Seit Beginn des Überfalls der russischen Armee auf die Ukraine konzentrierte sich der öffentliche Diskurs hierzulande vor allem auf die Frage der Waffenlieferungen und die von Bundeskanzler Scholz verkündete „Zeitenwende“. Zahlreiche Fernseh-Talkshows widmeten sich der Dynamik des Krieges, nicht immer in ausreichender Differenzierung. So wurde die Regierung wegen anfänglicher Zurückhaltung bei der Lieferung schwerer Waffen, die der Abstimmung mit den Verbündeten geschuldet und durchaus begründet war, als zu zögerlich gescholten. Warnungen vor Eskalationsgefahren wurden, ebenso wie kritische Nachfragen zur Verschuldung und massiven Erhöhung der Militärausgaben, als Verrat an der Ukraine betrachtet.
Analysen, die den Krieg in eine übergeordnete globale Konfliktlage einordnen und auf dieser Grundlage nach Ansätzen für Deeskalation suchen, gerieten in den Verdacht, die Verantwortung für den Angriffskrieg zu relativieren. Die empörten Reaktionen sind verständlich, denn schließlich wurde ein Land überfallen und mit entsetzlichen Kriegs- und Menschenrechtsverletzungen überzogen, und es steht außer Frage, wer Täter und wer Opfer ist.
Mit der Zerstörung des Kachowka-Staudamms kam am 6. Juni 2023 eine weitere Katastrophe hinzu, unter der zahllose Zivilist:innen leiden. Es gilt weiterhin, die Ukraine als souveränen Staat zu retten, dessen Zerschlagung die russische Führung explizit ankündigte, und der ein Recht auf Selbstverteidigung hat. Gleichwohl wirft dieser Krieg ethische Fragen auf, für die es keine einfachen Antworten gibt.
Alternativlose Waffenlieferungen und chancenlose Diplomatie?
Neben umfangreichen Sanktionen gelten vor allem Waffenlieferungen an die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 für die Mehrheit der politisch Verantwortlichen in den Nato- und EU-Mitgliedsländern als alternativlos. Gleichzeitig betonen die meisten, dass sie nicht selbst „Kriegspartei“ werden wollen. Allerdings bleiben die Zielsetzungen der militärischen Unterstützung recht „nebulös“, wie Samuel Charap, Politikanalyst bei der RAND-Corporation, in einem Beitrag für Foreign Affairs bemerkt.
Inzwischen fragen sich immer mehr Menschen – auch jenseits des pazifistischen Spektrums –, ob ein mehr an Waffen und eine Fortsetzung des Kriegs auf unbestimmte Zeit die Aussichten für einen „gerechten Frieden“ tatsächlich erhöhen. Zum Jahrestag des Angriffs im Februar 2023 häuften sich die Friedensappelle. Einige ließen leider die klare Aufforderung an die russische Führung, die Truppen aus der Ukraine zurückzurufen, vermissen. Aber manche plädierten auch mit guten Argumenten für friedenslogische Sichtweisen und für eine langfristige kooperative Sicherheitspolitik.
Das Plädoyer für mehr Diplomatie und die Vorbereitung von Verhandlungen wurde in der darauffolgenden Debatte von politischen Akteur:innen oft pauschal mit dem Hinweis zurückgewiesen, die Voraussetzungen dafür seien bis auf Weiteres nicht gegeben, wie zum Beispiel Wolfgang Ischinger (2023) explizit beklagte. Aus dem christlichen Spektrum, in dem über friedensethische Grundlagen seit geraumer Zeit sehr kontrovers diskutiert wird (vergleiche dazu die Übersicht von Thomas Hoppe), gab es neben zahlreichen Solidaritätsbekundungen für die Ukraine daher auch kritische Nachfragen.
Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, betonte in ihrer Osterbotschaft (bei Anerkennung der Notwendigkeit von militärischer Unterstützung), zwar seien Verhandlungsmöglichkeiten im Moment sehr erschwert, „dennoch dürfen wir als Christen zu keiner Zeit sagen, es kann keine Gespräche geben“.
