom 21. Dezember 1972 wurde einerseits die Realität der Existenz zweier deutscher Staaten akzeptiert, zum anderen dennoch nicht die Teilung festgeschrieben. Die "deutsche Frage" blieb offen und damit auch die Perspektive der Wiedervereinigung.
Diese Entwicklung war bei allen Einschränkungen – vor allem im Blick auf die Abgrenzungsreaktionen der DDR – zweifellos als Erfolg zu werten. Im Laufe der 1970er-Jahre und zur Wende in die 1980er-Jahre setzte allerdings erneut eine konfrontativere Phase der bipolaren Welt ein. Die Stationierung moderner sowjetischer Mittelstreckenraketen in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre, die Reaktion der NATO mit dem seinerzeit umstrittenen "Doppelbeschluss" im Dezember 1979 und die sowjetische Invasion in Afghanistan im selben Monat markieren den Beginn eines "Zweiten Kalten Krieges".
In Europa zeichnete sich ebenfalls eine Entwicklung ab, die zu Befürchtungen Anlass gab. Im Sommer 1980 begann sich in Polen die unabhängige Gewerkschaft "Solidarność" zu formieren. Etwa 9,5 Millionen Menschen gehörten ihr an, darunter auch etwa eine Million Mitglieder der kommunistischen Partei. Die Existenz einer unabhängigen Gewerkschaft mit einem derartigen Massenanhang war im sowjetischen Machtbereich eine Herausforderung allerersten Ranges. Dass dies seitens der sozialistischen Staatsführungen im Ostblock nicht dauerhaft hingenommen werden würde, war abzusehen. Sollte eine neuerliche sowjetische Intervention, ähnlich jener in der Tschechoslowakei 1968 bevorstehen?
Konfrontation im Vorfeld
Im deutsch-deutschen Verhältnis wurde ebenfalls ein wieder rauerer Ton angeschlagen, jedenfalls, was die Seite der DDR betraf. Am 9. Oktober 1980 verfügte das DDR-Finanzministerium – für die Bundesregierung überraschend – eine Erhöhung des Mindestumtausches bei Besuchen in die DDR von 13 auf 25 DM pro Tag. Wenige Tage später sorgte Erich Honecker in einer Rede am 13. Oktober 1980 in Gera vor 2.500 Parteiaktivisten und Propagandisten der SED für die ideologisch-politische Begleitmusik.
Honecker stellte klar, dass die DDR an einer stabilen Lage in der Volksrepublik Polen interessiert sei. Sie werde deshalb allen Einmischungsversuchen entgegentreten, mit dem "ausländische Reaktionäre" derzeit bestrebt seien, die schwierige Lage in Polen für ihre Ziele auszunutzen. Auch die Bundesrepublik stand dabei im Visier des Generalsekretärs, der dortige "imperialistische" Massenmedien und dunkle Hintermänner beschuldigte, einen "Hetzfeldzug ohnegleichen gegen das sozialistische Polen" zu entfachen. Die Bundesrepublik mische sich zudem in die inneren Angelegenheiten der DDR ein und, so Honecker weiter, sie unterstütze als engster Verbündeter der USA deren imperialistische "Droh- und Boykottpolitik". Jenseits dieser scharfen Geschütze waren auch Zwischentöne in Honeckers Rede wahrnehmbar, die eine Fortführung der Ostpolitik der in den Bundestagswahlen vom 5. Oktober 1980 erneut bestätigten sozial-liberalen Koalition als positiv ansah. Allerdings müsse die Bundesrepublik eine Politik der "Nichteinmischung" betreiben und sich endlich zu den völkerrechtlichen Gepflogenheiten zwischen souveränen Staaten bekennen. Das hieß: Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft und Umwandlung der "Ständigen Vertretungen" der beiden deutschen Staaten in Botschaften. Honecker betonte, dass es beim Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten nicht lediglich um die Regelung bilateraler Fragen gehe. Seine Bedeutung liege vor allem in der Frage von Frieden und Entspannung. Die DDR, so versicherte der Generalsekretär abschließend, wolle ihrerseits "nicht nachlassen, ihren aktiven und konstruktiven Beitrag zu Frieden und Sicherheit in Europa zu leisten."
