Von den USA nach Deutschland. Sichtbarmachung jüdischer Perspektiven im transatlantischen Kontext
Sharon Adler: Du bist in St. Louis (USA) aufgewachsen und in einem traditionellen jüdischen Elternhaus großgeworden. Mit welchen Gefühlen bist du 1984 nach Deutschland gekommen und wie hat deine Familie darauf reagiert? Gibt es einen familienbiographischen Bezug zu Deutschland?
Deidre Berger: In meiner Familie gab es keine Verbindungen nach Deutschland, meine Eltern und meine Urgroßeltern stammen wie viele jüdische Menschen in den USA aus Osteuropa. Dennoch waren die Vorbehalte gegenüber Deutschland groß und reichten bis zur Ablehnung. Wie viele andere auch wollten meine Eltern zum Beispiel keine deutschen Produkte kaufen. Deswegen war für mich als junge Journalistin nach Deutschland zu kommen die Idee zwar verlockend, aber ich kam auch mit einem Gefühl der Beklemmung. Dass Köln in der Nähe von Belgien und Frankreich liegt, hat mich sehr beruhigt.
Sharon Adler: Als Auslandskorrespondentin hast du 15 Jahre lang über deutsche und europäische Angelegenheiten berichtet. 1996 hast du für das National Public Radio den Beitrag „Goldhagen Does Germany“
Deidre Berger: Ich war schon einige Jahre in Deutschland, als die Kontroverse
Sharon Adler: Das Buch von Goldhagen ist viele Jahre nach der Ausstrahlung der US-Serie „Holocaust“ erschienen. Was hat das im Bewusstsein und Verständnis der nichtjüdischen Zivilgesellschaft in Deutschland verändert?
Deidre Berger: Es gab mehrere Stufen dieses Veränderungsprozesses. Der erste Schritt in diese Richtung war die Ausstrahlung der US-Serie Holocaust,
Sharon Adler: Wie hast du die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit, der Post-Shoah-Zeit und mit jüdischen Themen im gesamtgesellschaftlichen Kontext wahrgenommen?
Deidre Berger: Es war eine sehr widersprüchliche Auseinandersetzung. Ich habe im Großen und Ganzen wenig Selbstreflexion von „normalen“ Deutschen über ihre Rolle während der NS-Zeit gehört. Andererseits habe ich viele engagierte Aktivist*innen, Menschen in verschiedenen Zusammenhängen, kennengelernt, die sich mit der jüdischen Geschichte beschäftigt haben und dadurch erfahren, dass es doch etwas mehr inneren Widerstand gegen das Nazi-Regime gegeben hat, als ich dachte. Das hat meine Sicht etwas differenziert, als ich gesehen habe, dass sich die Deutschen zwar mit der NS-Zeit noch nicht wirklich konfrontiert haben, aber dass es Leute gibt, die sich damit ernsthaft auseinandersetzen. Das fand ich sehr positiv.
Sharon Adler: 1989 hast du für das National Public Radio über den Fall der Berliner Mauer berichtet.
Deidre Berger: Vor der Wende, 1985, habe ich versucht, ein DDR-Visum zu bekommen, weil ich einen Rundfunkbeitrag über die Bombardierung von Dresden machen wollte und selbst von dem Ort aus berichten wollte. Obwohl ich das Visum nicht bekommen habe, gelang es mir, einige Zeitzeug*innen zu finden. Durch die Gespräche mit ihnen habe ich erfahren, dass es in Ostdeutschland häufig eine totale Ablehnung der Verantwortung für den Holocaust gab.
Und zum Mauerfall: Ich hatte das Glück, in dieser Nacht in Berlin gewesen zu sein. Es war überwältigend. Die Freudentränen habe ich nicht geteilt, aber ich konnte die unglaublichen Emotionen der Menschen sehr gut nachvollziehen. Trotzdem war da immer dieses Gefühl, ob das gut gehen und was passieren würde. An dem Abend wussten wir zwar nicht, dass Deutschland vereinigt wird, aber dass sich etwas Grundlegendes in der Geopolitik verändert, das war klar. Es waren verwirrende Emotionen an diesem Abend: Freude, gemischt mit Ängsten, Zweifeln, Befürchtungen.
Sharon Adler: Gab es in deinem jüdischen Umfeld Stimmen, die diese Befürchtungen vor einem neu aufkommenden Nationalismus ausgesprochen haben?
Deidre Berger: Absolut. Die Sorge der jüdischen Gemeinschaft vor einem Deutschland, das militaristisch und nationalistisch wird, war sehr stark. Ich habe mit einigen Menschen gesprochen, die sich fragten, ob sie weiterhin in Deutschland leben könnten. Sie hatten Angst davor, dass der Antisemitismus wieder in großem Ausmaß präsent sein würde. Sie haben sich bis dahin geschützt gefühlt, weil sie auf der anderen Seite der Mauer gelebt haben.