Die Rhetorik von Sieg und Niederlage helfe nicht weiter, meint Marx, sondern heize die Eskalation an. Die politisch Verantwortlichen müssten dem Einhalt gebieten und vermeiden, dass wir „einen Krieg führen, der einen dritten Weltkrieg heraufbeschwört. Wenn man das nicht will, muss man jetzt Szenarien entwickeln, um das zu beenden.“ Gerade weil man Waffen liefere, stehe man in der Pflicht, dies fortlaufend auf Verhältnismäßigkeit und Eskalationsrisiken hin zu prüfen, und nach Möglichkeiten einer Beendigung des Krieges zu suchen: „Wir benötigen eine Exit-Strategie. Man kann nicht dabei stehen bleiben, ständig weiter zu rüsten, ständig Waffen zu liefern und zu glauben, irgendwann käme dann der Frieden. Der Frieden kommt nicht durch Waffen. Er kommt am Ende durch eine Absprache, wie wir einen Weg finden, die Waffen schweigen zu lassen und zu einer politischen Lösung zu kommen, zu einem gerechten Frieden. Das sehe ich so einfach jetzt nicht vor mir. Aber es muss doch alles dafür getan werden, auch hinter verschlossenen Türen, es ist eine Verpflichtung der Politik, jetzt schon zu sprechen. (…) Ich erwarte, dass die Politiker und alle, die irgendeinen Kontakt haben, zwischen der Ukraine und Russland Gesprächsfäden herzustellen, das nutzen.“
Eine Reihe von Expert:innen aus der Diplomatie, aus dem Militär und wissenschaftlichen Einrichtungen machen sich mittlerweile verstärkt Gedanken darüber, wie man die Eskalationsspirale durchbrechen könnte. Einige bedenkenswerte Überlegungen werden in diesem Beitrag vorgestellt und bewertet.
Widersprüchliche Aussagen über Ziele der militärischen Unterstützung
Man kann davon ausgehen, dass sowohl unter den westlichen, die Ukraine unterstützenden Akteuren, als auch über die verfeindeten Linien hinweg auf verschiedenen Ebenen gesprochen wird. Aber worüber und mit welchem Ergebnis hinter verschlossenen Türen kommuniziert wird, ist für die Öffentlichkeit und auch für politische Analyst:Innen extrem schwer zu beurteilen. Insofern sind wir darauf angewiesen, uns anhand der veröffentlichten Statements ein Bild zu machen.
Im Verlauf des Jahres 2022 war der westliche politische Diskurs zunächst stark von dem Argument bestimmt, nur durch militärische Erfolge könne die Ukraine eine gute Position in Verhandlungen erreichen. Der amerikanische Präsident Joe Biden hatte das ausdrücklich als Ziel der amerikanischen Politik beschrieben.
Selten wurde erklärt, was damit genau gemeint ist: die Rückeroberung der von Russland nach dem 24. Februar 2022 besetzten und annektierten Gebiete? Die Vertreibung des russischen Militärs von ukrainischem Territorium, also auch von der Krim? Oder gar die Befähigung der ukrainischen Streitkräfte zu Angriffen auf russisches Staatsgebiet? Die problematischen Dimensionen einer Rhetorik von „Sieg“ und „Niederlage“ hat der Philosoph Jürgen Habermas treffend analysiert.
Zwar hat die Ukraine für eine Rückeroberung der besetzten Gebiete das Völkerrecht auf ihrer Seite. Jedoch ist dies aufgrund der Überlegenheit der russischen Streitkräfte unweigerlich mit großen menschlichen und materiellen Verlusten verbunden. Zudem bergen alle Szenarien massive Eskalationsgefahren, wie der deutsche Brigadegeneral a.D. Helmut Ganser
Im März 2022 hatte Präsident Selenskyj potenzielle Verhandlungsgegenstände benannt, war dann aber unter dem Eindruck massiver Menschenrechtsverletzungen (Butscha, Irpin) und militärischer Teilerfolge davon abgerückt ist und seither auf das Ziel fokussiert, mit einer militärischen Offensive möglichst das gesamte Territorium von der Besatzung zu befreien. Zwar gibt es die Zusage, die von den westlichen Verbündeten gelieferten Waffen nicht für Angriffe auf russisches Gebiet zu nutzen, allerdings sind ukrainische Drohnenangriffe auf Ziele in Russland inzwischen an der Tagesordnung.