Es war neben dem Anspruch nationaler Verbundenheit auch diese Bedeutung der beiden deutschen Staaten in der konfrontativ aufgeladenen Phase jenes "Zweiten Kalten Krieges", die die Bundesregierung zu einer maßvollen Reaktion auf Honeckers Angriffe bewog. Sie ließ durch ihren derzeitigen Regierungssprecher Klaus Bölling am 15. Oktober 1980 verlauten, die Bundesregierung würde "gegen den Grundsatz verstoßen, daß der Zusammenhalt der Nation gewahrt und gestärkt werden muß, wenn wir einer Politik der von der DDR gewollten Abgrenzung von uns aus mit Abgrenzung begegnen würden." Die Bundesregierung werde "auch künftig im Bewußtsein ihrer besonderen Verantwortung für den Fortgang der Entspannungspolitik in Europa handeln und sich nicht zu einer Politik der Nadelstiche drängen lassen." Die Auslassungen Honeckers bezüglich Polens wies Bölling als unsachlich zurück. Zutreffend sei, dass die Bundesregierung auf Ersuchen der polnischen Regierung sich für das Zustandekommen von Bankkrediten eingesetzt habe, weil sie, wie alle Europäer, daran interessiert sei, "daß die polnische Führung die wirtschaftlichen Schwierigkeiten ihres Landes überwindet".
Ein Treffen zwischen Schmidt und Honecker war bereits seit Herbst 1979 im Gespräch. Doch zweimal waren die Besuchstermine abgesagt worden. Ein für den 24. Februar 1980 in Aussicht genommener Besuch Schmidts wurde am 28. Januar 1980 durch Honeckers Emissär, Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, abgesagt. Der Grund war der sowjetische Einmarsch in Afghanistan. Honecker argumentierte, dass ein Treffen der beiden deutschen Regierungschefs unter diesen international polarisierten Bedingungen wenig brächte. Beide Seiten seien zu sehr in ihre jeweiligen Bündnisverpflichtungen eingebunden. Ein zweiter Anlauf für einen Besuch am 28./29. August 1980 wurde am 22. August 1980 von Helmut Schmidt gestoppt – offenbar zur Erleichterung Honeckers, so jedenfalls die Wahrnehmung des Kanzlers.
Motive
Auch im Dezember 1981 war die zeitgenössisch sogenannte politische "Großwetterlage" nicht eben günstig. Die sowjetische Armee war noch immer in Afghanistan stationiert, in Polen hatte sich die Lage keineswegs entspannt und in der Rüstungsfrage waren beide deutsche Staaten weiterhin in den Konflikt um die Rüstungspolitik involviert. Allerdings waren sowohl seitens der Sowjetunion als auch vom Ministerrat der NATO positive Signale im Hinblick auf ein deutsch-deutsches Treffen ausgesandt worden. Leonid Breschnew, der vom 22. bis zum 25. November 1981 zu einem Arbeitsbesuch in der Bundesrepublik weilte, hatte es gegenüber Schmidt "begrüßt, daß es zu einem Treffen kommen sollte". Helmut Schmidt informierte Erich Honecker noch am Tage der Abreise des sowjetischen Generalsekretärs telefonisch über diese Äußerung wie überhaupt über die Gespräche mit der sowjetischen Delegation.
Wieder ins Gespräch zu kommen und dabei vor allem die Rolle Deutschlands, hier wie da, in der internationalen Rüstungs- und Friedenspolitik zu betonen, waren Motive beider Seiten für die Wiederaufnahme des Dialogs. Schmidt hatte in einem Vorgespräch mit Honeckers Emissär Vogel am 9. Dezember 1981 betont, es gehe ihm um "die Überwindung der Phase der Stagnation und des Rückschritts, um Verbesserungen für die Menschen" sowie darum, "einen Beitrag zur Sicherung des Friedens im Interesse aller europäischen Völker zu leisten".
Sicherlich handelte Schmidt nicht so selbstlos, wie dies in den hier zitierten Passagen anklingen mag. Nach Einschätzung des SPD-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Herbert Wehner, brauchte Schmidt das Treffen mit Honecker, ähnlich wie den Besuch Breschnews, "als Alibi für die besondere Rolle der beiden deutschen Staaten für die europäische Friedenspolitik und die Beziehungen der Supermächte".
