Das jüdische Leben in Dnepropetrowsk (UdSSR, Ukraine)
Sharon Adler: Bevor du 1995 als jüdische Zuwanderin nach Deutschland gekommen bist, hast du in der Ukraine gelebt. Wie hast du die ersten 25 Jahre deines Lebens verbracht? Hast du oder hat deine Familie dort Antisemitismus erfahren?
Diana Sandler: Meine Mama war im Alter von zehn bis sechzehn Jahren während des Krieges mit meiner Oma als Zwangsarbeiterin in Bayern. Mein Vater wurde in den 1950er Jahren in der Sowjetunion verhaftet und fünf Jahre in einem Gefängnis inhaftiert, weil er Jude war. Meine Uroma wurde von Nachbarn denunziert und von den Nazis erschossen. Das ist ein schmerzhaftes Thema in unserer Familie. Meine Mutter hatte ihr ganzes Leben lang eine große Phobie zu sagen, dass sie jüdisch ist, weil sie als Kind mitbekommen hat, dass jüdisch zu sein den Tod bedeuten konnte. Während meiner Kindheit und in der Schule wurde ich „Scheiß-Jüdin“ genannt und angefeindet. Ich habe verstanden, dass ich anders als meine Mitschüler bin. Es gab eine große Diskriminierung von Juden in der Sowjetunion.
Sharon Adler: War deine jüdische Identität Teil deines Lebens? Welchen Bezug hattest du zum Judentum?
Diana Sandler: In meiner Familie war niemand außer mir gläubig und niemand hat mir erklärt, was es heißt, jüdisch zu sein. Meine Familie hatte wenig Bezug zum Judentum. Als einziges jüdisches Fest wurde Pessach gefeiert, aber ohne Erklärung, was das ist. Angefangen, mich bewusst mit meinem Judentum auseinandersetzen, habe ich 1991, als mein erster Sohn geboren wurde. Damals habe ich, weil ich meine Kinder jüdisch erziehen wollte, gemeinsam mit Rabbi Shmuel Kaminetsky mit der Sochnut, der Jewish Agency for Israel,
Die Einwanderung nach Deutschland
Sharon Adler: Warum hast du dich zur Emigration nach Deutschland entschlossen? Was wusstest du damals über die jüdisch-deutsche Geschichte?
Diana Sandler: Der ausschlaggebende Grund war, dass ich davon überzeugt war, dass Antisemitismus und der Holocaust in Deutschland ein zweites Mal nicht möglich seien. Und dass meine Kinder in einem demokratischen Land aufwachsen sollten, wo sie ihre Religion ausleben können. Ich hatte eher wenig Wissen über Deutschland. Und wenn ich es gehabt hätte, dann wäre ich kaum nach Deutschland gekommen. Es wurde in der Sowjetunion totgeschwiegen, und es wurde in den Familien nicht darüber gesprochen, was im Holocaust passiert ist. Da war ein sehr großes Informationsdefizit. Ich wusste auch nichts über die deutsch-jüdische Geschichte vor dem Nationalsozialismus. Aber ich mochte vor allem die Menschen aus der DDR, weil ich dort eine Brieffreundin hatte.
Sharon Adler: Als du nach Deutschland kamst, warst du 25 Jahre alt und hattest zwei kleine Kinder. Wo und wie habt ihr zuerst gelebt?
Diana Sandler: Ein Heim in Ahrensfelde war die erste Station. Die Ernüchterung kam schnell. Es war wie in einem Ferienlager, wo alles vorhanden war. Ich fühlte mich gefangen, denn es lag isoliert und von der Welt abgeschnitten. Ich sah keine Perspektive. Ich war auch verwundert darüber, dass wir so viele Sozialleistungen erhielten. Als ich auf dem Sozialamt äußerte, dass ich kein Geld wolle, sondern arbeiten und mein Geld selbst verdienen möchte und nicht einfach nur herumsitzen will, erklärte man mir, es sei unmöglich, mit einem Kleinkind zu arbeiten. Für mich war es unvorstellbar, einfach so Geld anzunehmen. Es war mir peinlich, nichts zurückzugeben.