Auch die Angriffe, die von Milizen dubioser (oft rechtsextremer) Herkunft aus der Ukraine auf russischem Gebiet gegen russische Streitkräfte verübt werden, sind schwer einzuschätzen.
Ein langer Abnutzungskrieg ist wahrscheinlich
Trotz beharrlicher Verteidigungsanstrengungen und zahlreicher Teilerfolge wird die Möglichkeit, dass die Ukraine die russische Führung militärisch zur Aufgabe und zum Abzug aller Kräfte von ihrem Territorium zwingen könnte, als nicht sehr realistisch eingeschätzt. Ranghohe amerikanische Militärs, unter anderem Generalstabschef Mark Milley, sprechen seit Ende 2022 von einer militärischen Pattsituation, in der weder Russland noch die Ukraine den Krieg militärisch entscheiden können, und die unweigerlich einen langjährigen, verlustreichen Stellungskrieg nach sich ziehen wird. Auch in Deutschland wird diese Einschätzung von namhaften Militärexperten geteilt Helmut Ganser.
Sanktionen in den Bereichen Finanzen, Wirtschaft und Technologie sind weiterhin erforderlich, um Druck auf Russland auszuüben. Aber sie konnten das Putin-Regime kurzfristig noch nicht zum Einlenken bewegen. Zwar gibt es offenbar Einbußen in der Wirtschaftskraft, wie der US-Reporter Evan Gershkovich
Die Verantwortung für den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg sei klar bei der russischen Führung zu verorten. Gleichwohl seien westliche Regierungen gut beraten, wenn sie der ukrainischen Regierung signalisierten, sich Gesprächen nicht zu verweigern, so Zumach: „Es geht nicht darum, der Ukraine zu sagen, worüber sie zu verhandeln hat und wo sie Konzessionen machen soll. Aber auf der anderen Seite wissen wir doch, was die Verhandlungsgegenstände sind. Sie lagen am 29. März 2022 auf dem Tisch und wurden von Selenskyj und der ukrainischen Regierungsdelegation vorgelegt. Das sind die Kernfragen: die Nato-Mitgliedschaft, die Frage des künftigen Status des Donbass, die Krim, und verlässliche Sicherheitsgarantien.“ Um hier weiterzukommen, meint Zumach, brauche es auch Signale aus Washington.
Vorschläge aus amerikanischen Thinktanks: Das Kriegsende vorbereiten
Schon im Frühjahr 2022 lieferten einige amerikanische Politikwissenschaftler:innen recht differenzierte Analysen. Thomas Graham (Council on Foreign Relations, New York) und Rajan Menon (City University of New York) äußerten in Foreign Affairs die Einschätzung, dass sich der Krieg gegen die Ukraine sehr lang hinziehen und sich die Zahl der Toten und Zerstörungen erhöhen würde. Damit steige das Risiko einer Ausweitung des Kriegs und auch die Gefahr, dass die USA und die Nato-Alliierten in eine bewaffnete Konfrontation mit Russland hineingezogen werden könnten. Graham und Menon forderten eine Verstärkung des diplomatischen Engagements, das sich kurzfristig auf humanitäre Versorgung und längerfristig auch auf eine politische Übereinkunft richten müsse.
Es sei das Recht der Ukraine, die Bedingungen dafür zu definieren, stellten Graham und Menon klar.
