Sprachlosigkeiten
Ein Essay über Vergangenheit & Herkunft
Jelena Jeremejewa
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Wie eigentlich diesen Krieg verarbeiten, wenn man aus Kiew stammt, dort von klein auf Russisch lernte, aber es einem seit dem Beginn von Russlands Angriffskrieg die Sprache verschlägt? Was, wenn man nun ständig überlegen muss: In welcher Sprache reflektiere ich all das im Deutschen? Schreibe ich Kiew oder Kyiv? Bedeutet das eine Aggression, das andere Wehrhaftigkeit? Und werden sich je gemeinsame Worte für die Aufarbeitung dieser so verwundenden Geschichte ergeben? Ein Essay von Jelena Jeremejewa.
Ich bin in Kiew geboren und aufgewachsen, und ich spreche Russisch. Warum ist dies auf einmal wichtig? Mit der Geburt, sprich Herkunft, meine ich mich für mein Russisch auch 2023 rechtfertigen zu müssen. Dabei war diese Sprache an diesem Ort vor mir da, ich schlüpfte in sie hinein, sie prägte mich und lenkte die Wahrnehmung meiner Welt. Sie öffnete mir die Welt und grenzte sie ein. Sie gehörte unmissverständlich zu Kiew und zur Ukraine dazu. Heute ist diese Selbstverständlichkeit weg, ich bin gezwungen über die Sprachen meiner Heimat nachzudenken, ihr Gefälle, und die Hierarchie zu befragen, ihre innere und äußere Strahlkraft.
Diese Sprache habe ich mir nicht ausgesucht, genauso wenig, wie meine Großeltern meine Eltern nicht fragten, welche Sprache sie bevorzugen würden… Und es würden einige zur Auswahl stehen – Polnisch für die Vorfahren meines Vaters mütterlicherseits, Russisch eben für die Großeltern väterlicherseits. Jiddisch mütterlicherseits wohl eher mit und unter Älteren, Freunden und Nachbarn im jüdischen Teil meiner Familie. Meine Mutter ist in Weißrussland geboren, Ihr Bruder und mein Onkel in Kasachstan, da mein Großvater ein Militäringenieur war und ständig versetzt wurde, in Abhängigkeit davon, wo die Sowjetunion Brücken und Dämme bauen wollte. Solche schicksalhaften Fügungen, Sprach- und Ortswechsel, Migration waren in meiner Familie schon immer eine nicht zu verleugnende Realität. Selten war sie jedoch selbstbestimmt.
Das Kiew meiner Kindheit in den 1980ern und -90ern war russischsprachig. Meine kindlich naive Sicht löst heute Scham in mir aus, denn sie zeugt von der Beschränktheit dieser sowjetisch indoktrinierten Perspektive. In der Schule wurden von mehr oder minder passionierten Lehrern die russische und die ukrainische Sprache unterrichtet, unterteilt in Literatur und Grammatik. Niemand in meiner Welt sprach Ukrainisch. Die russische Dominanz war da und in ihrer Selbstverständlichkeit gar nicht als solche für mich nachvollziehbar.
Shurzik, ein russisch-ukrainisches Gemisch
Die ukrainische Sprache hielt Einzug in unsere Familie erst in den 1990er Jahren, mit der Familie meiner russischsprachigen Schwägerin, die aus Cherson nach Kiew zum Studieren kam. Vielmehr sprachen ihre Eltern Surzhik, kein richtiges Ukrainisch, aber auch kein Russisch – ein charakteristisches und oft zu Unrecht belächeltes Gemisch aus Russisch und Ukrainisch. Mit ihnen lernte ich zum ersten Mal Menschen kennen, die außerhalb von Kiew wohnten, im Alltag kein Russisch sprachen, die nicht studiert hatten und die andere Berufe ausübten. Sprache berührte auch damals schmerzlich die Klassenfrage.
Von meinem Familiennamen gibt es unzählige Schreibweisen. Die, die ich verwende, die in meinem ukrainischen Pass steht, in meinem Abi-Zeugnis, Impfausweis und in dem Mutterpass ist diese hier: Jeremejewa Jelena. Es ist mühsam, diesen Namen stets buchstabieren zu müssen, die Verlegenheit zu spüren, die Menschen empfinden, die unsicher sind, wie diese zahlreichen Buchstaben miteinander zu betonen sind. In meinem Führerschein steht wiederum eine andere Schreibweise: Yeremeyeva Olena, die auf eine ukrainische Transliteration desselben Namens zurückzuführen ist. Mein Vater und mein Bruder werden als Eremeev transliteriert und unsere Familienangehörigen in den USA ebenfalls als Yeremeyev.
