Ein Ende des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine ist noch immer nicht in Sicht. Er war auch Anlass großer Demonstrationen am 24. und 25. Februar 2023 in Berlin.
Deren entscheidende Botschaften konnten gegensätzlicher nicht sein: Unter dem Motto „Das Ungeheuerliche nicht hinnehmen“ demonstrierten mehrere Tausend Exil-Ukrainer*innen, deutsche und internationale Unterstützer*innen der Ukraine und die sogenannte Allianz ukrainischer Kräfte in Deutschland „Vitsche“ am Jahrestag des mörderischen Überfalls. Vorwürfen, „Bellizisten“ und Kriegstreiber zu sein, traten die Veranstalter mit der Botschaft entgegen, dass jeder Krieg eine humanitäre Katastrophe sei, in diesem Fall aber der Weg zu einem gerechten Frieden nur über das Scheitern der russischen Aggression führen könne. Die demokratische Welt müsse ihr Gewicht in die Waagschale werfen, damit die Ukraine diesen Verteidigungskrieg gewinnen kann. Deutschland als stärkste Macht in Europa trage dabei eine besondere Verantwortung.
Im Gegensatz dazu stand anderntags das von der Linken-Politikerin Sarah Wagenknecht und der Frauenrechtlerin Alice Schwarzer initiierte „Manifest für den Frieden“ im Mittelpunkt, welches am 17. Februar 2023 als Offener Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz gerichtet worden war und schnell öffentlichen Widerhall fand. Bis Ende Februar unterzeichneten mehr als 700.000 Unterstützer*innen das Manifest, von denen sich ebenfalls einige Tausend an der Großdemonstration in Berlin und an zahlreichen lokalen Demonstrationen beteiligten. Ukrainer*innen waren allerdings auffallend wenig darunter. Wagenknecht und Schwarzer nahmen die Zustimmung und Beteiligung von Querdenkern und Rechtextremisten zu ihrem Manifest und ihre Teilnahme an der Demonstration in Kauf, auch wenn sie sich verbal gegen den Schulterschluss mit ihnen wandten. Im Aufruf zur Demonstration wurde die Aggression gegen die Ukraine lediglich in einem Einleitungssatz verurteilt und nicht wenige kritisierten, dass hier eine Verkehrung der Täter-Opfer-Perspektive vorgenommen worden ist. Auch die Frage nach dem genauen Charakter des Regimes, dem sich die Ukraine, dem sich der Westen gegenübersieht, bleibe verharmlosend außen vor.
Der Historiker Herfried Münkler, der in Sachen Ukraine selbst lange skeptisch war, bezeichnete das Manifest für den Frieden daher in einem Interview mit dem NDR als „puren Zynismus“.
Der Charakter des Regimes
Auch für Beobachter*innen, die seit langem mit Osteuropa vertraut sind, ist das Bild längst klar: Für Timothy Snyder, Timothy Garton Ash oder Anne Applebaum ist Wladimir Putin, der Verursacher dieses Krieges, ein Massenmörder und Faschist. Sie betonen den totalitären Charakter des russischen Systems. Viele Stimmen der russischen Opposition folgen ihnen, während andere noch immer vor einem solch zugespitzten Urteil zurückschrecken. Das Gegenargument lautet: Die Faschismuskategorie sei historisch besetzt und dürfe nicht unangemessen übertragen werden. Dies führe zu einer „Reductio ad Hitlerum“, zu einer Relativierung des Nationalsozialismus. Geschichte werde in den Dienst der Propaganda gestellt.
Dabei ist die kategorische Vermeidung des Faschismusvorwurfes eine ebenso große Gefahr wie deren Inflationierung. Letztlich geht es hier nicht um eine terminologische Debatte, sondern um die Inhalte von Politik und die Folgerungen daraus für den Umgang mit einem Terrorregime. Um die Frage, was die Entwicklung des russischen Regimes von seiner autokratischen Phase, welche die ersten Jahre Putins an der Macht bestimmte, bis zu seinem jetzigen totalitären Zustand ausmacht. Diesem Problem stellt sich unter anderem der Soziologe Claus Leggewie in einem Beitrag für das von Stephane Courtois und Galia Ackerman herausgegebene „Schwarzbuch Putin“.