Sharon Adler: Seit 2010 hast du dich zum Judentum weitergebildet. An der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg hast du den Studiengang „Orientierungswissen Judentum“
Diana Sandler: Die Aus- und Weiterbildungen habe ich im Rahmen des Studiums zur Sozialbetriebswirtin im Fernstudium gemacht, als ich schon Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde war. Ich war die jüngste Vorsitzende einer Jüdischen Gemeinde Deutschlands. Für mich war es wichtig, gut bewandert und gut ausgebildet im Judentum zu sein, wenn ich Menschen aus der Diaspora vertrete. Ich werde mich mein Leben lang zum Thema Judentum weiterbilden. Das ist mir enorm wichtig, auch als jüdische Mutter. Vieles weiß ich auch ohne die Ausbildungen. Das ist mein Talent. Ich bilde mich aber auch in vielen anderen Bereichen und Kulturen weiter, weil ich mit vielen Menschen aus anderen Kulturen zusammenarbeite.
Die Jüdische Gemeinde in Bernau seit 1997 bis heute
Sharon Adler: 1997 hast du damit begonnen, die Jüdische Gemeinde in Bernau
Diana Sandler: Die Ausgangslage war so, dass es im Kreis Barnim zwar viele jüdische Zuwanderer gab, aber niemanden, der sie betreut hat. Es gab keine Migrationserstberatung, und viele Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen hatten keine Ahnung, was jüdische Zuwanderer sind. Niemand sprach Russisch und die Kommunikation war miserabel.
Man wollte die Zuwanderer in kleinen Zahlen auf viele kleine Orte in Brandenburg verteilen. Das wäre für eine Jüdische Gemeinde aber nicht gut gewesen. Um das besser zu organisieren – und damit die Zuwanderer nur dahin geschickt wurden, wo es eine aktive Jüdische Gemeinde gab und sie Zugang zu einer Synagoge und einer jüdischen Gemeinschaft hatten und nicht in ganz Brandenburg verstreut wurden –, haben wir bei verschiedenen Instanzen um Hilfe gebeten und eng mit den Behörden zusammengearbeitet.
Die ersten zwei Jahre habe ich die Erstberatung für jüdische Zuwanderer in Brandenburg bei mir zu Hause organisiert, beziehungsweise Hilfe zur Selbsthilfe gegeben. Alle Nachbarn sind ausgezogen, weil sie nichts mit uns zu tun haben wollten. Später habe ich eine Arztpraxis angemietet und dafür 40.000 Euro Privatschulden gemacht. Bis 2005 bekamen die Brandenburger Jüdischen Gemeinden kaum finanzielle Unterstützung. Diese Zeit war sehr schwierig für uns .
Sharon Adler: Was waren damals die größten Herausforderungen?
Diana Sandler: Die Leute, die zeitgleich mit mir nach Deutschland gekommen sind, hatten Angst. Sie waren in einem neuen Land und waren skeptisch. Man musste sich das Vertrauen von ihnen verdienen. Einer der schwierigsten Aspekte war die Doppel-Integration. Denn die Leute aus der Sowjetunion hatten meist sehr wenig Bezug zum Judentum. Die deutsche Regierung hat zwar sehr viel getan und investiert, aber die Leute vor Ort haben die Menschen als Klientel wahrgenommen, an der man sehr viel Geld verdienen konnte. Es gab Deutschkurse, wo niemand lernte, Deutsch zu sprechen, oder Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, die absolut keinen Bezug zu den Menschen hatten, aber das Geld dafür genommen haben. Die Gründung der Jüdischen Gemeinde geschah nicht aus Lust und Laune heraus, sondern aus einer absoluten Notsituation.