1982, in der ersten Januarwoche, kurz nach meiner Geburt, ging mein Vater mit den beiden Pässen zum Kiewer ZAGS, dem dortigen Bürgeramt, um seine frisch geborene Tochter anzumelden und die Geburtsurkunde zu beantragen. Meine Eltern konnten sich auf den Namen Aljona einigen. Die zuständige Mitarbeiterin verkündete aber, dass dies ein Märchenname sei, dass es ihn in Wirklichkeit nicht gebe und schlug Ihrerseits Elena vor. Mein Vater, beschämt bis eingeschüchtert, wollte keinen Streit mit der ZAGS-Mitarbeiterin riskieren, die es eigentlich besser hätte wissen müssen, willigte ein und nahm den Streit zu Hause in Kauf. Hatte die Mitarbeiterin einfach zu viele Kinderbücher vorlesen müssen und unüberbrückbare Vorbehalte gegen bestimmte russische Märchenfiguren entwickelt?
Beide Namen, sowohl Elena als auch Aljona, werden in der ukrainischen Sprache als Olena wiedergegeben, und in Deutschland war man 1994 so frei und entschied sich für Jelena. Ob E, J, oder O – es wird stets fälschlicherweise die erste statt der zweiten Silbe betont. Ich stehe inzwischen über den Transliterationsregelungen.
Eine sprachlos machende Gegenwart
Es gibt für mich keine Möglichkeit, über diese Sprachfrage objektiv zu sprechen. Gerade ist es außerdem so, als ob man sich nichts mehr zu sagen hätte. Als ob alle Worte sich völlig wesensfremd zu diesem Missverständnis Krieg materialisiert hätten.
Das Buch, welches es nicht geben sollte, mein Kriegstagebuch, heißt „Seit September will ich nach Kiew“. Der Titel rührt von den Gesprächen mit meinen Freunden her, die mir von der Reise im Februar 2022 abrieten, während ich von meiner Sehnsucht sprach, und den stets verschobenen Reiseplänen, die sich seit September nicht realisieren ließen. Das Buch ist inzwischen auch ins Englische übersetzt worden und der Titel wurde mit „Since September I have been wanting to go to Kyiv“ wiedergegeben. Der Name meiner Stadt ist dort kontinuierlich ukrainisch transliteriert worden, obwohl ich im Original kontinuierlich von Kiew spreche.
Verlag und Übersetzerin argumentierten mit dem englischsprachigen Raum, in dem sich die richtige Bezeichnung der Hauptstadt in der Landessprache durchgesetzt habe. Ich argumentierte mit meiner Sprache und war schlussendlich offen für ihre Perspektive, obwohl es genau betrachtet falsch ist und die Übersetzung meine ukrainische Russischsprachigkeit zu korrigieren sucht. Die Unentschiedenheit imponiert mir wiederum, weil hier die vielen Sprachpolitiken ineinandergreifen und sich verknoten.
Welche Schuld hat Sprache?
Solange die Ukraine beschossen wird und Menschen sterben, ist der Schmerz der Vergeblichkeit nachvollziehbar, darüber, dass man mit Worten, also mit gesprochenen, aber wohl nicht gehörten, nicht verstandenen Worten, keinen Erfolg gehabt hat. Deshalb auch die Wut und Enttäuschung, weil diese gemeinsame oder für gemeinsam gehaltene Sprache die Tragödie nicht verhinderte, sie nicht abwenden konnte. Aber hat sie sie mit ermöglicht? In welchen Prozentzahlen ließe sich die Schuld der russischen Sprache gegenüber den ukrainischen Menschen fassen? Denn sie alle, die russisch- wie die ukrainisch-sprachigen Ukrainer werden umgebracht, während die Sprachen überleben.
Wenn laut dem Philosophen Jaques Derrida kein natürliches Eigentumsverhältnis zur Sprache existiert, warum berührt diese Frage so sehr?