Courtois hatte bereits zum 80. Jahrestag der Oktoberrevolution im November 1997 ein „Schwarzbuch des Kommunismus“ herausgegeben, eine Aufsatzsammlung zu Verbrechen, Terror und Unterdrückung im internationalen Machtbereich des Kommunismus. In der auf das Buch folgenden heftigen Kontroverse mussten sich Courtois und seine Mitautoren, darunter Joachim Gauck, des Vorwurfs der unzulässigen Gleichsetzung von Kommunismus und Faschismus/Nationalsozialismus erwehren. Die Singularität des Holocaust stellte jedoch keiner der Autoren des Sammelbandes in Frage.
Die Zeitgeschichtsforschung stuft den Faschismus mittlerweile als Globalphänomen ein. Er wird zu einer der Regimeformen totalitärer Herrschaft. Auf Russland bezogen, haben wir verschiedene Zeitphasen und Entwicklungsstufen einer mittlerweile mehr als zwanzig Jahre währenden Herrschaft Putins erlebt. Vom Ausbau der Machtvertikale über die immer brutalere Niederhaltung der inneren Opposition bis zur zunehmenden Aggressivität nach außen nähert man sich einem neuen Typus totalitärer Herrschaft. Das alles verbiete, so Leggewie, mittlerweile eine Einordnung des Putin-Regimes als „Autokratie“ oder „Illiberalismus“ oder dergleichen – Kategorien, die ebenso auf Ungarn oder Mali zuträfen und einer intellektuellen Verharmlosung dienten.
Ein "stalinoider" Kern, faschistoid ummantelt
Das Putin-Regime ist nach Leggewie noch nicht bei den Diktaturen Hitlers und Stalins angekommen, aber faschistoide Züge seien bei ihm ebenso erkennbar wie Anschlüsse an das sowjetische (nicht-kommunistische) Erbe, die ebenfalls nicht im strengen Sinne stalinistisch seien. Der „stalinoide“ Kern sei von einer faschistoiden Schale ummantelt (Schwarzbuch Putin, S. 127).
Für Leggewie ergibt sich daraus, dass Historiker*innen und andere mit der Zeitgeschichte befasste Theoretiker*innen ihren einäugigen Russlandkomplex aufgeben müssen – und stärker in den Blick nehmen müssten, wie die russische Föderation eines Tages liberalisiert und gegebenenfalls demokratisiert werden könnte. Diese Entwicklung müsse von innen erfolgen, werde aber auch Unterstützung von außenbrauchen. Schlimmstenfalls drohten der chaotische Zerfall Russlands und bürgerkriegsähnliche Zustände, zumal mittlerweile mehrere Privatarmeen in Russland gegründet wurden, am bekanntesten die „Gruppe Wagner“, die mit 40.000 Soldaten am Ukrainekrieg beteiligt sein soll.