Diana Sandler: „Die ersten zwei Jahre habe ich die Erstberatung für jüdische Zuwanderer in Brandenburg bei mir zu Hause organisiert, beziehungsweise Hilfe zur Selbsthilfe gegeben. Alle Nachbarn sind ausgezogen, weil sie nichts mit uns zu tun haben wollten.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Diana Sandler: „Die ersten zwei Jahre habe ich die Erstberatung für jüdische Zuwanderer in Brandenburg bei mir zu Hause organisiert, beziehungsweise Hilfe zur Selbsthilfe gegeben. Alle Nachbarn sind ausgezogen, weil sie nichts mit uns zu tun haben wollten.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Sharon Adler: Wie viele Jüdinnen und Juden lebten damals in Bernau und wie haben sie den Zuzug der Zuwanderer aufgenommen?
Diana Sandler: Vor der Migrationswelle gab es in Bernau genau einen jüdischen Mann und eine jüdische Frau. Sie waren sehr froh über die Zuwanderung. Obwohl die meisten neuen Gemeindemitglieder Russisch sprachen, haben diese beiden an den Gottesdiensten und den Schabbat-Feiern teilgenommen. Für einen Austausch und Dialog wurden kreative Formen gefunden, um sich zu verständigen.
Es gibt in Barnim heute 617 jüdische Zuwanderer. Das Problem ist, dass in einer orthodoxen Jüdischen Gemeinde nur halachische Juden und Jüdinnen, also wenn die Mutter jüdisch ist, aufgenommen werden. Aber viele jüdische Menschen haben nichtjüdische Partner geheiratet. Die Kinder, die aus den Partnerschaften entstanden sind, wo nur der Vater jüdisch ist, haben aber auch einen Bezug zum Judentum. Diese Menschen darf man nicht ausgrenzen. Wir sehen sie auch als Mitglieder, sie können zu den Festen kommen und mitwirken. Sie werden aber offiziell nicht als Mitglieder gezählt.
Sharon Adler: Wie wurde das Demokratieverständnis an die Menschen vermittelt, die in totalitären und autoritären Regimen aufgewachsen sind?
Diana Sandler: Das ist einer der Hauptschwerpunkte meiner Arbeit. Seit den 2000er-Jahren biete ich in Brandenburg Mentalitäts- und Demokratieschulungen und Schulungen zur politischen Bildung an, etwa zum Grundgesetz und dazu, was es heißt, ein Teil der deutschen Gesellschaft zu sein. Sowie Seminare über das friedliche Zusammenleben zwischen Juden, Muslimen und Christen. Ich habe das alles selbständig organisiert, habe Experten hinzugezogen und Netzwerke gebildet. Die entstanden aus purem Enthusiasmus. Es gab keine Finanzierung, aber die Menschen haben verstanden, dass es notwendig und wichtig ist.
Momentan bin ich Bildungsträgerin von Projekten in sieben Sprachen, auch für syrische, tschetschenische und ukrainische Flüchtlinge. Denn auch ich habe früher ein falsches Bild von der deutschen Gesellschaft gehabt, weil ich so schrecklich empfangen worden bin. Als ich verstanden hatte, dass das nichts mit Deutschland, sondern mit konkreten Menschen zu tun hatte, habe ich anderen neu angekommenen Menschen erklärt, was Deutschland für uns tut. Wieviel Herzblut die deutsche Regierung in die Integration steckt. Die Migranten sind verblüfft, wenn sie erfahren, dass sie in vielen Fällen die gleichen Rechte haben wie die Deutschen.
Sharon Adler: Mit welchen Maßnahmen hast du persönlich und in deiner Funktion als Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde die Zuwanderer aus der Ukraine, aus Russland, Kasachstan, Kirgistan, Litauen und Aserbaidschan unterstützt?