Die Verhandlungen
Im Gespräch mit Wolfgang Vogel am 9. Dezember 1981 hatte Helmut Schmidt vorab seine Positionen zu den einzelnen Verhandlungsthemen klargelegt. Die in Honeckers Geraer Rede erhobenen Forderungen bezeichnete er bereits hier als nicht verhandelbar. Schmidt bezog im Hinblick auf die umstrittene Elbgrenze wie auch auf die Forderung nach Auflösung der "Erfassungsstelle Salzgitter" allerdings "inoffiziell" eine moderate Haltung. Die Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter, die seit November 1961 Beweismittel und Zeugenaussagen zur Strafverfolgung von Verbrechen des SED-Staates insbesondere an der innerdeutschen Grenze sammelte, war laut Schmidt ein "Relikt", das nichts bringe. Aber es sei eine Einrichtung der Länder, und nur diese könnten diese Einrichtung auflösen. Bei der strittigen Frage der Elbe-Grenze, bei der die DDR einen Verlauf in der Mitte des Stroms forderte, während die Bundesrepublik auf einem Grenzverlauf am nordöstlichen Ufer beharrte, wehrte Schmidt ebenfalls nicht grundsätzlich ab. Im Gespräch unter vier Augen mit Honecker war er bereit, diese Frage als "müßig" zu bezeichnen sowie anzukündigen, mit dem niedersächsischen Ministerpräsidenten in dieser Frage sprechen zu wollen. Öffentlich wollte er sich jedoch nicht dergestalt äußern. Bei den Kernfragen – DDR-Staatsbürgerschaft, Umwandlung der Ständigen Vertretungen in Botschaften – waren seitens der Bundesrepublik keine Kompromisse zu erwarten.
Neben der trotz konträrer Bündnisverpflichtung offenkundig verspürten gemeinsamen Verantwortung in Rüstungs- und Friedenfragen, die in den Gesprächen einen breiten Raum einnahmen, zeigte sich die besondere Verflechtung der beiden deutschen Staaten auch bei einer anderen Problematik: der staatlichen Verschuldung der DDR. Bereits im Gespräch mit Vogel erwähnte Schmidt an erster Stelle "die ökonomischen Schwierigkeiten in der DDR und bei uns" sowie die Devisenprobleme der DDR. Hier könne, so Schmidt, "manches getan werden, um das Kreditstanding der DDR auf den internationalen Kapitalmärkten zu erhöhen."
Helmut Schmidt und Erich Honecker bei einem Spaziergang am Döllnsee, 12. Dezember 1981. (© Bundesregierung, B 145 Bild 00005105, Foto: Engelbert Reineke)
Helmut Schmidt und Erich Honecker bei einem Spaziergang am Döllnsee, 12. Dezember 1981. (© Bundesregierung, B 145 Bild 00005105, Foto: Engelbert Reineke)
15 Stunden währten die Gespräche zwischen Schmidt und Honecker. Neben den Vier-Augen-Gesprächen traf man sich zu Delegationsgesprächen, die von Einzelverhandlungen zwischen dem Bonner Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff und Günter Mittag, im SED-Politbüro für Wirtschaftsfragen zuständig, sowie dem Minister für innerdeutsche Beziehungen Egon Franke und dem DDR-Außenminister Oskar Fischer flankiert waren. Bei den genannten strittigen Themen – Mindestumtausch und "Geraer Forderungen" – war man zu keiner Einigung gekommen. Schmidt stellte klar: "Über die Grundsatzfrage der Nation werden wir uns nicht verständigen." Über das, worüber man sich schon im Grundlagenvertrag nicht haben einigen können, werde man sich auch jetzt nicht einigen. Zudem sei er durch Amtseid wie auch aus Überzeugung auf die im Grundgesetz bestehende Aufgabe der Wiederherstellung der deutschen Einheit verpflichtet.