Was heißt es, inmitten von diesen ganzen vergessenen und verlorenen Sprachen, Bräuchen, Traditionen, Esskulturen zu stehen? Vielleicht schmerzt die Antwort, weil ich mich in einer Abfolge von Generationen verorte, in der meine Familie auf diese zahlreichen Verlusterfahrungen zurückblickt, ohne sich ihrer gewahr zu werden, und weil ich selbst die Sprache, die mir geschenkt wurde, nicht meinen Kindern weitergegeben habe. Wenn meine Eltern nicht mehr da sind, mit wem spreche ich dann die Sprache meiner Kindheit?
Der neue ukrainische Minister für Bildung und Forschung sagt: Man sei ein Patriot desjenigen Landes, in dessen Sprache man mit seinen Kindern spricht. Und ich denke an die vielen russischsprachigen Soldaten, die ihre Frauen und Kinder von der Front anrufen. Sind sie in der Aussage des Ministers mitgemeint? Nach über 20 Jahren in Deutschland habe ich immer noch meine ukrainische Staatsangehörigkeit, ich habe in Deutschland nie gewählt, und es fällt mir schwer, mich selbst als deutsche Patriotin zu bezeichnen.
Alle glücklichen und schmerzhaften Augenblicke, alle Erinnerungen sind in der Sprache amalgamiert. Was geschieht mit mir, wenn ich von jemanden da draußen für das Sprechen der Sprache, die Aspekte meines Seins zum Ausdruck bringen kann, mit dem Aggressor assoziiert werde?
Mindestens zwei Perspektiven überlagern sich und sind nur schwer auseinanderzuhalten: Die Aneignung der Schuld für die eigene Russischsprachigkeit. Wenn ich mich in ukrainischen Kontexten bewege und Menschen neu kennenlerne, wähle ich Englisch als Kommunikationssprache – aus einem voreiligen Reflex, das Gegenüber nicht zu brüskieren. Mein Name ist und klingt Russisch, und zusammen könnte es heute Zweifel an meiner ukrainischen politischen Identität auslösen. Ich schäme mich dafür, denn im Grunde beuge ich mich damit der Übergriffigkeit des russischen Staates, der vorgibt, in meinem Namen, im Namen meiner Sprache mich verteidigen zu müssen.
Dabei ist es eine eklatante Grenzüberschreitung, ein Versuch, über meine Zugehörigkeit zu verfügen sowie Besitzansprüche an mir und meinem Sprechen anzumelden. Sprachlich, ideologisch, weltanschaulich. Im Gespräch versuche ich dieser real möglichen oder imaginierten Projektion zuvorzukommen.
Plötzlich funktionalisierte Worte
Dabei werden beide Sprachen derzeit zu etwas stilisiert, was sie sein können, aber nicht per se sind. Hinter den Sprachen vermutet man weltanschauliche Differenzen: Ukrainisch wird zur Sprache des Widerstands, der Freiheit, des Protests, der Wehrhaftigkeit; Russisch hingegen zu etwas, was Ekel, Abscheu und Aggression auslösen soll. Dabei, so Andrii Portnov, ist in der Ukraine „ein besonderes Modell der situativen Zweisprachigkeit zu beobachten, bei der das Ukrainische im Bildungswesen dominiert und das Russische in Politik und Wirtschaft. Am wichtigsten ist, dass in der Ukraine kein direkter Zusammenhang zwischen der bevorzugten Sprache und der politischen Ausrichtung der jeweiligen Person besteht. Insbesondere der letztgenannte Umstand macht Putins ‚Argument‘, Russischsprachigkeit bedeute eine prorussische Einstellung, obsolet und zeigt, dass es vollkommen losgelöst von der ukrainischen Alltagsrealität ist.“
Mitnichten wird die russische Sprache in der Ukraine heute als neutral wahrgenommen, sondern als eine fremde, feindliche und als Sprache der Gewalt, als ein Fehler, der korrigiert gehört, zugunsten einer einzig richtigen, reinen ukrainischen Sprache. Weil die russische Sprache in ihrer Dominanz so selbstverständlich war, wurden weder sie selbst in ihrer typischen ukrainischen Eigenart noch ihre zahllosen regionalen Schattierungen und Dialekte erforscht und betrachtet.
Und in dieser ihrer Selbstverständlichkeit lag auch ihre enorme Macht, die bis in ihre kleinsten Facetten und Windungen dekonstruiert werden muss, um neuen und scheinbaren Selbstverständlichkeiten, unter denen in Wirklichkeit neue Hierarchien und hegemoniale Ansprüche lauern, zuvorzukommen.