Diana Sandler: Indem ich Ankommens- und Willkommenskulturgruppen eingerichtet habe. 1997 haben wir ein Kultur-, Integrations- und Beratungszentrum für jüdische und nichtjüdische Zuwanderer eröffnet. Dazu gehört auch die Migrationserstberatung, die soziale Integrationsabteilung, der Senioren-Migrationsdienst, die Seniorenberatung, außerdem Projekte für Inklusion und weitere soziale Projekte. Es gibt also Beratungs- und Betreuungsangebote, mobile Begleitung mit Dolmetschern und integrationsbegleitende Maßnahmen und Sprachförderung. Wir hatten jüdische Seelsorge, Unterstützung bei Diskriminierung und antisemitischen Übergriffen, Übersetzung bei Amts- und Arztbesuchen und einen Telefon-Notdienst, der 24 Stunden erreichbar war. Praktisch gesehen haben wir für jeden Lebensbereich Maßnahmen geschaffen.
Damals gab es noch keine muttersprachlichen Veranstaltungen. Ich habe als Erste in Brandenburg die Migrationsberatung und die Bildungs-veranstaltungen für jüdische Zuwanderer*innen in russischer Sprache organisiert. Dafür wurde ich zuerst ausgelacht. Man behauptete, dass das den Integrationsprozess stören würde. Ich bin bis heute die einzige Trägerin mit Migrationshintergrund für politische Bildung.
Sharon Adler: Welchen Herausforderungen bist du noch begegnet?
Diana Sandler: Es gab enorm viele Herausforderungen, denn die Menschen hatten keine Ahnung, was sie in Deutschland erwartet. In der Jüdischen Gemeinde wurde individuell geklärt, welche Erwartungen und welche Meinungen sie von Deutschland hatten. Unsere Aufgabe war, den Menschen zu erklären, wie es in Deutschland läuft.
Es ging aber auch um die Integration in das Judentum, weil sehr viele jüdische Zuwanderer keine Vorstellung davon hatten. Sie wussten nicht, wie man den jüdischen Glauben lebt und welche Regeln es gibt. Deswegen haben wir eine Religionsabteilung eingerichtet, die von religiösen Lehrern und von Rabbinern unterstützt wurde. Es gab eine Religionsschule, Gottesdienste, und auch die religiösen Feiertage wurden gemeinsam gefeiert. Daneben gab es eine Kulturabteilung mit verschiedenen jüdischen Kulturprojekten und seit den 2000er-Jahren die Abteilung für interreligiösen und interkulturellen Dialog. Und wir haben einen Treffpunkt für Holocaust-Überlebende eingerichtet. Die meisten sind heute leider nicht mehr unter uns, es gibt derzeit in Brandenburg noch circa einhundert, aber damals gab es viele Überlebende. Es sind Menschen, die viel durchlebt haben. Sie sind unsere Heldinnen, Helden und Vorbilder. Sie haben unsere absolute Wertschätzung und bekommen in jeder Hinsicht Hilfe von uns. Wir gehen mit ihnen in Schulen, um Aufklärungsarbeit zu leisten.
Sharon Adler: Seit Beginn des Angriffskriegs durch Putins Russland auf die Ukraine sind viele jüdische Kriegsflüchtlinge nach Deutschland gekommen. Wie hilft die jüdische Gemeinschaft ihnen?
Diana Sandler: Als Vorsitzende von Mir e.V.
Sharon Adler: In der Jüdischen Gemeinde Bernau sind auch viele Menschen mit russischen Wurzeln vertreten. Gibt es aufgrund des Angriffskriegs auf die Ukraine unter den Mitgliedern der Gemeinde Konflikte? Wenn ja, wie löst ihr sie?