Die Mauer war die Garantie, dass sich Westdeutschland in den Westen integriert. Aber andererseits mussten diejenigen, die im Westen wie im Osten groß geworden sind, auch erleben, dass die Verantwortung für den Holocaust nur teilweise übernommen wurde, meist aus einem Pflichtgefühl heraus. Für viele Juden und Jüdinnen, die hier aufgewachsen sind, gab es ein Gefühl der Unsichtbarkeit. Solange man nichts gesagt hat und unter sich geblieben ist, war alles okay. Aber wenn man die jüdische Stimme zu sehr erhob, kam gleich die Sorge auf, was das für die jüdische Gemeinschaft bedeuten würde.
Deswegen war diese Nacht für fast alle in der jüdischen Welt, mit denen ich damals und später gesprochen habe mit sehr gemischten Gefühlen verbunden. Leider hat der Antisemitismus danach stark zugenommen. Es gab zwar die Mauer nicht mehr, aber eine Mauer in den Köpfen. Damit leben wir noch bis heute, und das wird leider immer stärker, wenn wir an die extreme Rechte denken.
Es ist interessant, dass auch meine Freundinnen aus anderen Herkunftsländern am Abend des Mauerfalls große Angst hatten. Wir waren nicht die Einzigen, die besorgt waren.
Die Zeit beim American Jewish Committee (AJC) in Berlin und beim AJC Europe
Sharon Adler: 1999 kamst du zum American Jewish Committee (AJC) Berlin
Deidre Berger: Als ich zum AJC gekommen bin, waren die Nachwirkungen des Mauerfalls noch sehr präsent sowie der stärker werdende Antisemitismus und Rassismus. Außerdem standen die zukünftige politische Rolle von Deutschland in Europa, die Beziehung zu den USA und immer wieder die Beziehung zu Israel im Fokus. Der Iran und Deutschlands Unterstützung für Nahost-Regime spielten unter anderem auch eine große Rolle. Außerdem ging es um die – für das damalige Verständnis – große Zahl an Flüchtlingen, die nach Deutschland kamen, und wie man sie integriert.
Sharon Adler: Welche Projekte hast du während deiner Zeit beim AJC initiiert und betreut?
Deidre Berger: Es hat angefangen mit den großen Themen Antisemitismus und Rechtsextremismus und der Frage, wie wir insbesondere junge Leute erreichen können. Uns war klar, dass das Basisarbeit war, denn auch wenn Deutschland schon eine gefestigte Demokratie war – die NS-Zeit war ja noch nicht so lange her. Wir wussten, dass es Programme und Ideen aus den USA gab, die wir adaptieren konnten. Das AJC hat zusammen mit LISUM, dem Landesinstitut für Schulen und Medien in Berlin und Brandenburg, und dem Berliner Senat das Demokratiebildungs-Programm „Hands Across the Campus“
Wir haben erkannt, was gefehlt hat: Eine zentrale Instanz, um die verschiedenen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen zusammenzubringen. Daher haben wir ein Tolerance-Education-Netzwerk ins Leben gerufen. Später dann die „Taskforce Education on Antisemitism“.
Später haben wir mit Hilfe des Deutschen Bundestags und des Auswärtigen Amtes das „Protecting Memory-Projekt“
Dann hat der Vorstand der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Deutschland das Programm übernommen und bis zum Krieg in der Ukraine weitere Gedenkstätten aufgebaut und betreut. Jetzt gibt es ein virtuelles Netzwerk
Außerdem haben wir eine besondere und langjährige Beziehung zur Bundeswehr aufgebaut und unter anderem Reisen für Offiziere nach Israel organisiert.
Wir leisteten viel Arbeit im transatlantischen Bereich, sowohl im Bereich deutsch-israelische Beziehungen, etwa durch Austauschreisen für Entscheidungsträger*innen, Konferenzen, Gesprächskreise, und gemeinsam verfasste Artikel. Außerdem haben wir viele Netzwerke etabliert und Partnerschaften mit Stiftungen, zivilgesellschaftliche Organisationen und Akteur*innen aus der Politik und Regierung. Das AJC ist überparteilich, was sehr wichtig ist. Als amerikanisch-jüdische Organisation konnten wir die jüdische Gemeinschaft in Deutschland gut erreichen und ihre Anliegen unterstützen. Das AJC wurde hauptsächlich von Juden und Jüdinnen deutscher Herkunft gegründet. Daher ist den amerikanischen Juden der deutsch-jüdische Dialog bis heute sehr wichtig. Es ist ein Teil unserer gemeinsamen jüdischen Geschichte.