Die mögliche Nato-Mitgliedschaft der Ukraine stehe im Zentrum einer solchen Debatte – Putin werde seinen Widerstand gegen den Beitritt nicht aufgeben. Graham und Menon empfehlen auszuloten, ob der Kreml die militärische Kooperation einer neutralen Ukraine mit westlichen Ländern akzeptieren würde, die eine Selbstverteidigung ermögliche, aber gleichzeitig die Dislozierung von Nato-Kampftruppen, -Waffen oder -Stützpunkten in der Ukraine ausschließe. Im Gegenzug müsse Russland auf die Stationierung militärischer Arsenale im Grenzgebiet verzichten. Zu ernsthaften Verhandlungen und Konzessionen wären die Kriegsbeteiligten vermutlich erst dann bereit, wenn sie zu dem Schluss kommen, dass eine Fortsetzung der Kampfhandlungen mit höheren Kosten verbunden wäre als die Zugeständnisse, die ihnen eine diplomatische Regelung abverlangen würde. Auf eine solche Situation müsse man sich – anknüpfend an die Vorschläge der ukrainischen Regierung vom März 2022 – vorbereiten.
In ähnliche Richtung argumentieren aktuelle Beiträge, etwa von Tapio Kanninen (Vorsitzender von Global Crisis Network, New York) und Heikki Patomäki (Professor für Weltpolitik und internationale Volkswirtschaft an der Universität Helsinki). Sie empfehlen, praktikable Bedingungen für ein Abkommen auszuarbeiten, das beiden Ländern mehr Vor- als Nachteile verspricht. Die Ukraine, so Kanninen und Patomäki, könne „nur mithilfe des Westens und insbesondere der USA vom Sinn von Verhandlungen überzeugt werden“, und sie benötige dafür konkrete Garantien. Ein Abkommen müsse sicherstellen, dass die russische Invasion nicht belohnt wird und ein möglicher Vertrag nicht zur Destabilisierung des internationalen Systems führt. Mit Blick auf Russland müsse man jedoch auch „anerkennen, dass seine Sicherheitsinteressen (…) legitim und mehrere seiner früheren und aktuellen Forderungen nicht aus der Luft gegriffen sind.“
Im Dezember 2021 hatte Moskau den USA und der Nato dazu Vertragsentwürfe vorgelegt, die abgelehnt wurden.
Ein solcher Vertrag müsse Vereinbarungen zum Abzug atomwaffenfähiger Raketen, vertrauensbildende Maßnahmen zur Begrenzung der Truppenstärke und internationale Vereinbarungen über die umstrittenen russisch-ukrainischen Grenzen umfassen. Außerdem, so schlagen Kanninen und Patomäki vor, müsse man ernsthaft über die Möglichkeit von entmilitarisierten Zonen unter der Obhut der Vereinten Nationen für längere Zeiträume nachdenken. Verhandlungen sollten möglichst von Staaten, die aus der Sicht der Ukraine und Russlands nicht direkt am Konflikt beteiligt sind, angebahnt werden. Ziel könnte ein vom UN-Sicherheitsrat verkündeter Waffenstillstand sein, mit dem gleichzeitig eine UN-Friedenstruppe mandatiert wird. Auf dieser Grundlage könnten dann vertrauensbildende Maßnahmen etabliert werden, um Fragen wie jene über den Status der Ukraine und offizielle Abrüstungsverhandlungen zu initiieren.
In den US-amerikanischen Denkfabriken gibt es weitere bedenkenswerte Studien und Analysen. Wissenschaftler:innen am Institute for the Study of War analysieren das Kriegsgeschehen fortlaufend anhand ukrainischer, russischer und internationaler Quellen.
„Avoiding a long war“ – Eine Studie der RAND Corporation
Besonders aufschlussreich erweist sich die RAND-Studie von Samuel Charap und Miranda Priebe.
Eine weitere Gefahr sehen die Autor:innen im möglichen Einsatz taktischer Atomwaffen von russischer Seite. Diese Gefahr dürfe man nicht herunterspielen, sondern man müsse sie sehr ernst nehmen, denn unter russischen Kommandeuren sei diese Möglichkeit angesichts von Verlusten im Herbst 2022 durchaus diskutiert worden. Die Einschätzung, dass Russland vom Einsatz von Atomwaffen aus eigenem Interesse absehen würde, verkenne, dass dieser Krieg für das Regime inzwischen nahezu existenzielle Bedeutung habe, und dass es bereit sei, einen hohen Preis zu zahlen, erst recht, falls es bei den konventionellen Kapazitäten (trotz der Überlegenheit an Personal) Engpässe geben sollte. Der Einsatz taktischer Atomwaffen wiederum könnte einen umfassenden Nuklearkrieg zwischen Russland und der Nato nach sich ziehen.