Diana Sandler: „Ich möchte Deutschland etwas zurückgeben und die jüdische Gemeinschaft schützen. Deshalb plane ich, einen neuen Verein zu gründen: Die „Jüdische Mamme Deutschland“. Nicht nur für jüdische Mütter oder Kinder, sondern für alle, denn schließlich sind wir alle Kinder.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Diana Sandler: „Ich möchte Deutschland etwas zurückgeben und die jüdische Gemeinschaft schützen. Deshalb plane ich, einen neuen Verein zu gründen: Die „Jüdische Mamme Deutschland“. Nicht nur für jüdische Mütter oder Kinder, sondern für alle, denn schließlich sind wir alle Kinder.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Diana Sandler: Die Konflikte gibt es bereits seit 2014, dem Jahr der Majdan-Revolution. Das hat die jüdische Community in ganz Deutschland gesplittet. Aber nicht nur zwischen den russisch- oder ukrainischstämmigen Zuwanderern, sondern auch zwischen Ostukrainern und Westukrainern. In der Jüdischen Gemeinde Bernau im Landkreis Barnim waren die Konflikte nicht so groß wie in anderen Orten, weil wir seit Jahren Konfliktpräventionsarbeit leisten. Aktuell haben wir zwei Psychologen und einen Psychiater, die aktiv mit der Community zusammenarbeiten. Die meisten unserer Mitglieder sind Senioren und haben Angst vor dem Krieg und einer atomaren Eskalation. Einige befürchten sogar, dass die Russen nach Deutschland kommen und ein totalitäres Regime errichten.
Wir versuchen sie zu beruhigen und stellen auch verifizierte Informationen zur Verfügung, um der Propaganda entgegenzuwirken. Außerdem sind in unserer Gemeinde die Menschen, egal, woher sie stammen, in die Projekte für die Geflüchteten involviert. Bei uns sind die Menschen pazifistisch, sie sind alle absolut gegen den Krieg. Durch den Konflikt, der 2014 entstanden ist, waren viele Leute miteinander zerstritten. Aber als Russland die Ukraine überfiel, waren sogar die pro-russischen Leute nicht mehr prorussisch, weil nichts einen Krieg, den Tod und das Elend rechtfertigt. Dieser Angriffskrieg hat viele wieder zusammengebracht.
Der Kampf gegen den Antisemitismus
Sharon Adler: Du bist die erste Antisemitismusbeauftragte in Deutschland und die erste Beauftragte gegen Antisemitismus und Beauftragte für den Dialog mit den Religionsgemeinschaften im Land Brandenburg vonseiten des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden Land Brandenburg, Initiatorin von zahlreichen Initiativen gegen Antisemitismus, in diversen Netzwerken aktiv. Du führst regelmäßig Projekte und Workshops zum Thema „Antisemitismus in Brandenburg“
Diana Sandler: „Der Kampf gegen Antisemitismus ist ein Prozess, der nie beendet werden kann.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Diana Sandler: „Der Kampf gegen Antisemitismus ist ein Prozess, der nie beendet werden kann.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Diana Sandler: Die wichtigste Methode ist die Dialogplattform, die im Jahr 2000 entwickelt wurde. Dann gibt es die Projekte für interreligiöse und interkulturelle Zusammenarbeit, mit den Schwerpunkten Antisemitismus, Diskriminierung und genereller Menschenfeindlichkeit. Zur Prävention und Bekämpfung von Antisemitismus gehen jüdische und muslimische Referenten in ganz Deutschland (Sachsen, Nordrhein-Westfalen und Brandenburg) in Schulen und in Kirchen, in Kinderclubs, in Seniorenclubs und sprechen über Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, aber auch über die jüdische Religion und den Islam. Für jede Alters-, Mentalitäts- und Kulturgruppe haben wir individuelle Methoden entwickelt.
Wir arbeiten unter anderem auch mit syrischen Geflüchteten. In Syrien wurde ihnen in der Schule beigebracht, dass Juden schlecht seien. Nachdem unser Referent sie gemeinsam mit einem syrischen Referenten über diese Propaganda und Irrtümer aufgeklärt hat, engagieren sich viele syrische Menschen heute gegen Antisemitismus. Es ist wichtig, dass wir eine Vertrauens- oder Autoritätsperson aus dieser Gruppe haben. Beispielsweise einen Imam. Zusammen entwickeln wir auch die Methoden, wie wir am besten mit der Gruppe kommunizieren.