Polnische "Schlagschatten"
Wie angespannt die Lage war, offenbarte sich am Sonntag, dem 13. Dezember 1981: Am frühen Morgen dieses Tages, um 6.00 Uhr rief Ministerpräsident Wojciech Jaruzelski in Polen das Kriegsrecht aus. In dessen Folge ging die polnische Miliz massiv gegen die Gewerkschaft Solidarność und die polnische Oppositionsbewegung vor. Jaruzelski hatte sich am 9. Dezember 1981 auf sowjetischen Druck hin zu dieser Maßnahme entschlossen. Die bundesdeutsche Delegation erfuhr von der Verhängung des Kriegsrechts gegen 6.30 Uhr. Die Nachricht selbst kam für die Bonner Delegation wenig überraschend, überraschend war jedoch der Zeitpunkt, hatten der Bundesregierung doch nachrichtendienstliche Berichte vorgelegen, dass mit einem Eingreifen des polnischen Militärs erst am 17./18. Dezember zu rechnen sei. Kurz vor der Acmsfnbreise des Kanzlers in die DDR noch war versichert worden, es bestehe keine "bedrohliche militärische Veränderung" in Osteuropa.
Eine Abreise, wie sie aus Kreisen der CDU/CSU und insbesondere vom Vorsitzenden der CSU und bayrischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß gefordert wurde, zogen Schmidt und seine Begleiter nicht in Betracht.
Dass Honecker nicht so ahnungslos war, wie es schien, konnte Schmidt damals nicht wissen. Der Generalsekretär kannte zwar nicht den genauen Zeitpunkt der Ausrufung des Kriegsrechtes, war aber – dies zeigen Dokumente aus dem ehemaligen SED-Parteiarchiv – seit dem 10. Dezember informiert, dass damit vermutlich bis zum 15. Dezember 1981 zu rechnen war.
"Eine Stadt ohne Frauen und Kinder"
Auch die folgenden Ereignisse dieses Adventssonntages waren nicht dazu angetan, eine gelöste Stimmung aufkommen zu lassen. Zum Abschluss des Gipfeltreffens zwischen Schmidt und Honecker stand ein Besuch der Stadt Güstrow auf dem Programm. Der ursprüngliche Wunsch Schmidts, seinen Besuch in Rostock enden zu lassen, war von der SED-Führung verworfen worden. Man befürchtete in Ost-Berlin offenbar, die Rostocker Werft- und Hafenarbeiter könnten sich ihre Danziger Kollegen zum Vorbild nehmen, sich gar mit ihnen solidarisieren. Zwar war diese Befürchtung unbegründet, allein das in der DDR-Gesellschaft weit verbreitete antipolnische Ressentiment stand dem entgegen, zudem fehlte eine charismatische Figur vom Schlage Lech Wałęsas. Doch Rostock kam noch aus einem anderen Grund für die SED-Führung und vor allem für das Ministerium für Staatssicherheit nicht infrage: Eine Großstadt war weit schwerer zu kontrollieren als ein kleinerer Ort, wie eben das 38.000 Einwohner zählende Güstrow, auf das die Wahl schließlich fiel. Schmidt war mit der Alternative eines Güstrow-Besuchs durchaus einverstanden. In dieser Stadt hatte der expressionistische und von den Nazis verfemte Bildhauer Ernst Barlach von 1910 bis zu seinem Tod 1938 gewirkt. Schmidt verehrte Barlach und er war ein Bewunderer der norddeutschen Backsteingotik, die mit dem Dom zu Güstrow ein eindrucksvolles Beispiel aufzuweisen hatte.
Was die bundesdeutsche Delegation dann in der mecklenburgischen Kleinstadt erwartete, ließ die Mienen des Kanzlers und seiner Begleiter versteinern. Die Sicherheitsorgane der DDR, allen voran die federführende Staatssicherheit, hatten alle erdenklichen Maßnahmen aufgeboten, um ein "zweites Erfurt" zu verhindern. Schon die Tagungsörtlichkeiten, Schloss Hubertusstock am Werbellinsee und das Gästehaus des DDR-Staatsrates am Döllnsee, waren mit Bedacht gewählt worden. In der Abgeschiedenheit der Wald- und Seenlandschaft am Rande der brandenburgischen Schorfheide waren Sympathiekundgebungen der Bevölkerung von vorneherein ausgeschlossen. Konnte diese Konferenzsituation noch als relativ normal angesehen werden, so bot sich der Bonner Delegation und den zahlreichen westdeutschen Journalisten in Güstrow ein Bild, das als deprimierend, absurd und kafkaesk beschrieben wurde.