Deidre Berger war von 2000 bis 2020 Direktorin des Lawrence und Lee Ramer Institute for German-Jewish Relations des AJC Berlin und Senior European Affairs Advisor des AJC Europe. Deidre Berger: „Das AJC wurde hauptsächlich von Juden und Jüdinnen deutscher Herkunft gegründet. Daher ist den amerikanischen Juden der deutsch-jüdische Dialog bis heute sehr wichtig.“ (© American Jewish Committee Berlin, Foto: Amin Akhtar, 2013)
Deidre Berger war von 2000 bis 2020 Direktorin des Lawrence und Lee Ramer Institute for German-Jewish Relations des AJC Berlin und Senior European Affairs Advisor des AJC Europe. Deidre Berger: „Das AJC wurde hauptsächlich von Juden und Jüdinnen deutscher Herkunft gegründet. Daher ist den amerikanischen Juden der deutsch-jüdische Dialog bis heute sehr wichtig.“ (© American Jewish Committee Berlin, Foto: Amin Akhtar, 2013)
Sharon Adler: In deiner Broschüre „AJC and Germany: History in the Making 1945 - 2020“ berichtest du über bedeutende historische Ereignisse und deren Einfluss auf die jüdische Gemeinschaft. Worin siehst du heute Erfolge, aber auch mögliche Defizite oder Intensivierungsbedarfe in der Stärkung der amerikanisch-deutsch-israelischen Beziehungen und der Festigung der transatlantischen Partnerschaft?
Deidre Berger: Dass man sich in Deutschland mehr mit dem Holocaust beschäftigt, ist ein Fortschritt. Trotzdem darf man die Zeichen von immer häufiger vorkommender Holocaustrelativierung und Verharmlosungen nicht übersehen. Es gibt eine Vielzahl von wichtigen gesellschaftlichen Themen, die wir anstoßen konnten: über transatlantische und jüdische Themen bis hin zu Osteuropa und Nahost. Ich glaube, wir haben gute Kooperationen auf den Weg gebracht.
Was mich am meisten in dieser Zeit beeindruckt hat, war die wachsende Zahl von zivilgesellschaftlichen Organisationen. Insgesamt spielt Deutschland in dieser Hinsicht eine vorbildliche Rolle, auch international. Deutschland konnte nach 1945 zwar eine Demokratie wiederaufbauen, doch der Beitrag der jüdischen Philanthrop*innen fehlt bis heute. Juden und Jüdinnen waren vor 1933 im sozialen, im politischen und im Kulturbereich außerordentlich engagiert und haben in großer Zahl Stiftungen und Organisationen gegründet. Das ist nicht wieder herstellbar. Es wurde ein Stück deutsche Geschichte vernichtet.
Sharon Adler: Gibt es bestimmte historische Ereignisse oder Programme des AJC, die du in dem Kontext hervorheben möchtest?
Deidre Berger: Im Jahr 2006 gab es eine gemeinsame Externer Link: Konferenz über die von der iranischen Regierung propagierte Holocaustleugnung, die von uns initiiert und von der Bundeszentrale für politische Bildung ausgerichtet wurde. Sie fand parallel zu dem grotesken iranischen „Wettbewerb“ für Karikaturen über den Holocaust statt. Wir haben auch auf Bundesebene immer wieder auf problematische und antisemitische Organisationen aufmerksam gemacht, auf Widersprüche und auf Konsequenzen in der Politik hingewiesen und Ursachenforschung betrieben. So haben wir gegen den unsäglichen Al-Quds-Aufmarsch protestiert und strengere Auflagen gegen antisemitische Parolen und Plakate bewirken können. In Berlin haben wir mehrere Jahre lang mit der Polizei und der Bundeswehr Seminare über jüdisches Leben und Antisemitismus vorbereitet und durchgeführt.