Während der Corona-Pandemie haben wir in einem Flüchtlingsheim gemeinsam mit syrischen und tschetschenischen Menschen Masken verteilt. Gemeinsam, damit die Menschen sehen, dass jüdisches Leben präsent ist und gut sein kann. So bricht man Vorurteile auf. 2005 haben wir eine Melde- und Informationsstelle zur Erfassung von antisemitischen Übergriffen und eine Stelle zur Erfassung von Islamfeindlichkeit im Land Brandenburg gegründet. 2014 habe ich den Zentralrat der Muslime um Hilfe und Zusammenarbeit gebeten. Seit 2010 führe ich auch regelmäßig Feste zum Fastenbrechen des Ramadans durch.
Allianzen von migrantischen Organisationen
Sharon Adler: Du hast mehrere Bündnisse ins Leben gerufen, darunter „JuMu Deutschland“, außerdem den „Dachverband Migrantenorganisationen in Ostdeutschland“ (DaMOst e.V.) und zuletzt 2021 die „Bundesallianz der Migrantenorganisationen gegen Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit“ (BAMgA). Wie lauten die gemeinsamen Ziele?
Diana Sandler: Die BAMgA ist ein Ergebnis von 15 Jahren Netzwerkarbeit, insbesondere zwischen jüdischen und muslimischen Organisationen. Momentan haben wir mehr als einhundert ehrenamtliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus den verschiedensten Kulturgruppen. Das hätten wir niemals erwartet. Es geht uns um Kommunikation und um die Akzeptanz von Migrantenorganisationen. Wir als Jüdische Gemeinde müssen mit anderen Communities und Organisationen den Kontakt herstellen. Wir dürfen uns nicht in unseren eigenen Räumen einschließen. Wir brauchen den Zugang zu den anderen Communities, denn in der Synagoge gibt es keinen Antisemitismus.
Ich bin dankbar, dass ich als einzige Jüdin Vorsitzende einer Migranten-Dachorganisation sein kann und dass mir so viele Migrantinnen und Migranten anvertraut sind. Das ist auch der direkte Zugang zur Gesellschaft der Migranten im Kampf gegen den Antisemitismus, den es dort auch gibt. Eine weitere wichtige Methode ist das Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten zwischen Juden und Muslimen, zwischen Christen und Muslimen, zwischen Christen und Juden. Wir geben den Menschen die Möglichkeit, das gemeinsam herauszufinden und herauszuarbeiten .
Zurzeit haben wir ein großes Projekt, das sich JUMU-Sachsen nennt. Das steht für „Juden und Muslime“. JUMU ist ein aktiver Teil von BAMgA und auch eine bundesweite Organisation. Bevor wir in Sachsen aktiv wurden, haben wir JUMU-Projekte an Schulen in ganz NRW durchgeführt. Da waren wir nicht nur in Städten wie Köln oder Düsseldorf, sondern auch in Viersen, in Velbert, in Emsdetten – also auch in ländlichen Regionen. Damit es nicht nur dort durchgeführt wird, wo es weniger Probleme gibt. Ich habe lange davon geträumt, etwas für Integration und gegen Antisemitismus zu tun. Mir war klar, dass ich das nicht allein machen kann, sondern nur gemeinsam mit anderen. Das ist meine Methode. Ich warte nicht ab, sondern gehe direkt zu den Organisationen und biete eine Zusammenarbeit an. Netzwerkarbeit ist sehr wichtig .
