Zeitenwende – Zeit der Verantwortung
Aspekte der Rolle von Bundeskanzler Olaf Scholz seit Kriegsbeginn
Christiane Bender
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Mit der Verurteilung Russlands als Aggressor verkündete drei Tage nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine im Februar 2022 der Bundeskanzler eine „Zeitenwende“ für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik. Fand damit ein Wandel von der bisherigen Gesinnungs- zur Verantwortungspolitik statt? Und griff Olaf Scholz dabei auf Grundgedanken des Soziologen Max Weber aus dem Jahr 1919 zurück? Eine Betrachtung von Christiane Bender, sie ist Geistes- und Gesellschaftswissenschaftlerin und lehrte als Professorin für Soziologie an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg.
1. Überblick: Zeitenwende zu einer Politik der Verantwortung
„Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents.“ Mit diesem Satz leitete der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland seine Regierungserklärung am 27. Februar 2022 ein, drei Tage nach dem Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Als Konsequenz auf das erschütternde Ereignis kündigte er eine Neuausrichtung der deutschen Politik zu mehr außen- und sicherheitspolitischer Verantwortung an, verknüpft mit dem Begriff Zeitenwende. Ein Jahr später würdigte der Historiker Heinrich August Winkler diesen Politikansatz als „verantwortungsethisch“, da er durch umfassende Bedenken der möglichen Folgen von Entscheidungen gekennzeichnet sei.
Das zugrunde liegende Verständnis von Verantwortungs- und Gesinnungsethik geht auf den Vortrag Max Webers „Politik als Beruf“ während der Zeitenwende 1918/19 zurück, in der Umbruchphase am Ende der Monarchie, als Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg und der Novemberrevolution zur Demokratie fand. Damals ging der Heidelberger Soziologe davon aus, dass politisch einflussreiche Strömungen sich künftig in Deutschland mit den beiden Begriffen qualifizieren ließen. Dazu später mehr.
Im Bewusstsein drohender Gefahren ermahnte der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck bereits 2014 auf der Münchner Sicherheitskonferenz die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, mehr Verantwortung zu übernehmen. Kurze Zeit später annektierte Wladimir Putin völkerrechtswidrig die Krim. Gauck wies seinerzeit daraufhin, dass Gutes zu beabsichtigen, das zu gegebener Zeit dafür benötigte Tun aber zu unterlassen, besonders für das global vernetzte Deutschland und seine Bündnispartner zu Verwerfungen und gravierenden Störungen führen könne: „…zu glauben, man könne in Deutschland einfach weitermachen wie bisher - das überzeugt mich nicht“. Aber ein wahrnehmbares Umdenken folgte damals noch nicht. Erst acht verlorene Jahre später, im Februar 2022.
2. Die Regierungserklärung zur Zeitenwende 2022 als Meisterleistung?
Nun artikulierte Olaf Scholz nicht nur klare Worte des Mitgefühls, sondern auch der Analyse und der Verurteilung des Aggressors. Emotional beschrieb er den Schmerz der ukrainischen Bevölkerung und bekundete die Solidarität der Deutschen. Er machte deutlich, dass Präsident Putin mit seiner Invasion in ein unabhängiges Land mit dem Ziel, wieder ein russisches Imperium zu errichten, die europäische Friedensordnung mit ihrer Orientierung an der Schlussakte von Helsinki zerstört habe:
„Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen. Allein mit den bisherigen Mitteln der deutschen Politik, mit Verhandlungen und Sanktionen, kann man den Vormarsch nicht aufhalten“.