Restitution. Washingtoner Erklärung. Luxemburger Abkommen. Das Jewish Digital Cultural Recovery Project
Sharon Adler: In deine Amtszeit beim AJC Berlin und AJC Europe fielen der 50. Und der 60. Jahrestag des Luxemburger Abkommens
„70 Jahre Luxemburger Abkommen“. Dokumente von Korrespondenzen und Berichten der Jewish Claims Conference und der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahr 1952. Die Fotos wurden anlässlich der Gedenkveranstaltung im September 2022 zum 70. Jahrestag der Unterzeichnung des Luxemburger Abkommens im Jüdischen Museum zu Berlin aufgenommen. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
„70 Jahre Luxemburger Abkommen“. Dokumente von Korrespondenzen und Berichten der Jewish Claims Conference und der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahr 1952. Die Fotos wurden anlässlich der Gedenkveranstaltung im September 2022 zum 70. Jahrestag der Unterzeichnung des Luxemburger Abkommens im Jüdischen Museum zu Berlin aufgenommen. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Deidre Berger: Das Abkommen hat es ermöglicht, dass Israel eine Infrastruktur aufbauen konnte, denn es war nach den Kriegen, die mehrere arabische Länder nach der Unabhängigkeit gegen Israel geführt haben, fast pleite. Die Haltung der Menschen gegenüber dem Geld aus Deutschland war ambivalent, was sehr verständlich ist, aber es war lebenswichtig. Das Abkommen stellte aber auch den Anfang von der Anerkennung des Leids, das die Überlebenden erlitten hatten, dar. Als Mitglied der Claims-Conference hat das AJC in der Frage der Entschädigung eine wichtige Rolle gespielt. Das AJC hat mit einer sehr guten Kampagne auch dazu beigetragen, dass osteuropäische Holocaust-Überlebende eine kleine Rente erhielten, und gemeinsam mit der Claims Conference nach dem Mauerfall dafür gesorgt, dass die Überlebenden in die Abkommen mitaufgenommen wurden.
Ich glaube, das Verhandlungsgeschick meines Kollegen beim AJC, zusammen mit weiteren jüdischen Vertreter*innen und Holocaust-Überlebenden, hat bei verschiedenen Aspekten von Entschädigungsfragen sehr geholfen. In den vergangenen Jahren insbesondere beim Thema Homecare, weil die Überlebenden immer älter werden und eine andere Art von Hilfe brauchen. In den 1990er-Jahren wurde auch die Sklavenarbeit in den Blick genommen. Ein paar große Firmen waren bereit, ihre Zwangs- und Sklavenarbeiter*innen zu entschädigen. Aber das war oft zu spät für individuelle Entschädigungen, weil viele schon gestorben waren, oder nicht ausfindig gemacht werden konnten, oder die Überlebenden Nachweise über ihre beruflichen Qualifikationen und Abschlüsse oftmals nicht vorweisen konnten.
Nach Jahren zäher Verhandlungen haben die Bundesregierung und Vertreter der deutschen Industrie ein Abkommen mit jüdischen Organisationen unterzeichnet, das eine individuelle Entschädigung für ehemalige NS-Sklaven- undExterner Link: Zwangsarbeiter*innen weltweit garantiert hat. Die Verhandlungen über deren Entschädigungen habe ich schon sehr früh in meiner journalistischen Arbeit aufgegriffen, weil ich es entsetzlich fand, dass man für sie immer noch keine Entschädigungen gezahlt hatte. Es war vor allem wichtig, eine Art moralische Gerechtigkeit für die Menschen, die gelitten hatten, herzustellen. Das Finanzielle war mehr symbolisch.
Eine wichtige Grundlage für die Unterzeichnung des Abkommens war eine Liste des AJC-Berlin über Hunderte von Firmen in Deutschland, die Zwangs- und Sklavenarbeiter*innen beschäftigt hatten. Diese Liste habe ich sofort nach meinem Arbeitsantritt beim AJC initiiert, in der Hoffnung, das große Schweigen in Deutschland über das Thema durchbrechen zu können.
Und tatsächlich hat die Liste mit einem Schlag das Tabuthema in die Nachrichten gebracht. Sie wurde am gleichen Tag im Tagesspiegel
Sharon Adler: Du bist seit 2021 Vorstandsvorsitzende der Jewish Digital Recovery Project Foundation (JDCRP),
Deidre Berger ist seit 2021 Vorstandsvorsitzende der Jewish Digital Recovery Project Foundation (JDCRP), deren Ziel die Schaffung einer zentralen digitalen Plattform und Archivdatenbank von geraubten Kulturgütern aus ehemals jüdischem Besitz ist. Am 21. Februar 2023 veröffentlichte das JDCRP eine Initialliste mit 2.100 jüdischen Sammler*innen, deren Kunstbesitz von den Nationalsozialisten und ihren Verbündeten gestohlen, konfisziert, zwangsverkauft wurde (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Deidre Berger ist seit 2021 Vorstandsvorsitzende der Jewish Digital Recovery Project Foundation (JDCRP), deren Ziel die Schaffung einer zentralen digitalen Plattform und Archivdatenbank von geraubten Kulturgütern aus ehemals jüdischem Besitz ist. Am 21. Februar 2023 veröffentlichte das JDCRP eine Initialliste mit 2.100 jüdischen Sammler*innen, deren Kunstbesitz von den Nationalsozialisten und ihren Verbündeten gestohlen, konfisziert, zwangsverkauft wurde (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Deidre Berger: Das JDCRP wurde von der Jewish Claims Conference und von der Commission for Art Recovery ins Leben gerufen. Zuvor hatten sich mehrere Partnerorganisationen, wie Archive und Museen, getroffen, die ein großes Interesse an einer digitalen Plattform zeigten, um Archivmaterial zur Raubkunst zusammenzuführen. Der Wunsch danach wurde bereits während der Washington Conference on Holocaust-Era Assets
Sharon Adler: Bislang gibt es laut der JDCRP und der Claims Conference noch „keinen Überblick über das gesamte Ausmaß der Plünderung von Kulturgütern aus jüdischem Besitz.“ Worin liegen die Herausforderungen diesen Überblick zu schaffen?