Sharon Adler: In Bernau hält die AfD aktuell drei Sitze in der Stadtverordnetenversammlung,
Diana Sandler: Jeder in unserer Gemeinde erfährt regelmäßig Antisemitismus. Auch unser Gemeinderabbiner wurde angegriffen und antisemitisch beleidigt. An einem 9. November gab es den Versuch eines gewalttätigen Übergriffs auf mich, getroffen wurde mein Sohn. Das ist polizeilich gemeldet. Wir sind offiziell Opfer rechter Gewalt. Ich bin bei allen rechten Organisationen als Ziel gelistet. Wir hatten etwa vierzig Mal Hakenkreuze an unserer Eingangstür, etwa zwei-, dreimal pro Jahr. Einmal wurde die Scheibe der Gemeinde mit einem Ziegelstein eingeworfen. Es gibt aber keine Möglichkeit, Sicherheit zu organisieren, weil unsere Räume in einem Wohngebiet liegen, und es dort nicht erlaubt ist, eine Kamera aufzustellen. In ganz Brandenburg gibt es keine Gemeinde mit einem funktionierenden Sicherheitssystem. Das ist die traurige Wahrheit.
Diana Sandler ist Initiatorin von zahlreichen Initiativen gegen Antisemitismus und in diversen Netzwerken aktiv. Für ihr Engagement wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet: „Jeder in unserer Gemeinde erfährt regelmäßig Antisemitismus.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Diana Sandler ist Initiatorin von zahlreichen Initiativen gegen Antisemitismus und in diversen Netzwerken aktiv. Für ihr Engagement wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet: „Jeder in unserer Gemeinde erfährt regelmäßig Antisemitismus.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2023)
Sharon Adler: Du wurdest für dein Engagement mehrfach ausgezeichnet, unter anderem 2005 vom Land Brandenburg. Worin siehst du die größten Probleme bei der Antisemitismusbekämpfung?
Diana Sandler: Der Kampf gegen Antisemitismus ist ein Prozess, der nie beendet werden kann. Es ist naiv zu glauben, dass man Antisemitismus auslöschen könnte. Ich wurde auch von Amtspersonen beleidigt. Mir wurde gesagt, wenn ich noch einmal das Wort Antisemitismus sagen würde, dann würden für mich alle Türen in Brandenburg geschlossen sein. Das ist normal und immer noch nicht besser geworden. Das Allerschlimmste aber ist, dass niemand von denen, die Gelder erhalten haben, unsere Holocaust-Überlebenden eingeladen hat. Es fehlt der Respekt für unseren Landesverband. Es fehlt der Respekt vor den Leuten, die das jüdische Leben in Brandenburg wiederaufgebaut haben.
Die Arbeit gegen Antisemitismus funktioniert nur mit anderen gemeinsam und wäre ohne das Vertrauen, die Anerkennung und die Hilfe anderer Unterstützerinnen und Unterstützer nicht möglich. Darunter ist auch die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mönchengladbach, Dr. Leah Floh, und Inna Shames, die Geschäftsführerin des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinde von Schleswig-Holstein.
Sharon Adler: Du bist nicht nur politische Aktivistin, sondern auch Künstlerin und Texterin. Du malst und schreibst Gedichte. Was möchtest du über dein Gedicht „Unser Volk“
LiedtextLied: Unser Volk
1) Ein Volk der Großen und der Sklaven. Ein Volk, das aufersteht trotz Klagen. Ein Volk, mit grenzenlosem Antlitz, um Gott durch diese Welt zu tragen.
2) Ein Volk, das schätzt des Herrn Verbote, und hütet die Tradition. Ein Volk, durch welch wird Rat geboten, es schätzt der Weisen wahren Ton.
3) Ein eignes unter fremdem Volk zum Wohl der Kinder, Enkel aller Was geht durch Freuden und auch Qualen zum bloßen Zweck der guten Tat.
4) Ein Volk der Frommen und der Tristen. Manch allsehend, manch ist blind. Die Menschen, die in Tracht der Nackten. Auf einem Ball des barfuß sind.
5) Ein Volk, das hütet seine Ängste Unter dem Stolze der Verzeihung. Ein Volk, das Muse hat erfahren, das hofft ersehnt auf die Befreiung.
6) Mit Gottes Siegel geht mein Volk. Hofft, der Messias wird es retten. Manch einer glaubt, es bringe Glück, steht in der Früh auf, um zu beten.