Dass jetzt nicht der richtige Augenblick hierfür ist, weil Menschen in der ganzen Ukraine, vor allem aber in den besetzten Gebieten, die größtenteils russischsprachig sind, vernichtet werden, ist evident. Ihnen wird zugleich auch eine Mitschuld am Krieg aufgebürdet, sie werden stigmatisiert und mit dem Aggressor assoziiert. Dabei ist der gegenwärtige Impuls, Sprache politisch zu verorten, zu verwurzeln, einzugrenzen die Folge der Barbarei und der Gewalt, die Russland, nicht alleine in der Ukraine, säht.
Russische wie ukrainische Sprachen waren und bleiben ein kontroverses, also streitbares Politikum in meiner Heimat. Sie, wie ihre Kulturen, existieren nicht in einer reinen Homogenität – ich erinnere nur an den absurden Streit über die Aneignung des ukrainischen Suppengerichts Borschtsch durch Russland. Entwicklung wie Rückschritt, Fortschritt wie Moderne, Geschlossenheit und Öffnung sind durch sie hindurchgegangen. Für all das waren sie Ausdruck. In ihnen werden auch heute Machtansprüche formuliert, und ihr müssen sich wehrlose oder entwaffnete Menschen fügen. Denn Menschen hören nicht auf zu sprechen, während sie andere morden.
In welcher Sprache wird getötet? In welcher gestorben?
Die russischen Soldaten, die ihre Gräueltaten selbst dokumentieren, reden währenddessen ihr Russisch. Ihre Sprache übertönt das Schreien ihrer Opfer, weil sie die Regie führen über ihre Aufnahme und über ihre Bestialität. Wäre es für mich erträglicher, wenn sie in einer anderen, nicht in meiner Sprache morden würden? Und ist denn überhaupt meine Sprache die ihrige?
So oder so ist es mir unmöglich, mich emotional und menschlich zu den Verbrechen zu verhalten, die bereits begangen wurden und die wohl täglich in den okkupierten Gebieten begangen werden. Und weil man es nicht ertragen kann, gleichzeitig nichts mehr riskieren kann, weil alles in Gefahr ist, sucht man ein Ventil, ein Merkmal, reagiert auf die Sprache, klagt sie an und fordert gerechte Strafe, ihre völlige Auslöschung.
Ukrainische Sprache und Kultur haben eine sehr lange Geschichte der Unterdrückung zu erzählen – von getöteten und verbannten Künstlern und Dichtern, von Schriftstellern, die sich für die russische Sprache entschieden, weil sie gedruckt und gelesen werden wollten, über deren ukrainische Herkunft und Zugehörigkeit systematisch geschwiegen wurde und die bis heute als „russisch“ klassifiziert werden. Diese Geschichten wurden noch nicht laut und deutlich erzählt, geschweige denn wurde ihnen zugehört, ihre Perspektiven anerkannt.
Auf meinem Schreibtisch liegt beispielsweise ein Standardwerk „Russische Philosophie“ von Wilhelm Goerdt. Nach Lomonossow kommt gleich Skoworoda, der auf ukrainisch schrieb, hier als ländlich-provinziell kontextualisiert. Kira Muratova, eine ukrainische Regisseurin aus Odessa, wird in Birgit Beumers „Russia on Reels“ von einem Autor als „one of Russia`s most important and influential film directors alive today“ bezeichnet.
Bei all dem ist es evident, dass dieser Raum, samt seiner Lügen und Widersprüchlichkeiten, nicht nur ideell existiert hat. Die Erblast lässt sich in mir und in uns allen nachweisen. Diese physische Erfahrung, in einem Land geboren worden zu sein, das auf Blut und Verbrechen gebaut war, das aus vielen anderen Ländern bestand, die nicht freiwillig in den Verbund eingetreten sind, prägte grundlegend die Weltbilder von Generationen. Die gemeinsame russische Sprache, in der Menschen aus den 15 Republiken miteinander sprechen konnten, war das Medium, in dem kulturelle und historische Differenzen überwunden werden sollten, zugunsten von einer Geschichte.