Deidre Berger: Wir wissen, dass sechs Millionen Juden und Jüdinnen ermordet wurden – die Frage ist, was mit ihrem Eigentum passiert ist. Und es geht auch um die Millionen Menschen, die fliehen mussten. Die unter unmöglichen Umständen leben mussten, die ihr Eigentum verkaufen mussten, nur um zu überleben oder emigrieren zu können. Deren Besitz beschlagnahmt oder nach den Deportationen zur Finanzierung des Nazi-Regimes veräußert wurde. Die Dimensionen sind unbekannt.
In allen Ländern, wo die Nazis oder ihre Verbündeten waren, wurden Teile oder das gesamte Eigentum von Juden und Jüdinnen geraubt, konfisziert, und dafür benutzt, um an Devisen und Eigentum zu kommen. Wir reden von Kulturobjekten, von Kunstwerken, von Büchern, von Archiven, auch von geistigem Eigentum. Es geht nicht immer um den monetären Wert, sondern um alle Art von Objekten, die für uns in unserem Alltagsleben wichtig sind und die eine Rolle in unserer Kultursphäre spielen. Außerdem waren sehr viele jüdische Menschen leidenschaftliche Sammler*innen, Kunsthändler*innen oder Künstler*innen. Sie alle haben die Kulturwelt nachhaltig beeinflusst.
Die Nazis waren so gut organisiert, dass sie schon am gleichen Abend, als sie in Wien und in Paris einmarschiert sind, in den Wohnungen von jüdischen Sammler*innen waren, um damit anzufangen Inventur zu machen. Und in den Tagen danach damit anfingen, wertvolle Objekte zu beschlagnahmen. Aber wichtig ist, dass die meisten Menschen nicht reich und vermögend waren, sondern aus bürgerlichen Familien oder aus der Mittelschicht, die vielleicht einige Dinge hatten, die nicht von großem Wert waren, aber kulturell wertvoll. Auch mit Blick auf Judaica, jüdische Schriften und Ritualgegenstände, ist es sehr wichtig, herauszufinden, was damit passiert ist, weil gerade diese Objekte einen besonderen emotionalen Wert für vielen Familien haben. Und gerade, weil wir noch nicht genau wissen, über welche Dimensionen wir reden, müssen wir anfangen. Wir beginnen mit dieser digitalen Plattform, um so möglichst viele Informationen aus Archivbeständen zusammenzubringen. Ich glaube, dadurch werden die Forschenden eine wichtige wissenschaftlichen Basis bekommen, für vertiefende Recherchen über den Umfang der geraubten Gegenstände zu bekommen.
Sharon Adler: Inwieweit kann die JDCRP-Datenbank auch für Bildungszwecke
Die Provenienzforschung in diesem Bereich hat erst in den letzten zehn Jahren an Fahrt gewonnen. Relativ gesehen gibt es sehr wenige restituierte Fälle. Die Alliierten haben nach dem Krieg einige Hunderttausend Kunstwerke in Nazi-Depots gefunden, die sie an die Herkunftsländer restituiert haben, wenn sie sie ausfindig machen konnten. Aber oft sind sie in Museen oder in staatlichem Besitz geblieben. Viele von den geraubten Objekten bleiben verschollen, verschwunden, sind vernichtet, oder sind in privatem Besitz, wo man kaum Möglichkeiten für Nachforschungen hat.
Über den Umfang der Objekte, die tatsächlich an die Familien zurückgegeben wurde, wissen wir wenig. Für die Überlebenden und ihre Nachfahr*innen sind die Rückgaben besonders wichtig, wenn es vielleicht ein einziges Objekt ist, eine Verbindung zu den Eltern oder den Großeltern, die man nie kennengelernt hat. Plötzlich etwas in den Händen halten zu können, was einmal einem verfolgten und in den meisten Fällen ermordeten Familienmitglied gehörte, ist von ungeheurer Bedeutung. Leider werden die Überlebenden nicht mehr so lange unter uns sein. Über die Objekte kann man von den Opfern und ihrem Schicksal erzählen. Wer waren sie? Wo waren sie? Man kann in diesen Informationen einprägsame Geschichten ausfindig machen und sie zusammensetzen.