Die Unterstützung der Ukraine liege daher in Deutschlands eigenem Interesse. Scholz formulierte fünf Handlungsaufträge für die deutsche Regierungspolitik, die bis heute bestehen:
die Ukraine mit Waffenlieferungen zu unterstützen;
die Verschärfung der Sanktionen zusammen mit der EU, um den Präsidenten der Russischen Föderation von seinem Kurs abzubringen;
die Beistandspflichten Deutschlands in der NATO zur Verteidigung des Bündnisgebiets zu erfüllen, dazu gehört die Verstärkung von Einsatzverbänden im mittel- und osteuropäischen Raum;
durch ein Sondervermögen für die Bundeswehr deren Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung zu erhöhen und technologische, infrastrukturelle und waffentechnische Ausstattungsdefizite zu beheben. Die jährlichen Verteidigungsausgaben sollen absehbar das NATO-Ziel erreichen; insgesamt gelte es, die allgemeine Resilienz des Landes in der Außen-, Sicherheits- und Energiepolitik neu auszurichten und dabei die ökologischen Ziele für die Beherrschung des Klimawandels zu beachten;
entsprechend dem Willen der Deutschen zu friedlichen Lösungen und zu diplomatischen Lösungen beizutragen, wozu aber ein naives „Reden um des Redens willen“ nicht zielführend sei.
Das skizzierte Tableau enthielt etliche Tabubrüche mit den bis dahin relevanten offiziellen und inoffiziellen Leitlinien deutscher Außenpolitik: keine Waffen in Krisengebiete zu liefern und insbesondere seit der Wiedervereinigung eine russlandfreundliche Entspannungspolitik zu betreiben.
Der Kanzler schuf mit seiner Regierungserklärung Vertrauen in seine Beurteilungs- und Handlungsfähigkeit, die von ihm skizzierte schwierige Gratwanderung zu meistern: einerseits die Ukraine mit Waffen zu unterstützen und sich dabei gemeinsam mit Deutschlands Bündnispartnern dafür einzusetzen, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren darf, andererseits darauf zu achten, dass Deutschland und die NATO nicht zur Kriegspartei werden. Eine Haltung, die bis heute anhält.
In seiner Regierungserklärung am 27. Februar 2022 verlieh Scholz seiner Hoffnung Ausdruck, dass sich die russische Bevölkerung nicht in Putins Kriegspropanda einbinden lasse und die in der Nachkriegsgeschichte erreichte Aussöhnung zwischen Deutschen und Russen künftig erhalten bliebe. Diesbezüglich sorgenvolle Menschen hierzulande beruhigte er damit.
Es gelang dem Kanzler, für seine Politik sowohl transatlantisch orientierte als auch bislang Russland gewogene Kreise in seiner Partei und in der Bevölkerung zu gewinnen. Keine leichte Aufgabe, denn über Generationen hinweg gibt es in Deutschland einflussreiche Trägergruppen, die eine weithin verbreitete Sympathie mit Russland hegen bei gleichzeitiger Skepsis gegenüber den angelsächsischen Ländern, insbesondere gegenüber den Vereinigten Staaten.
Der Kanzler erhielt spürbar Zustimmung aus verantwortungs- und gesinnungsethischen Strömungen in der Bevölkerung, die die deutsche Politik mitprägen. Max Weber stieß auf solche signifikanten Unterschiede bereits am Ende des Kaiserreichs in seinen Analysen über das Politikverständnis in den damaligen Parteien und bei ihren Wortführern. Kommunikationswissenschaftlich lässt sich die Regierungserklärung von Olaf Scholz vom 27. Februar 2022 als Meisterleistung betrachten: Der Begriff Zeitenwende fungierte als gelungener Deutungsrahmen (Framing), Themen, Werturteile und Handlungsoptionen in einem nachvollziehbaren Zusammenhang zu verbinden, den sich die Zuhörerschaft zu eigen machte.
Semantisch bezog und bezieht sich „Zeitenwende“, anders als der Begriff Epochenbruch, nicht nur auf das Ende einer historischen Phase, sondern auch darauf, dass das bisherige Zeitkontinuum gewendet wird, ohne vollständig aufzuhören:
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Die nach der Wiedervereinigung und dem Ende der Sowjetunion gehegte Vorstellung von einer europäischen Friedensordnung, zu der die Partnerschaft mit Russland gehört, trifft nicht mehr zu; es besteht aber dennoch die Erwartung, dass nach dem Zurückdrängen der Zerstörungswut des russischen Aggressors ein Wandel zu einem neuen Frieden in Europa auf völkerrechtlicher Grundlage zustande kommt, der dann allerdings sicherheitspolitisch vor Russland geschützt werden muss.