Weiterhin hinterfragen Charap und Priebe
Die Autor:innen kommen zu dem Schluss, Moskau werde versuchen, inzwischen besetzte Gebieten zu behalten, einen militärischen Sieg über die Ukraine jedoch nicht mehr erzielen können. Ein militärischer Sieg der Ukraine, der mit einer Rückeroberung aller besetzten Regionen ende, sei ebenfalls sehr unwahrscheinlich. Selbst wenn es den ukrainischen Streitkräften gelänge, alle Gebiete einschließlich der Krim zurückzugewinnen, habe Putin die Eskalationsdominanz mit Luftwaffe und Marine, die in diesem Krieg noch kaum Verluste erfuhren. Man solle sich vor Augen führen, so Charap und Priebe, dass ein länger andauernder Krieg weitere menschliche Verluste, Leid für die ukrainische Bevölkerung und einen ökonomischen Niedergang mit sich bringen würde. Auch die Kosten für Europa und den globalen Süden durch Inflation und Lebensmittelengpässe seien in Rechnung zu stellen. Daher solle die amerikanische Regierung darauf hinwirken, dass ein langandauernder Krieg vermieden wird. Es brauche Verhandlungen, um einen Waffenstillstand zu erwirken. Die Aussichten dafür stünden kurzfristig schlecht, dennoch müsse man sich bemühen, dorthin zu gelangen.
Zugleich unterscheiden die Autor:innen klar zwischen Waffenstillstandsabkommen (armistice agreements) und politischen Abkommen (political settlements). Ähnlich wie im Koreaabkommen (1953) oder im Abkommen zwischen Moldau und Transnistrien (1992) könne man die Gewalt durch demilitarisierte Zonen stoppen, mit dem Ergebnis weitgehend geschlossener und militarisierter Grenzen, ohne dass die Konfliktursachen und gegenläufigen politischen Interessen verhandelt würden. Damit würde man den Krieg längerfristig einfrieren. Strebe man stattdessen ein politisches Abkommen an, wären Kompromisse in den strittigen territorialen und geostrategischen Fragen auszuhandeln. Die bilateralen Verhandlungen, die im März 2022 im Istanbul-Communiqué mündeten, hätten die relevanten Themen benannt. Die Erwartungen Russlands erstrecken sich auf die Neutralität der Ukraine, und das Hauptinteresse der Ukraine liege auf westlichen Sicherheitsgarantien.
Charap und Priebe weisen zudem darauf hin, dass sich politische Abkommen in der Regel als dauerhafter erwiesen, aber viel schwerer zu erreichen seien. Ein politisches Abkommen würde regionale Stabilität ermöglichen und eine Behandlung von Fragen, die die Sicherheitsarchitektur im Eurasischen Raum betreffen. Aber man könne auch zunächst über Wiederaufbau, Aspekte des Handels, Personen- und Güterverkehr verhandeln, während die komplexen territorialen Fragen in einem späteren Schritt behandelt werden: „A political settlement does not have to definitely resolve all the differences between the parties; it does need to address enough of these differences to qualitatively improve the broader relationship between the belligerents“.
Die USA selbst könnten den Krieg zwar nicht verkürzen, aber durchaus Schritte ergreifen, um seine Beendigung zu unterstützen: „Avoiding a long war requires efforts to spur talks. And the United States could take steps to address key impediments to starting them“.
Hindernisse sehen Charap und Priebe allerdings in der Annahme sowohl auf russischer als auch auf ukrainischer Seite, dass sich die Dynamik des Krieges zu den jeweils eigenen Gunsten entwickele, und dass man über das längere Durchhaltevermögen verfüge. Zudem gebe es auf beiden Seiten großes Misstrauen, ob die andere Seite ein Abkommen auch einhalten würde. Um dem zu begegnen, könnten die USA gemeinsam mit anderen Staaten auf demilitarisierte Zonen hinwirken. Gleichzeitig müssten sie verbindliche Festlegungen über die zukünftigen Sicherheitsgarantien und militärische Unterstützung jenseits einer Nato-Mitgliedschaft ausbuchstabieren.