Drittens dient JDCRP als Bildungszweck, damit junge jüdische wie nichtjüdische Menschen neue Wege finden, um etwas über den Holocaust zu erfahren. Um besser zu verstehen, wer diese jüdische Familie war, die vielleicht in ihrer Straße gelebt hat und was mit ihnen und ihrem Besitz passiert ist. Anhand der Objekte kann man den Beginn des Genozids an den Juden und Jüdinnen gut nachzeichnen, weil die Ausraubung eine gezielte Art des Auslöschens von Identität, Geschichte und Kultur durch die Nazis war, bevor sie die Menschen ermordet haben. Die Ausraubung war ein Teil des Holocausts. Das wurde bislang viel zu wenig verstanden und erforscht.
Sharon Adler: Die Stiftung Jewish Digital Cultural Recovery Project (JDCRP) hat am 21. Februar 2023 eine Initialliste mit 2.100 jüdischen Sammler*innen veröffentlicht, deren Kunstbesitz von den Nationalsozialisten und ihren Verbündeten gestohlen, konfisziert, zwangsverkauft wurde. Wie und von wem wird die Liste weitergeführt und erweitert?
Deidre Berger: Die Initialliste war in dem Sinne keine originäre Forschung. Sie ist aus existierenden Informationen von bestehenden Datenbanken, zum Teil von Partnerorganisationen wie dem Prager Documentation Center for Property Transfers of the Cultural Assets of WWII Victims
Sharon Adler: Wie könnte es gelingen, die Liste jüdischer Sammler*innen nicht nur der interessierten Fachöffentlichkeit näherzubringen, sondern auch die breite Öffentlichkeit für geraubtes jüdisches Eigentum zu sensibilisieren? Welche öffentlichkeitswirksamen Maßnahmen sind geplant?
Deidre Berger: An erster Stelle stand lange Zeit vor allem die Entschädigung für die Überlebenden. Es war von großer Bedeutung, den Überlebenden eine moralische Anerkennung ihres Leids zu geben und auch finanzielle Beiträge, die helfen, ihr nach so viel Leid und Trauma häufig besonders beschwerliches Lebensende zu lindern. Erst jetzt kommt der Fokus auf das geraubte Eigentum, zum Teil von der Zweiten und Dritten Generation der Überlebenden der Shoah angetrieben. Für die Claims Conference wird es ein immer wichtigerer Teil ihrer Agenda. Und es ist wichtig, die wenigen Überlebenden und ihre Nachfahr*innen zu erreichen und sie darin zu unterstützen, die Recherche aufzunehmen. Wir haben uns intensiv damit auseinandergesetzt, wie wir die Öffentlichkeit sensibilisieren und dazu bewegen können, Fragen zu stellen, woher Objekte stammen und die Provenienzlücke zu identifizieren. Die JDCRP steht noch am Anfang. Ich glaube, sobald wir auf unserer Plattform anfangen Archivdokumenten zugänglich zu machen, desto mehr Öffentlichkeit werden wir erreichen. Das kann wiederum weitere Information offenbaren.
Sharon Adler: Wie groß ist die Hoffnung, dass sich auch diejenigen melden, die etwas zurückzugeben haben? Glaubst du, dass alle geraubten Kunstgegenstände ihren ursprünglichen Eigentümern zurückgegeben werden können?
Deidre Berger: Das wäre schön, aber diese Hoffnung habe ich leider nicht. Zahlreiche dieser geraubten Gegenstände befinden sich in Privatbesitz und vielen der heutigen Inhaber*innen behauptet weiterhin, dass der Kauf damals legal war. Ich habe dennoch die Hoffnung, dass der Raub jetzt endlich viel breiter in der Öffentlichkeit, den Medien, und im privaten Umfeld diskutiert wird und dass dies Denkprozesse unter Menschen auslöst, die bislang wenig damit zu tun hatten. Auch in der Expert*innenwelt ist die Annährung an dieses Thema relativ neu. Ich habe selbst Kunstgeschichte studiert, aber im Studium in den USA nie etwas darüber gelernt, obwohl ich mich auf moderne Kunst fokussiert hatte. Es ist Teil eines Genozids, wenn Kultur geraubt und vernichtet wird. Leider wiederholt sich das auch heute, zum Beispiel in der Ukraine, wo russische Soldaten und ihre Helfer Museen und Kulturbestände ausräumen. Auch der IS wollte nicht nur die Jesid*innen und andere Minderheiten versklaven, sondern ihre Kultur vernichten und ihre Identität auslöschen. In Syrien wurde ein unvorstellbares Ausmaß an Kulturgut vernichtet und geraubt.