Als performative Sprachhandlung eines mit Richtlinienkompetenz ausgestatteten Bundeskanzlers handelte es sich nicht nur um eine Rede, sondern um den Beginn einer neuen Politik. Zudem etablierte der Begriff Zeitenwende in der mediengestützten Öffentlichkeit ein Deutungs- und Kommunikationsuniversum für Verständigung, Meinungs- und Willensbildung.
Binnen eines Jahres, gekennzeichnet von diversen, sich überschneidenden Krisenkommunikationen, brachte die Regierung in der Tat vieles auf den Weg, um die Ukraine zu unterstützen, die Energieversorgung in Deutschland zu gewährleisten und eine in der Bundeswehr seit Langem erstrebte Trendwende sowie Koalitionen in der EU und weltweit gegen den Aggressor aus Moskau zu schmieden.
Aber eine globale Sicherheitsstrategie, die über Jahrzehnte vernachlässigt, treffender ausgedrückt: für überflüssig erachtet wurde, nun unter dem Druck eines heißen Krieges in Europa mit seinen nicht zu verleugnenden Risiken, aus der Taufe zu heben, das bekam bislang auch ein Kanzler Olaf Scholz nicht hin, selbst wenn man ihm „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß“ (Max Weber) nachsagt.
Zwischen 2002 und 2009 hatte er als Bundesminister für Arbeit und Soziales in der Finanzmarktkrise ein starkes Ansteigen der Arbeitslosenzahlen durch erfolgreiche Regelungen zur Kurzarbeit verhindert. Aber angesichts der gewaltigen gegenwärtigen Umsetzungsschwierigkeiten der Politik verflüchtigt sich bisweilen das Charisma, das ihm mit seiner Regierungserklärung zuteilwurde.
Kritisiert wird, der Kanzler ließe die Öffentlichkeit im Unklaren, welche konkreten Ziele er, und das heißt Deutschland, mit einer wiederholt doch eher zögerlich wirkenden Unterstützung der Ukraine verfolge. Im Bündnis zu handeln, ersetze, so wurde und wird argumentiert, nicht die eigene Verantwortung, strategisch anzustrebende Ziele und die geeigneten Mittel dafür zu benennen und bei den eingeschlagenen Wegen zu reflektieren, was auf diese Weise erreicht werden kann. Solche Debatten drehen sich seit längerem im Kreis. Hilft da der Blick in eine „Lieblingslektüre“ des Kanzlers, seine schwierige Lage zu begreifen?
3. Verantwortung und Gesinnung – Max Weber und Olaf Scholz
Anfang Dezember 2022 posierte Scholz auf einem seitengroßen Foto im Spiegel, wie er die Reclam-Ausgabe von Max Webers „Politik als Beruf“ hervorzieht, offensichtlich um der Leserschaft zu demonstrieren, dass er das Büchlein, möglicherweise als Ratgeber, immer bei sich trage. Zwei Jahre hatte der Spiegel Scholz erstmals gezeigt, Max Webers „Politik als Beruf“ lesend.
Diese Interpretation würde insofern passen, als der Text die ausgearbeitete und ergänzte Rede vom 28. Januar 1919 in München umfasst, die Weber während der heftig umkämpften Zeitenwende hielt: Das Kaiserreich war beendet und die Etablierung der ersten Demokratie in Deutschland, der Weimarer Republik, nahm Fahrt auf.
Damals prognostizierte der Heidelberger Universalgelehrte, der bisherige traditionsgebundene (preußische) Führungsstil in der Politik würde Vergangenheit werden und die Zukunft werde Politikern gehören, die sich entweder gesinnungs- oder verantwortungsethisch verhielten.
Noch heute wird diese binäre Typologie gern zur Beurteilung von Führungspersönlichkeiten in der Politik verwendet:
Gesinnungsethiker versprechen den Wählenden, sozialmoralisch anerkennenswerte Ziele und Werte zu erfüllen, aber sie verkennen oder ignorieren bewusst die Bedeutung von Mitteln und Maßnahmen, die dabei zum Einsatz kommen müssen.