Als Vorbild für Sicherheitsgarantien nennen Charap und Priebe die umfassenden Zusagen, die die USA gegenüber Israel verbrieft haben, um dessen Zustimmung zum Frieden mit Ägypten zu erhalten. (Anm. der Autorin: Eine solche Variante wurde vom amerikanischen Präsidenten Joe Biden beim jüngsten Nato-Treffen in Vilnius bereits in Erwägung gezogen). Solche Garantien wären unterhalb von Beistandsverpflichtungen angesiedelt, könnten aber sehr weitreichende Formen annehmen, und man könne sie mit langfristiger militärischer und ökonomischer Unterstützung verknüpfen. Allerdings wären Sicherheitsgarantien für die Ukraine wiederum für den Kreml akzeptabler, wenn sie nicht nur von den USA, sondern auch von weiteren, nicht in die westliche Allianz eingebundenen Staaten getragen würden. Auch die G7-Staaten hätten bei ihrem Treffen im Juli 2022 bereits in Aussicht gestellt, dass sie zur Unterstützung im Falle eines erneuten Angriffs nach einem Waffenstillstand bereit wären.
Noch würden Russland und die Ukraine eine Fortsetzung des Kampfes positiver einschätzen als einen Friedensschluss. Die US-Regierung solle versuchen, die Dynamik zu beeinflussen, indem sie ihre Bereitschaft zur zukünftigen militärischen Unterstützung erklärt und Sicherheitsgarantien im Falle einer Neutralität des Landes und Bedingungen für die Lockerung von Sanktionen formuliert (Charap and Priebe).
Ein Krieg, der nicht gewonnen werden kann
Die Thesen aus der genannten Studie hat Samuel Charap in einem Beitrag für Foreign Affairs nochmals zugespitzt.
Das Argument, dass die ukrainische Regierung soeben eine Frühjahrsoffensive gestartet habe, lässt Charap nicht gelten. Denn selbst wenn sie erfolgreich wäre und die Frontlinie nochmals verschieben könnte, würde sie den Krieg nicht beenden. Weitere Mobilisierungsrunden könnten folgen, Bombardements ukrainischer Städte – oder auch eine Stillhaltetaktik, um zu einem späteren Zeitpunkt wieder anzugreifen. Oft würden Staaten weiterkämpfen, auch wenn sie ihre Ziele nicht mehr erreichen können. Unter Verweis auf Studien des Center for Strategic and International Studies und der Universität Uppsala belegt Charap, dass etwa 50 Prozent aller zwischenstaatlichen Kriege maximal ein Jahr dauern. Kriege, die nicht in diesem Zeitraum beendet wurden, erstreckten sich im Schnitt über mehr als eine Dekade – wie beispielsweise der Iran-Irak-Krieg, der fast eine halbe Million tote Soldaten und ebenso viele Verwundete mit sich brachte. Es gelte, die Ukraine vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren.
Unabhängig davon, wie viel Territorium die ukrainischen Streitkräfte wiedergewinnen, werde Russland die Fähigkeit behalten, die Ukraine fortlaufend zu bedrohen. Gleichzeitig werde die Ukraine weiterhin die Fähigkeit besitzen, russisch besetzte Gebiete anzugreifen und auch militärische und zivile Ziele in Russland ins Visier zu nehmen. Ein langwieriger und zerstörerischer Konflikt wäre die Folge. Auf dieses Szenario müssten sich die USA einstellen: „An effective strategy (…) requires the United States and its allies to shift their focus and start facilitating the endgame.“
Auch wenn kurzfristig kein politisches Friedensabkommen vorstellbar sei, sei zumindest eine bilaterale Waffenstillstandsvereinbarung wünschenswert. Der Waffenstillstand zwischen Nord- und Südkorea habe seit 1953 gehalten, obwohl beide Länder das Territorium der gesamten Halbinsel weiterhin für sich beanspruchen. Man könne der Ukraine keine Bedingungen diktieren. Dennoch sollten Diskussionen über eine Kriegsbeendigung zwischen den USA, den Verbündeten und der Ukraine rasch und parallel zur militärischen Unterstützung beginnen, um eine gemeinsame Vision zu entwickeln. Es brauche Monate, um zwischen der Ukraine, der US-Regierung und den Verbündeten eine gemeinsame diplomatische Strategie zu entwickeln. Je eher man die Diskussion beginne, desto besser.