© Diana Sandler
Diana Sandler: Den Text für das Gedicht habe ich zum zehnjährigen Jubiläum der Jüdischen Gemeinde Landkreis Barnim verfasst und dort vorgelesen. Als ich ihn verfasste, wurde mir bewusst, dass es nicht wirklich ein Lied gibt, was man bei Anlässen wie dem 9. November oder dem 27. Januar gemeinsam singen könnte. Dieses Lied ist wie eine Hymne, mit der man jede jüdische Veranstaltung zur Erinnerungskultur eröffnen kann. Es ist an die Leute gerichtet, die Solidarität mit dem jüdischen Volk oder ihren Protest gegen Antisemitismus zeigen möchten. Es soll auch dazu aufrufen, dass sich die Leute engagieren. Alle sind dazu eingeladen, dieses Lied zu singen oder als Gedicht vorzutragen. Es wurde schon in viele Sprachen übersetzt und von vielen Repräsentanten unterschiedlicher Religionen an vielen Orten, in Frankfurt am Main, in Frankfurt Oder, in Paris und vor dem Krieg in der Synagoge in Moskau, in vielen Sprachen, auf Hebräisch, auf Deutsch, auf Englisch, auf Russisch vorgetragen. Wir planen, es in Yad Vashem zu singen.
Sharon Adler: Du bist in vielem die Erste und hast viel für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland erreicht. Was motiviert dich in deinem haupt- und ehrenamtlichen Engagement – trotz aller Anfeindungen? Welche Pläne hast du für die Zukunft, was sind deine Träume?
Diana Sandler: Ich bin eine starke demokratische Patriotin und ein Teil der jüdischen Community Deutschlands. Und ich bin eine jüdische Mutter. Ich möchte mein Talent, meine Seele und meine Kraft, alles, was Gott mir gegeben hat, weitergeben und dem Land schenken, in dem meine drei Söhne groß geworden sind. Ich möchte Deutschland etwas zurückgeben und die jüdische Gemeinschaft schützen.
Deshalb plane ich, einen neuen Verein zu gründen: Die „Jüdische Mamme Deutschland“. Nicht nur für jüdische Mütter oder Kinder, sondern für alle, denn schließlich sind wir alle Kinder. Wir leben in schwierigen Zeiten. Viele Menschen haben Ängste. Sie haben den Glauben an die Gesellschaft und an sich selbst verloren. Für sie soll der Verein eine seelische Unterstützung bieten und den Menschen, die in Schwierigkeiten stecken oder Hindernisse vor sich haben, helfen, trotzdem nicht die Hoffnung zu verlieren. Das jüdische Volk hat ja sehr viel Erfahrung damit. Diese Erfahrung möchte ich weitergeben. Und dass man auch Freude an den Kleinigkeiten des Lebens haben kann. Und wie man es schafft, die Liebe im Herzen zu bewahren, auch die Liebe zu Gott .
Außerdem stelle ich mir eine jüdische Single-Börse vor und Workshops, in denen gezeigt wird, wie eine jüdische Familie funktioniert. Es gibt Familien mit einer nichtjüdischen Mutter und einem jüdischen Vater. Der Verein soll auch diesen Müttern Hilfestellung geben, ein jüdisches Kind aufzuziehen. Eine jüdische Mamme ist etwas Besonderes. Die Mamme ist in diesem Fall der Verein. Die „jüdische Mamme“ soll intergenerational sein und den Menschen beibringen, sich selbst wertzuschätzen, gegenseitig zu respektieren und füreinander Verantwortung zu tragen. Die „jüdische Mamme“ soll ein Ratgeber für Menschen, Organisationen und Institutionen werden, denn was ist besser als der mütterliche Rat? Ich bin sehr stolz, dass ich die Interessen der jüdischen Menschen in Deutschland vertreten darf!
Zitierweise: „Diana Sandler: „Ich bin stolz, eine deutsche Jüdin zu sein !““, in: Deutschland Archiv, 26.05.2023, Link: www.bpb.de/521402