Sharon Adler: Europaweit befinden sich auch heute noch zahlreiche geraubte und unter Zwang verkaufte Kunstgegenstände aus ehemals jüdischem Besitz in den Depots von Museen, an den Wänden großer Häuser oder werden auf Auktionen versteigert. Wie lautet vor dem Hintergrund der „Washingtoner Erklärung“
Deidre Berger: In der Kunstwelt müsste es eigentlich Standard sein, zu jedem Objekt einen lückenlosen Provenienzhintergrund aufzuzeigen. Wenn Objekte Provenienzlücken im Zeitraum von 1933 bis 1945 aufweisen, gibt es eine begründete Vermutung, dass es sich um geraubte Kunst handeln muss. Oder nennen wir es Fluchtgut, wenn es verkauft werden musste. Nach der letzten Externer Link: Koalitionsvereinbarung
Sharon Adler: Seit einigen Jahren richten Kulturinstitutionen, darunter die Berlinische Galerie, das Badische Landesmuseum oder die Sammlung Preußischer Kulturbesitz den Blick verstärkt auf mögliche Provenienzen
Deidre Berger: Die Bemühungen von Kulturinstitutionen, ihre eigenen Bestände kritischer hinsichtlich möglicher Raubkunst anzuschauen, sind begrüßenswert. Wir hoffen, dass dadurch in der Kunstwelt ein breiteres Umdenken einsetzt. Und man muss sich auch mit der Geschichte von öffentlichen Institutionen während und nach der Zeit des Nationalsozialismus auseinandersetzen. Dort sind einige der Täter und Täterinnen des Kunstraubes, die an seiner Organisation beteiligt waren, nach dem Krieg in ihre alten Positionen zurückgekehrt. Sie mussten wenig oder keine Konsequenzen dafür tragen, dass sie Millionen von Menschen ihr Eigentum, ihre Kultur und Geschichte geraubt haben. Darüber, wer und in welchem Ausmaß am NS-Kunstraub beteiligt war, muss unbedingt noch weiter geforscht werden. Eine Gefahr sehe ich darin, dass in einer Zeit wo das Interesse in der Rückgabe von kolonialer Kunst wächst, was für sich ein wichtiges und berechtigtes Anliegen ist, der größte Kunstraub der Geschichte, ausgeführt durch die Nationalsozialisten und ihre Helfer*innen, in den Hintergrund gedrängt wird. Ich hoffe, dass wir da nicht in eine konkurrierende Situation für Ressourcen und öffentliche Aufmerksamkeit kommen. Beide Themen sind von großen historischen Dimensionen und verdienen weit mehr Aufmerksamkeit als sie bislang bekommen haben.
Antisemitismus in Kunst und Kultur heute
Sharon Adler: Zu den Initiativen, in denen du dich engagierst und von denen du einige mitgegründet hast, gehört das Tikvah Institut.
Deidre Berger: Der Anstoß für die Gründung war unter anderem die Externer Link: polarisierende Debatte um die Leitung des Jüdischen Museums in Berlin 2019. Unter anderen Vorfällen ging es um die Ausstellung „Welcome to Jerusalem“ und eine geplante Ausstellung über jüdische Kultur im Iran in Kooperation mit der Botschaft der Islamischen Republik Iran. Wir hatten das Gefühl, dass jüdische Perspektiven nur sehr selektiv einbezogen wurden. Außerdem haben wir erkannt, dass es keine Schnittstelle zwischen der akademischen Welt und der breiten Öffentlichkeit gab. Es wurde unter Akademiker*innen zwar vieles diskutiert, aber das fand in einer Art Bubble statt, dabei waren es Themen, die für viele sehr wichtig sind. Um zusätzlich zu öffentlichen Kampagnen auch Forschung zu initiieren, sind wir als Institut Teil eines Forschungsverbundes, um Kern-Curricula für angehende Geschichtslehrer*innen und Polizist*innen zu erstellen. Dabei geht es um Aspekte des jüdischen Lebens, um jüdische Geschichte und den Holocaust, um Israel und Antisemitismus. Das ist bislang nicht formal in die Lehramtsausbildung und auch nicht in der Ausbildung von Polizist*innen integriert. Aber das sind zwei Gruppen, die viel mit Antisemitismus zu tun haben, und die als Staatsbedienstete Werte und Vorstellungen in unsere Gesellschaft tragen müssen. Diese sind manchmal hilflos gegenüber dem Problem Antisemitismus am Arbeitsort, weil ihnen oft das Hintergrundwissen fehlt.