Verantwortungsethiker hingegen definieren ihre Ziele in Hinblick auf die Mittel, insbesondere „auf das Mittel der legitimen (das heißt: als legitim angesehenen) Gewaltsamkeit“ (Max Weber), wofür Politiker in staatlichen Spitzenämter (und nur sie) zuständig sind. Sie ziehen Wechselwirkungen zwischen der Bestimmung von Zielen, dem Einsatz der Mittel und den lang- und kurzfristig zu erwartenden Folgen der Umsetzung ihrer Politik in Betracht.
Olaf Scholz, wie Wolfgang Schäuble auch ein Protagonist der Politik der „Schwarzen Null“, wird zumeist den Verantwortungsethikern zugeordnet, die nichts versprechen, was sie nicht auf eine für die Bürger und Bürgerinnen annehmbare Weise halten können, und so sieht er sich offensichtlich nach seinen Juso-Jahren selbst.
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Max Weber vertrat während der Zeitenwende 1918/1919 die Überzeugung: Wenn überkommene Institutionen und Gewissheiten den Menschen keine Orientierung mehr bieten, dann brauche es in der Demokratie eine politische Führungskraft, die auf die politische Willensbildung der Bürger und Bürgerinnen Einfluss nimmt und dessen Stellung durch Rückhalt in der Bevölkerung gestärkt wird.
Ein solcher Führer sollte auf keinen Fall machtbesessen sein, sich aber auch nicht einen machtvergessenen Anschein geben und dabei verdeckt die eigenen Ziele verfolgen oder gar Gewaltausbrüche im Namen der Gewaltfreiheit billigen.
Weber kritisierte, das politische Spektrum seiner Zeit vor Augen, vor allem die seiner Meinung nach gesinnungsethisch agierenden räterepublikanischen Strömungen, darunter die pazifistischen und Bolschewiki-freundlichen Abspaltungen der SPD. Ihr revolutionärer Anspruch kaschiere geschickt ihren eigenen Machtanspruch, den ihre Politiker wie ihre Vorbilder mit den gleichen Gewaltmitteln durchsetzen wie „irgendein militaristischer Diktator“ (Max Weber).
4. Frieden und Entspannung – auf gesinnungs- oder verantwortungsethische Weise zu erreichen
Von diesem Argument könnte sich Olaf Scholz bei genauerer Lektüre unangenehm berührt fühlen: Wie keine andere Partei schreiben sich SPD-Mitglieder eine Gesinnung zu, die den Werten Frieden und Entspannung verpflichtet ist. An der sicherheits- und außenpolitischen Umsetzung dieser Werte hat die Partei zu Willy Brandts Zeiten verantwortungsethisch mitgewirkt. Allerdings konzentrierte sie sich danach auf ihre Beziehungen zu den offiziellen Machthabern des Warschauer Pakts und betrachtete oft Dissidenten als unerwünschtes Risiko für die Stabilität dieser Länder und die Übereinkünfte mit Deutschland.
Nach der Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 sah die SPD in dem ehemaligen KGB-Offizier Wladimir Putin, der seine Wahl zum russischen Präsidenten 1999 mit der Anordnung von Terroraktionen als Auslöser für seinen Krieg gegen Tschetschenien gewonnen hatte, einen besonders geeigneten Partner für Freundschafts- und Handelsbeziehungen mit Deutschland.
Daran änderte auch die weitere Blutspur Russlands nichts, die von Georgien über Transnistrien und Syrien zur Ukraine verlief. Die SPD verteidigte sogar die Position des „militaristischen Diktators“, der seine Einflusszone beherrschen müsse, auch wenn es sich dabei um souveräne Staaten handele.