Inszenierte Herzlichkeit auf dem Weihnachtsmarkt: Erich Honecker lässt sich im Beisein von Bundeskanzler Helmut Schmidt auf dem Balkon des Güstrower Rathauses bejubeln, 13. Dezember 1981. Neben Schmidt der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Egon Franke. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00084187, Foto: Klaus Lehnartz)
Inszenierte Herzlichkeit auf dem Weihnachtsmarkt: Erich Honecker lässt sich im Beisein von Bundeskanzler Helmut Schmidt auf dem Balkon des Güstrower Rathauses bejubeln, 13. Dezember 1981. Neben Schmidt der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Egon Franke. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00084187, Foto: Klaus Lehnartz)
Als der Kanzler und der Staatsratsvorsitzende im Citroën CX Schloss Hubertusstock am Mittag des 13. Dezember Richtung Güstrow verließen, befand sich die Stadt bereits fest in der Hand der "Einsatzkräfte". Seit 6 Uhr morgens war alles abgeriegelt, im Umkreis von sechs Kilometern ein Sperrring um Güstrow gelegt. In der Stadt selbst hatte die Stasi um die Besuchspunkte und die Protokollstrecke acht Sicherungsbereiche geschaffen, die wiederum in mehrere Abschnitte unterteilt waren. Die Sicherungsbereiche waren an Kontrollpunkten zu passieren. Von 12.30 Uhr durften nur noch Anwohner, Inhaber eines MfS-Ausweises und Journalisten durch die Sperren. Die Führungsstelle befand sich im Güstrower Schloss. Stasi-Chef Erich Mielke ließ es sich nicht nehmen, die Aktion persönlich zu überwachen.
Die andere Seite "deutscher Normalität": Volkspolizisten riegeln am 13. Dezember 1981 die Straßen Güstrows während des Besuchs von Bundeskanzler Helmut Schmidt in der mecklenburgischen Kleinstadt ab. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00100469, Foto: Klaus Lehnartz)
Die andere Seite "deutscher Normalität": Volkspolizisten riegeln am 13. Dezember 1981 die Straßen Güstrows während des Besuchs von Bundeskanzler Helmut Schmidt in der mecklenburgischen Kleinstadt ab. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00100469, Foto: Klaus Lehnartz)
Es bedurfte nicht erst des Zugangs zu den Akten der Staatssicherheit, um diese groteske Veranstaltung als das zu entlarven, was sie war. Zu offensichtlich war die Inszenierung, und es mutete in der Tat kafkaesk an, wenn Erich Honecker gegenüber dem bestellten Publikum der Stasi-Mitarbeiter und ausgesuchten "gesellschaftlichen Kräfte" den "Landesvater" mimte, tatsächlich jedoch "den Angestellten von Herrn Mielke die Hand" gab.
Doch das Misstrauen galt nicht nur diesen aus SED-Sicht problematischen Gruppen und bekannten "Gegnern". Der Operative Einsatzstab legte am 25. November fest, dass zu "allen Anwohnern" der Sicherungsbereiche eine "lückenlose Auskunft" erarbeitet werden müsse. Bei "positiven Personen" genüge ein Satz, bei "negativen" sei eine nähere Einschätzung und die genaue Festlegung von "Sicherungsmaßnahmen" erforderlich. Grundsatz für die Strecke, auf der sich der hohe Besuch bewegen sollte, war: "In der Regel Aufklärung bis 100 m Tiefe; evtl. tiefer", das Ganze gemessen ab Bordsteinkante.
Deutsch-deutsche Gemeinsamkeiten
Angesichts der Güstrower "Staatssicherheits-Show" ("Der Spiegel") bot der Besuch im Dom einen Moment der Kontemplation. Dem mecklenburgischen Landesbischof Heinrich Rathke war daran gelegen, das Verbindende zwischen den Deutschen beiderseits der Grenze herauszustellen. Das fing mit der Sprache an. An Schmidt gewandt, äußerte der Bischof: "Herr Bundeskanzler, ein Mecklenburger würde einen Hamburger am liebsten auf Platt begrüßen." Der Kanzler entgegnete: "Denn man tau", darauf Rathke: "Kamt mal rin und fäult juch woll!" Schmidt lächelte, Honecker sah verständnislos drein und Rathke übersetzte. Die Spannung, so die Erinnerung des Landesbischofs, war gelöst.