Anders als die beiden „Minsker-Abkommen“,
Diplomatische Foren und juristisch fundierte Konzepte sind notwendig
Auch hierzulande gibt es Empfehlungen, sich frühzeitig und fachlich fundiert auf Verhandlungen vorzubereiten. Im März 2023 erregte Wolfgang Ischinger, Staatssekretär und Botschafter a.D. sowie langjähriger Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Aufmerksamkeit mit seiner Forderung, Deutschland müsse sich angesichts des russischen Angriffskriegs auf eine „Kriegswirtschaft“ einstellen. Dieses Anliegen wurde kontrovers diskutiert und von vielen als unpassend kritisiert. Weniger bekannt wurden seine Vorschläge zur Ausarbeitung fachlicher Konzepte, um einer Beendigung des Krieges näher zu kommen. Am 12. März 2023 veröffentlichte Ischinger konkrete Vorschläge für die Vorbereitung eines diplomatischen Prozesses.
Diese Gruppe solle auf Außenministerebene zusammentreten, einzelne Gespräche könnten an hohe Beamte oder Botschafter delegiert werden. Staaten des Globalen Südens – zum Beispiel Brasilien, Indien und China – sollten in einem weiteren Kreis mitwirken. Angesichts der russischen Veto-Blockade im UN-Sicherheitsrat könne so „eine gewisse Ersatz-Legitimität durch eine möglichst breite internationale Beteiligung“ hergestellt werden.
Die Gruppe solle die Modalitäten eines möglichen Waffenstillstands abstimmen und klären, welche Textentwürfe erforderlich sind, wie ein Friedensprozess überwacht werden kann, zum Beispiel durch die Vereinten Nationen oder die OSZE, und ob eine militärische Pufferzone nötig ist. Gleichzeitig müssten schon jetzt Bestandteile einer möglichen längerfristigen Friedenslösung skizziert werden: „Falls es der Ukraine nicht gelingen sollte, die Krim militärisch zu befreien, welche verschiedenen Szenarien böten sich für die Behandlung des Gebiets? (…) Hätten mehrere Staaten die Kontrolle über das Gebiet? Sollten die Bewohner der Krim in einem Referendum über ihre Zugehörigkeit entscheiden? Sollte man die Frage der Krim erst einmal ausklammern? Ähnliche Fragen könnten sich je nach Entwicklung der militärischen Lage für die Gebiete im Donbass oder Teile davon stellen.“
Auch über Sicherheitsgarantien müsse man sich verständigen: „Bleibt die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine auf der Tagesordnung? Oder wird der ukrainische Verzicht, den der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Frühjahr 2022 andeutete, doch wieder zum Verhandlungsgegenstand? Wie könnten für einen solchen Fall alternative Sicherheitsgarantien der USA und anderer Nato-Partner möglichst glaubwürdig ausgestaltet werden?“ Außerdem müsse über Wiederaufbau, Reparationen, internationale Gerichtsbarkeit und Strafverfolgung von Kriegsverbrechen gesprochen werden, und es seien Überlegungen zur Neugestaltung einer verlässlicheren und dauerhaften europäischen Sicherheitsordnung notwendig. Dafür müsse ausgelotet werden, ob und wie nukleare und konventionelle Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen wiederbelebt werden könnten – und auch vertrauensbildende Maßnahmen, beispielsweise das Wiener Dokument über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen (2011),
Hier geht es zum zweiten Teil des Beitrages von Martina Fischer >>
Weiterer Beitrag von Martina Fischer im Deutschland Archiv:
Zitierweise: Martina Fischer, „Wie ist dieser Krieg zu deeskalieren und zu beenden? Teil 1“, in: Deutschland Archiv, 27.07.2023, Link: www.bpb.de/523377