Der „guten“ Gesinnung entsprach immer weniger eine verantwortungsethische Realitätswahrnehmung und Politik. Schrittweise fädelten SPD-Genossen wie Gerhard Schröder die Rohstoffabhängigkeit Deutschlands von Russland mit ein. In den letzten Merkel-Kabinetten der Jahre 2014-2021 dienten sozialdemokratische Minister in der Außenpolitik (aus dem Umfeld von Olaf Scholz) dem hehren Ziel, den Frieden in Europa zu erhalten. Die allmähliche Veränderung der Weltlage führte aber keineswegs dazu, dass sie daraufhin in der Regierung oder in der Partei dafür eintraten, dass sicherheitspolitisch die geeigneten Maßnahmen ergriffen werden, um gegen die wachsende Bedrohung gerüstet zu sein und zusammen mit den Bündnispartnern den Frieden schützen zu können.
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Außenpolitisch wurde an der „Freundschaft zu Russland“ als vorrangig probate Methode und wirtschaftspolitisch an der angeblichen Friedensformel „Wandel durch Handel“ festgehalten. Deutschland finanzierte dadurch die Großraum-Politik des „imperialistischen Diktators“ indirekt mit.
Obwohl die Krim bereits völkerrechtswidrig annektiert worden war, viele Opfer durch die völkerrechtswidrigen Eroberungen Russlands in der Ostukraine zu beklagen waren, mittel- und osteuropäische Staaten Alarm schlugen und Bündnispartner in der NATO vor weiteren Bedrohungen warnten, wurde das dichte freundschaftlich-privatwirtschaftlich-politische Netzwerk der SPD mit Russland rund um den Bau von Nord Stream 2 noch vertieft.
Als Finanzminister der Merkel-Regierung verweigerte Olaf Scholz (2018) die Budgeterwartungen der Verteidigungsministerin zur Durchführung einer dringend erforderlichen „Trendwende“ der Bundeswehr, deren Landes- und Bündnisverteidigungsfähigkeit infrage stand. Zugleich setzte Olaf Scholz sich dafür ein, das Projekt Nord Stream 2 rasch über die Bühne zu bringen. Es sei rein „privatwirtschaftlich“ wurden Mahnungen auch aus dem Ausland übertönt.
Als Kanzler der Ampel-Koalition demonstrierte Olaf Scholz mit der Besetzung des Verteidigungsressorts, dass der Sicherheitspolitik weiterhin keine größere Bedeutung eingeräumt werden würde. Erst die Regierungserklärung des Kanzlers zur Zeitenwende veränderte 2022 die Wahrnehmung der Bundeswehr in der Politik und in der Bevölkerung. Der Abwägungsprozess zwischen der Unterstützung der Ukraine und der Berücksichtigung der ohnehin schon nicht vollumfänglich gegebenen Einsatzfähigkeit der Bundeswehr warf und wirft nun große Schwierigkeiten auf – und bringt auch einen Verantwortungsethiker an seine Grenzen. Die besondere Bedeutung der Verantwortung eines Politikers oder einer Politikerin für die Mittel, vor allem für die innere und äußere Sicherheit, lässt sich auch auf die Situation der Zeitenwende anwenden: Wenn mehrere Kabinette hintereinander zwar gesinnungsethisch den Erhalt des Friedens propagierten, es aber tatsächlich darauf anlegten, die Friedensdividende durch eine Reduktion der Ausstattung der Bundeswehr zu erzielen (Reduktion der Waffensysteme, Abbau der industriellen Fertigungsanlagen, Aufgabe der übergreifenden logistischen Systeme, Abbau des einsatzfähigen Personals, Aussetzung der Wehrpflicht, Vernachlässigung der Innovations- und Forschungsförderung, Verdrängung der Anliegen der Parlamentsarmee Bundeswehr aus der öffentlichen Kommunikation und Tabuisierung sicherheitspolitischer Themen), dann hat jede nachfolgende Regierung, die sich mit einem Krieg in Europa konfrontiert sieht, ein zentrales Problem, überhaupt verantwortlich handeln zu können:
Angesichts einer schweren Bedrohungssituation fehlen ihr die Mittel für eine stabil materialisierten und organisierten Verteidigungsfähigkeit und für eine Sicherheitspolitik, die auf den Angreifer abschreckend wirkt. Scholz muss nun jene Suppe auslöffeln, die auch er mit eingebrockt hat.