Das Land mit seinen 27 Millionen Toten, welches gemeinsam mit den demokratischen Ländern zum Sieger über den Faschismus wurde, war zunächst ein Opfer Hitlerdeutschlands. Dieser Status des Opfers überstrahlte die eigene Täterschaft, stellte die ungezählten Morde und Verbrechen in den Schatten.
Hinter den Bildern aus den befreiten Konzentrationslagern konnten keine Bilder der sowjetischen GULAGS verblassen, weil sie kaum existieren. Der Sieg über Hitlerdeutschland sicherte die Existenz der Sowjetunion ab, in der Rolle des Siegers, obwohl die Erinnerung an seine Verbrechen und perfiden gesellschaftlichen Experimente noch sehr lebendig ist. Zentraleuropäische Staaten wollten den Hitler-Stalin-Pakt in gesamteuropäische oder gar transatlantische Erinnerung rufen. Eine ehrliche und tiefgreifende Debatte über Kommunismus, Nazismus und Faschismus steht noch aus. Ihr Ziel kann nicht eine gemeinsame Sicht auf die Geschichte sein.
Künftig keine zweisprachige Gesellschaft mehr?
In der Ukraine will man zu einer Sprache zurückkehren, die ursprünglich die richtige gewesen ist. Dieses Sinnbild des Ursprungs, des Ursprünglichen ist aber längst auseinandergelegt worden. Das, was wir für unsere Identität halten, besteht, so Michel Foucault, aus „Figuren, […] die ihnen fremd waren […] dass an der Wurzel dessen, was wir erkennen und was wir sind, nicht die Wahrheit liegt und auch nicht das Sein, sondern die Äußerlichkeit des Zufalls“.
Eine einsprachige Gesellschaft wäre nicht nur in der Ukraine eine seltene Realität, die auf zahlreichen parallel ablaufenden Bewegungen des Verdrängens und des Vergessens beruhen muss.
Die Idee fällt mit der Idee der Nationalstaatlichkeit zusammen, des sich Vereinnahmens oder Abgrenzens für oder gegen die anderen. Die Ukraine ist ein Staat mit einer traumatischen Gründungsgeschichte, jedenfalls fällt es mir schwer, das Bild einer homogenen Nation innerhalb von bestimmten und unverrückbaren Grenzen zu imaginieren. Sprache sollte und soll eben die Funktion dieser Einheit erfüllen, dieser „vorgestellten Gemeinschaft“. Sie soll der Schicksalsgemeinschaft einen unüberhörbaren, unverwechselbaren Ausdruck verleihen.
In meiner Wahrnehmung schießt diese Zielsetzung über die gesellschaftliche Wirklichkeit, in der auf dem Gebiet der jetzigen Ukraine Rumänisch, Ungarisch, Polnisch, Ukrainisch, Jiddisch, Deutsch und nicht zuletzt auch Russisch gesprochen wurde, hinaus.
Eine einheitliche Sprache meinte auch eine einheitliche Kultur, die eine einheitliche Nation legitimieren könnte. Aus meiner migrantischen Perspektive betrachtet ist es nachvollziehbar und auch sehr verlockend, in Zeiten der existenziellen Bedrohung eine dogmatische Eindeutigkeit anzustreben, mit der es schnell gelingt, anhand eines einzigen Merkmals die Unterscheidung zu treffen, wer Eigener ist und wer Fremder.
Diese Vereinfachung negiert jedoch die Komplexität und kehrt sie unter den Teppich der „kollektiven Aussageverkettungen“, die zwar eine Wahrheit, aber eben nur ihre Wahrheit erzählen. Das Streben nach Homogenität bleibt im Anbetracht der Umstände so verständlich wie fatal, denn es verkennt die Realität, verklärt die Vergangenheit beziehungsweise zieht aus ihr einseitige Rückschlüsse.
Ich möchte nicht inspiziert werden, Rechenschaft ablegen über meine Existenz, die Existenz meiner Familie, ihre zahlreichen Bewegründe, ihre Ängste und Hoffnungen, die einem selbst nicht immer klar sind, während es der fragenden Seite darum geht, mich zu belehren und mich davon zu überzeugen, dass ich ein Fehler bin, der das Gegenüber an die jahrhundertealte Ohnmacht erinnert und heute mit den Verbrechen der russischen Armee assoziiert wird.