Zusammen mit den Universitäten Tübingen, Bielefeld und Bochum und der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung in Gelsenkirchen haben wir das Projekt EMPATHIA
Bei dieser Mischung aus akademischen Informationen und politischen Forderungen ist Tikvah dabei. Wir planen auch Studien über die Auswirkung des Krieges in der Ukraine auf russischsprachige Juden und Jüdinnen in Deutschland, und über Antisemitismus in der Berichterstattung über Israel.
Sharon Adler: Im Dezember 2022 hatte Tikvah zusammen mit der Friedrich-Naumann-Stiftung zu der öffentlichen Tagung „Kunstfreiheit als Ausrede? Salonfähiger Antisemitismus und documenta 15“ eingeladen. Welche unterschiedlichen Formen von Antisemitismus in Kunst und Kultur wurden identifiziert?
Deidre Berger: Wir haben von erschütternden Erfahrungen gehört, von der Schauspielerin Adriana Altaras, vom Künstler Leon Kahane, der
Zudem berichten uns Kulturschaffende von einem zunehmenden Druck, der vonseiten der Kurator*innen in Kunstausstellungen und Kulturveranstaltungen auf sie ausgeübt wird, dahingehend, dass sie „israelkritisch“ sein sollen. Die haben es sehr schwer. Wenn sie anderer Meinung sind, werden sie von Kolleg*innen verbal angegriffen oder marginalisiert. Erwünscht sind vor allem die Perspektiven von linken, israelkritischen Juden und Jüdinnen; während diese einbezogen werden, kommen andere Perspektiven, etwa von gewählten Vertreter*innen oder Mitgliedern der Jüdischen Gemeinden zu kurz, obwohl auch deren Stimmen wichtig sind. Wir alle wollen die Kunstfreiheit nicht beschneiden, andererseits muss es Grenzen in einer Gesellschaft geben, wenn künstlerischer Ausdruck derart beleidigend und hasserfüllt ist, dass es andere zu Hass und sogar zu Gewalttaten verleiten könnte.
Prinzipien der Demokratie und Demokratievermittlung
Deidre Berger mit Cherrie Daniels, der Kulturattachée bei der Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika in Berlin anlässlich des ersten öffentlichen Wertedialogs von FORUM DEMOKRATIE e.V. im Foyer des Humboldt Forums im Rahmen des Berliner Wochenendes für Demokratie am 19. März 2023. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Deidre Berger mit Cherrie Daniels, der Kulturattachée bei der Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika in Berlin anlässlich des ersten öffentlichen Wertedialogs von FORUM DEMOKRATIE e.V. im Foyer des Humboldt Forums im Rahmen des Berliner Wochenendes für Demokratie am 19. März 2023. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Sharon Adler: Ein Verein, den du 2022 mitgegründet hast, ist das FORUM DEMOKRATIE e.V. Anlässlich der ersten öffentlichen Veranstaltung im Rahmen des Berliner Wochenendes für Demokratie am 19. März 2023 hat der Verein gemeinsam mit dem Kreuzberger Jugendzentrum „Gelbe Villa” Schüler*innen zum intergenerationellen „Wertedialog“ unter dem Motto „We have a dream“
Deidre Berger: Unser Verein wurde von einer Gruppe von Pädagog*innen, Vertreter*innen von Bildungs- und Zivilgesellschaften und Organisationen und Menschen aus der Stadtgesellschaft gegründet, die sich Sorgen um die Demokratie machen angesichts der Herausforderungen, denen sie begegnet. Viele von uns haben in ihren Berufsleben und ehrenamtlichen Tätigkeiten vielfältige Erfahrungen gesammelt, um nach Wegen zu suchen, Grundwerte der Demokratie an die junge Generation weiterzugeben. Wir haben über unsere Arbeit immer wieder erfahren, dass Demokratieverständnis und die Grundwerte unserer liberalen Gesellschaften zentral für die Bekämpfung von Antisemitismus sind. Für mich persönlich ist es ein großes Anliegen, die Demokratiebildungsmaßnahmen und Curricula, die ich lange Zeit mit dem AJC und einem großen Netzwerk von Kooperationspartner*innen gemacht habe, fortsetzen und ausbauen zu können. Angesichts der massiven gesellschaftspolitischen Herausforderungen unserer Zeit bis hin zur Ablehnung der Demokratie als politisches System brauchen wir noch mehr Menschen aller Generationen, die sich im Sinne der Demokratie engagieren. Das jedoch wird uns nicht gelingen, wenn wir es nicht schaffen, auch die nächste Generation mitzunehmen.
Zitierweise: „Deidre Berger: „Die Ausraubung war Teil des Holocausts“, in: Deutschland Archiv, 10.07.2023, Link: www.bpb.de/522941