Einige SPD-Politiker handelten als Kanzler besonders verantwortungsethisch und nahmen dafür die Ablehnung ihrer Partei in Kauf: Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt betonte stets, seine Politik sei auf den Erhalt des Friedens ausgerichtet, aber als Befürworter des NATO-Doppelbeschlusses verlor er seinerzeit den Rückhalt in seiner Partei.
Ähnlich erging es Gerhard Schröder 2003 mit der Modernisierung der Arbeitsmarktpolitik: Seine an Deutschlands Wohlstand ausgerichtete „Agenda 2010“-Politik führte eine dringend benötigte Reform herbei, die in der Folge den Zugang zum Arbeitsmarkt für Millionen Menschen erleichterte. Teile seiner Partei demonstrierten wochenlang gegen ihn, aber als Protagonist einer forcierten Abhängigkeit der Energieversorgung Deutschlands von Russland konnte er auf ein aktives sozialdemokratisches Unterstützungsnetzwerk bauen.
In Anbetracht dessen wird Deutschland von ausländischen Beobachtern oftmals eine romantische Gesinnungsethik vorgeworfen, aber es ist auch romantisch zu glauben, dass Olaf Scholz von heute auf morgen dieses Orientierungsmuster in sich, in seiner Partei und in der Bevölkerung überwinden kann.
5. Max Weber und seine Vorstellung eines plebiszitär gewählten Reichspräsidenten
Möglicherweise schätzt Olaf Scholz bei seiner Vorliebe für den Klassiker Max Weber auch dessen Persönlichkeit. Webers Biographie entsprach dem von ihm selbst entworfenen Typus eines Menschen mit Berufung, der sich mit großer Leidenschaft ein Leben lang einer „Sache“ hingibt. Bei Weber war es die Wissenschaft, bei Scholz ist es die Politik – also ein Mensch mit Berufung, der nach den dabei zu erlangenden Weihen strebt und von seiner Umwelt Anpassung an die eigene Charakterprägung einfordert.
Allerdings verfolgte Max Weber am Ende des Kaiserreichs kurzzeitig einen anderen Karrierewunsch: Nachdem er all die Jahre kritisiert hatte, dass der seiner Meinung nach zu geringe Einfluss des Reichtags auf die Regierungspolitik Parteien hervorbringe, die vorwiegend Ämterpatronage und Gesinnungskämpfe betrieben, konnte er sich während des Aufbruchs zur Republik für sein persönliches Leben eine existenzielle Wende vom Schreibtisch in die Arenen politischer Kämpfe vorstellen.
In der Zeitenwende 1918/19 war Weber daher mit Beratungen, Vorträgen, Artikeln und als Wahlkämpfer für die Deutsche Demokratische Partei in der Öffentlichkeit präsent. Es gelang ihm jedoch nicht, in die Nationalversammlung abgeordnet zu werden. In Friedrich Eberts Übergangskabinett ging die Position des Staatssekretärs im Reichsamt des Inneren zur Ausarbeitung der neuen Verfassung, für die er im Gespräch war, an den Staatsrechtler Hugo Preuß.
Aber: Hugo Preuß holte Weber zu den entscheidenden Sitzungen im Dezember 1918 hinzu. Dort brachte er seine Lieblingsvorstellung vom plebiszitär gewählten Reichspräsidenten ein, der über dem Parlament und über den Parteien stehen sollte. Dieses Konzept bildet, wie nachzulesen ist, den Fokus in seiner Rede „Politik als Beruf“. Darin schreibt Weber, dass der Politiker seine „Hand in die Speichen des Rades der Geschichte“ lege. Das blieb ihm selbst zwar verwehrt, aber an der Führung der Hand von Hugo Preuß war er als Spiritus Rector der Idee des plebiszitären Reichspräsidenten beteiligt. In der Weimarer Verfassung wurde festgehalten, dass der Reichspräsident weitreichende Vollmachten zur Durchsetzung seiner Politik erhielt.