Ich selbst werde zur Kategorie und zum Merkmal. So, als ob der Raum, den die Sprache bietet, auch eine Schuld und eine Verantwortung auf alle seine Träger weitergibt und sie zum Schweigen bringt, weil er ihnen eine Täteridentifikation aufbürdet und ihr Trauma oder eigentlich ihren Opferstatus negiert oderüberschreibt. Gibt es einen sprachlichen Ausweg aus dieser historischen Sackgasse?
Verstehen ermöglichen
„Solange wir unsere Sprache haben, so lange haben wir immerhin die vage Chance, uns zu erklären, unsere Wahrheit sagen, unsere Erinnerung ordnen zu können. Deswegen sprechen wir und hören nicht auf“, so Serhij Zhadan in seiner Dankesrede zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels im vergangenen Jahr in Frankfurt.
Damit Mehrsprachigkeit heute in der Ukraine als ein Gewinn betrachtet werden kann, darf keine Sprache eine andere bedrohen. Dieser Zustand ist, von jetzt aus betrachtet, sicherlich reine Utopie. Sprachen haben nicht nur kulturelle Konjunktur, sie haben auch einen Wert, der sich mitunter nicht von der Militär- und Wirtschaftsmacht des jeweiligen Landes ablösen lässt.
Paul Celan schrieb in der Sprache der Mörder seiner Familie seine Chiffre-Gedichte. Nicht, weil er überlebt hat, sondern trotzdem.
Ich schreibe in der Sprache, in der ich den größten Klärungsbedarf verspüre, die größten Fragen, Unwissen, Missverständnisse bei mir selbst wie auch bei meinem Gegenüber. Sie ist gekennzeichnet vom Bewusstsein der Differenz und Begrenztheit individueller Perspektiven, denn Augenhöhe kann sich nur dann einstellen, wenn nicht mehr davon ausgegangen werden wird, jemanden je vollumfänglich verstehen zu können.
Zitierweise: Jelena Jeremejewa, "Sprachlosigkeiten - Ein Essay über Vergangenheit & Herkunft", Deutschland Archiv vom 19.05.2023. www.bpb.de/deutschlandarchiv/521138. Alle Beiträge sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen AutorInnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Jelena Jeremejewa ist freie Autorin, Regisseurin für Dokumentarfilme und Archivkünstlerin. Sie wurde in Kiew geboren und kam als Jugendliche 1994 nach Deutschland. In ihren Dokumentarfilmen „Der Ernst des Lebens“(SWR) und „Irgendwo dazwischen“ (WDR) thematisiert sie Fragen systemischer Bildungsungerechtigkeit und Chancenungleichheit unter Jugendlichen mit Migrationserfahrung. In "Orlando oder eine kurze Geschichte der Mittelklasse" (2022) wird das Narrativ der Mittelklasse aus einer weiblichen Perspektive visuell weitergedacht und über die spezifisch deutsche Sicht hinaus befragt. Sie lehrt dokumentarische Filmpraxis an der Bauhaus-Universität Weimar und an der Hochschule Darmstadt. 2022 erschien ihr Ukraine-Tagebuch „Seit September will ich nach Kiew“.
Über ihre Lebenssituation seit Ausbruch des Krieges schrieb Jelena Jeremejewa im November 2022 in der Zeit :
„…Ich habe in all dem Unglück das Glück, zwei Zuhause zu haben. Im ersten herrscht Krieg, im zweiten lebe ich mein Doppelleben. Tagsüber gehe ich meinem Alltag nach, grüße freundlich, bringe und hole Kinder, kaufe ein, koche und räume abends die Küche auf. Ich kann nicht mehr auf die Frage antworten, wie es mir geht. So murmele ich etwas vor mich hin, in der Hoffnung, dass nicht nachgefragt wird. Denn ich ertrage diese traurigen, mitleidigen Gesichter nicht und bin dankbar für jede noch so scheinbare Normalität, in der ich ungestört verdrängen kann. Manchmal wache ich nachts auf und aktualisiere 20-mal meinen Twitter-Feed, in der Sorge, vernichtet worden zu sein und es verschlafen zu haben. Nicht physisch, aber seelisch. Für mich hat am 24. Februar 2022 mein persönlicher Dritter Weltkrieg begonnen und es ist kein Ende in Sicht. Für die Menschen hier ist es nur "ein Krieg". Für mich ist er "der Krieg" und diese ständige Diskrepanz überfordert mich.“
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