Teilnehmer hatten den Eindruck, Rathkes Appell an die gemeinsame Verantwortung sei "beiden Politikern, auch Honecker nahegegangen".
Von Honecker sind vergleichbare Gefühlsregungen anlässlich des Treffens mit Schmidt oder im Rückblick darauf nicht überliefert. Allerdings registrierte Klaus Bölling "starke Gefühle", mit denen Erich Honecker in die Gespräche mit Helmut Schmidt gegangen sei. Am Ende des die Gespräche eröffnenden Essens in Schloss Hubertusstock habe sich Honecker, vom Protokoll abweichend, noch einmal erhoben, dem westdeutschen Gast Respekt und Hochachtung gezollt und über die Perspektiven nachbarschaftlicher Beziehungen "so bewegt" geäußert, dass "seine eigenen Leute sichtlich irritiert waren." Es habe so etwas wie eine "sehr deutsche Grundstimmung" über der Runde gelegen, eine Einschätzung, die jedoch ein weiterer Teilnehmer auf Seiten der DDR-Delegation, Karl Seidel, in seinen Erinnerungen nicht teilt.
Doch der Heimatbezug, das Gesamtdeutsche spielte in der Sicht auf Honecker stets ein Rolle. Honeckers saarländische Heimat war so auch Thema in einem Vier-Augengespräch zwischen dem Generalsekretär und dem Bundeskanzler am Nachmittag des 12. Dezember 1981. Es ging um Wirtschaftsfragen und dabei unter anderem um die Zukunft des Steinkohlebergbaus in der Bundesrepublik. Unweigerlich streiften beide die Situation des saarländischen Bergbaus und der dortigen Stahlindustrie. Die heimatliche Note führte Schmidt ein, als er von einer Begegnung mit einem saarländischen Hauer namens Honecker vor drei Jahren erzählte. Honecker klärte Schmidt auf, dass der Name vor allem in der Gegend seiner Geburtsstadt Neunkirchen vorkomme. Man sprach über die Landesgeschichte und Honecker bedeutete, dass er zu Neunkirchen "laufende Verbindungen unterhalte".
Helmut Schmidts Besuch in der DDR endete am 13. Dezember 1981 am Bahnhof in Güstrow. Selbst für diese Abschiedsszenerie hatte die Staatssicherheit ein Drehbuch entworfen. "Im Bahnhof nur klatschen, nicht rufen 'Auf Wiedersehen!'" – so die Anweisung, festgehalten in einem Gedächtnisprotokoll aus dem Zentralen Operativstab zum Ablaufplan am 13. Dezember 1981.
Erich Honecker reicht Bundeskanzler Helmut Schmidt zum Abschied in Güstrow ein Hustenbonbon, 13. Dezember 1981. Neben Schmidt der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Egon Franke. (© AP)
Erich Honecker reicht Bundeskanzler Helmut Schmidt zum Abschied in Güstrow ein Hustenbonbon, 13. Dezember 1981. Neben Schmidt der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Egon Franke. (© AP)
Das Hustenbonbon, das Erich Honecker Helmut Schmidt vom Bahnsteig ins Zugabteil reichte – jene vielfach illustrierte Szene zum Schmidt-Besuch in der DDR 1981 –, war im Ablaufplan der Stasi nicht vorgesehen. Es spricht für die mitunter im Westen übersteigerte Wahrnehmung solcher Gesten, die in der Entgegennahme des Bonbons durch Schmidt nahezu eine Kumpanei mit dem Kommunismus erkennen wollte.
Die Präsentation Güstrows stellte eines unter Beweis: Die Unfähigkeit der DDR-Führung zu einer offeneren Politik im Innern und nach außen. Die Staatssicherheit, die ihre Aktion mit dem bemerkenswerten Titel "Dialog" als Erfolg resümierte
Der sichtbar gewordene Widerspruch zwischen Realität und Inszenierung veranlasste Klaus Bölling am 17. Dezember 1981, in einem Brief an Helmut Schmidt von einem "aufrüttelnden Signal" für die Bürger der DDR zu sprechen: "Das Gefühl der Zusammengehörigkeit ist durch Ihre Reise gestärkt worden."