In diese Tradition kann und will sich ein mit Richtlinienkompetenz ausgestatteter Kanzler wie Olaf Scholz nicht stellen. Er braucht für seine Politik die mehrheitliche Zustimmung im Parlament, die Unterstützung seiner Koalitionspartner, am besten auch die gesinnungsethischen Strömungen in seiner Partei und in der Bevölkerung. Außerdem ist Übereinstimmung mit den Bündnispartnern in Fragen der Außenpolitik angebracht, die er derzeit offenkundig sucht, insbesondere wahrnehmbar bei den jüngsten Kampfpanzerlieferungen aus Deutschland und den USA an die Ukraine.
In Zeiten eines in Europa stattfindenden Großkriegs ist die Geschlossenheit des Vorgehens besonders wichtig. Kompromissfähigkeit hilft dabei mehr als Charisma im Sinne von Weber. Ob allerdings ein verantwortungsethisches und auf keinen Fall überstürztes Handeln in knapper Zeit und großer Unsicherheit die sicherheitspolitischen Versäumnisse zu kompensieren vermag, bleibt ungewiss. Am Ende einer Zeit, in der jemand, der sich mit militärischen Fragen beschäftigt hat, bereits als „Militarist“ galt, fehlt es heute an den Universitäten (von wenigen Ausnahmen abgesehen) an diskursfähigem Wissen zur Analyse, Aufklärung und Beratung, die Scholz nutzen könnte.
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Auch für einen geläuterten Verantwortungsethiker werden die mehr oder weniger mitverschuldeten Versäumnisse der Vergangenheit zum Problem seines verantwortlichen Handelns in der Gegenwart.
6. Die eindringliche Warnung eines charismatischen, aber machtlosen Bundespräsidenten - und Verantwortungsethikers
Ausgerechnet ein deutscher Bundespräsident, dessen Position in bewusster Abkehr von der Position des Reichspräsidenten der Weimarer Republik die Einheit des Staates „lediglich“ repräsentiert, politisch aber weder Macht noch Verantwortung gegenüber dem Parlament besitzt, hat vorausschauend schon am 31. Januar 2014, wenige Wochen vor der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim und des Donbass, eine Zeitenwende in der deutschen Sicherheitspolitik angemahnt.
Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck (2012-2017), ein vom Eintreten für Freiheit und Verantwortung durchdrungener charismatischer Sympathieträger, eröffnete mit seiner Rede „Deutschlands Rolle in der Welt: Anmerkungen zu Verantwortung, Normen und Bündnissen“ die 50. Münchner Sicherheitskonferenz. Wie keine andere öffentliche Persönlichkeit sprach und spricht Gauck oftmals von der Verantwortung, die Freiheit zu erhalten. Lebensgeschichtlich hat er den Freiheits- und Bürgerrechtsentzug durch die DDR-Diktatur selbst durchlitten und den Aufbruch in die Freiheit während der Zeitenwende von der friedlichen Revolution zur Wiedervereinigung verantwortungsbewusst mitgestaltet. Nun riet er mit Blick auf Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik zu überlegen, was wir heute zu verändern haben, damit „morgen bleibt, was uns wesentlich ist“.
Ausbalanciert und doch unmissverständlich wies Gauck die Bundesrepublik darauf hin, dass sich ihre Beurteilung der Weltlage, ihr Selbstverständnis und ihr Beitrag zur Lösung der sich herauskristallisierten Bedrohungsszenarien nicht auf der Höhe der Zeit befänden. Trotz überdurchschnittlicher ökonomischer Globalisierung gebe Deutschland keine Antwort darauf, dass einige Weltmächte sich nicht an die regelbasierte Weltordnung hielten. Hingenommen werde, dass die einzige noch verbliebene Supermacht ihr Engagement in Europa überdenke, aber Europa leite keine ernstzunehmenden Maßnahmen ein, sicherheitspolitisch mehr Eigenverantwortung zu übernehmen. An der NATO halte Deutschland fest, aber „ihrer finanziellen Auszehrung“ würde nichts entgegengesetzt, und die Schwierigkeiten der Vereinten Nationen, Konflikte beizulegen und die globalen Akteure in ihr Regelsystem einzubinden, blieben ungelöst.
Trotz vielfältigen Engagements, so fuhr Gauck fort, habe Deutschland die Entschlossenheit gefehlt, mehr zu tun „für jene Sicherheit, die ihr von anderen seit Jahrzehnten gewährt wurde“. Mehr Verantwortung in der Außen- und Sicherheitspolitik bedeute mehr Mitverantwortung. Dazu gehöre auch, eine angemessene Verteidigungsfähigkeit bereitzustellen. „Politiker müssen immer verantworten, was sie tun. Sie müssen aber auch die Folgen dessen tragen, was sie unterlassen.“ Und dass Deutschland viel unterließ, daran zweifelte Joachim Gauck nicht. Sein Hinweis, dass überhaupt nur „eine Handvoll Lehrstühle für die Analyse deutscher Außenpolitik“ zuständig sei, bekam Aktualität angesichts der gegenwärtigen Hilflosigkeit im öffentlichen Diskurs, strategische Ziele und taktische Schritte zu erörtern, abzuwägen und etwas komplexer zu argumentieren, als sich an der „Panzerfrage“ eher wichtigtuerisch abzuarbeiten und zu positionieren.
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Ohne den Begriff Zeitenwende zu gebrauchen, forderte Gauck 2014 von den Deutschen, Bündnisverantwortung gleichberechtigt zu übernehmen und sich weder auf eine Sonderrolle mit einem „Recht auf Wegsehen“ (Heinrich August Winkler) zu berufen noch sich durch ein letztlich bequemes Selbstmisstrauen zurückzuhalten. „Nur wer sich selbst vertraut, gewinnt die Kraft, sich der Welt zuzuwenden.“ Und nur der sei für seine Partner verlässlich.
Der damalige Bundespräsident hielt eine kunstvolle Rede voller Lob und behutsamen Tadels, seine Autorität war die des Wortes, nicht die des mit politischer Handlungsmacht ausgestatteten Amtes. Sein Publikum aus dem In- und Ausland verstand seine Botschaft, auch die Rede der damaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zielte auf der Konferenz in die gleiche Richtung. In außen- und sicherheitspolitischen Kreisen der EU und der NATO, die bereits das russische Bedrohungsszenario deutlich wahrnahmen, atmete man erleichtert auf: Der „Münchner Konsens“ war geboren, voller Hoffnung auf eine Kehrtwende in der Landes- und Bündnisverteidigung.
Der Verteidigungsministerin von der Leyen gelang 2016 dazu ein Programm, um wenigstens den weiteren Personalabbau in der Bundeswehr zu stoppen. Dann wechselte das Kabinett und die Pläne wurden erst einmal auf Eis gelegt. Der Münchner Konsens platzte und Deutschland stagnierte in der Bündnispolitik.
Seit dem 24. Februar 2022 müssen Deutschland, sein Kanzler und die europäischen und internationalen Bündnispartner wieder an dem damals erzielten Geist ansetzen und ihn weiterentwickeln.
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Putins Aggression hat katalysiert, dass die demokratischen Gesellschaften verstärkt und nachholend für ihre Resilienz, jede für sich und alle gemeinsam Verantwortung, übernehmen müssen. Nicht die Utopie, sondern die Worst-Case-Szenarien-Analyse ist dabei hilfreich.
„Mehr Verantwortung“ hieß damals die Losung – von Max Weber zu lernen, heißt auch zu bedenken, wer zu lange zögert, zu handeln, lässt zu, dass Gegenmächte siegen.
Zitierweise: Christiane Bender, "Zeitenwende – Zeit der Verantwortung. Aspekte der Rolle von Olaf Scholz seit Kriegsbeginn", Deutschland Archiv vom 10.05.2023. Alle Beiträge sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen AutorInnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Dr. rer. pol. habil., Dr. phil., Dipl.-Soz.; ehem. Soziologie-Professorin an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg, Holstenhofweg 85, 22043 Hamburg. E-Mail Link: bender@hsu-hh.de. Im Mai 2023 erscheint in Baden-Baden ihr gleichnamiges Buch "Zeitenwende - Zeit der Verantwortung".
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