„Wie der Kopf einer Mafiabande“
In einem gemeinsam mit seinem langjährigen Weggefährten Daniel Cohn Bendit verfassten Debattenbeitrag vom 19.02.2023 für die Tageszeitung
Mögliche Wege beschreiben und begehen die Russlandforscherinnen Catherine Belton und Masha Gessen, russische Dissidenten im Exil wie Leonid Wolkow und Michail Chodorkowski, der Journalist Arkadi Babtschenko und weitere Autoren. Für sie sind das Innere des Kremls und die Kreise der militärischen, politischen und industriellen Eliten um Putin herum keine undurchdringliche Black-Box. Mit Insiderwissen und akribischer Recherchearbeit dringen sie in die äußeren und inneren Ringe der Macht ein und identifizieren dort Dutzende relevante Akteure. Putin verbreite das Bild und den Nimbus des Alleinherrschers, der er in Wirklichkeit nicht sei und nicht sein könne. Eher agiere er wie der Boss einer Mafiabande, dessen Gefolgschaft solange bedingungslos zu ihm steht, wie der Erfolg ihn begleitet. Nibelungentreue in Zeiten der Niederlage kennen diese Gefolgsleute jedoch nicht. Um ihre Pfründe und Privilegien zu retten, um im Falle einer schweren Niederlage glimpflich davon zu kommen, wären sie notfalls bereit, den Anführer und einen Teil der Günstlinge um ihn herum zu opfern.
Auf Russland spezialisierte Elitenforscher*innen beschreiben die gemeinsame Illegitimität als das Bewusstsein der wechselseitigen Abhängigkeit vom existierenden System, als eine Art negativer Bindungskraft. Die kann und wird schwinden, wenn die Grundlagen des Systems ins Wanken geraten. So wie Putin durch eine verdeckte Geheimdienstoperation an die Macht gekommen ist, so könnte seine Macht auch enden. Das müsse weder durch einen klassischen Palastputsch geschehen, noch durch eine Phase von nachfolgenden Bürgerkriegen, sondern könne viel geräuschloser ablaufen. Sicherheitsgarantien für sich und seine verzweigte Familie und die Aussicht auf eine komfortable Auszeit in seinen Residenzen und Schlössern könnten Putin die Einwilligung in die „Operation Machtwechsel“ erleichtern. Nach außen könnte es dann sein Gesundheitszustand sein, der dieses plötzliche Verschwinden begründet. Der Öffentlichkeit könnte dann ein Nachfolger präsentiert werden, der nicht zu den Hauptschuldigen an den Terrororgien des Vernichtungskrieges zählt – der also eine Art neue, begrenzte Legitimität erreichen könnte.
Fehlende Kontinuität der Konsequenz
Damit das gelingt, muss der Westen konsequent in seiner Unterstützung der Ukraine bleiben, mit Sanktionen, die immer wirksamer und umfassender sind, mit einer kontinuierlich konsequenten Ächtung des russischen Terrorsystems. Dann wird sich jeder Nachfolger um den „goldenen Schlüssel“ zur Lockerung der Sanktionen bemühen; um Schritte und Konzessionen, die auf eine Liberalisierung nach innen wie nach außen hinauslaufen. Damit könnten dann auch die Kräfte der Opposition im Land und die Stimmen der zahlreichen Emigrant*innen aus Russland wieder mehr Gewicht gewinnen. Der Weg, die Kriegsschuld mit allen Konsequenzen anzunehmen, könnte beschritten werden, und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis sich Putin und seine wichtigsten Mittäter in Den Haag wiederfänden. Ein langer, aber nicht unmöglicher Weg.
Die Sorge vor einem strategischen Atomschlag, der das Regime retten könnte, geht hingegen völlig an der Mentalität der wichtigsten Akteure in Russland vorbei. Fanatiker und politische Selbstmörder prägen ideologisch bestimmte totalitäre Regime. In Russland ist es eine kollektive Bereicherungssucht in der Oligarchen- und Führungsschicht, die den Kitt des Regimes bildet. Selbstmörder und potenzielle Selbstmörder sind, einschließlich Putins, dort kaum zu finden, denn ein großer Atomschlag würde auch die Existenz Russlands in Frage stellen.
Das Drohen mit dem Atomknüppel ist vor allem ein propagandistisch wirksames Mittel zur Einschüchterung des Gegners. Putin ist kein Psychopath mit totalem Wirklichkeitsverlust. Er ist ein eiskalter rationaler Politiker, der die Mentalität und die Schwächen seiner Gegenüber einschätzt und jeden seiner Schritte bis an die kalkulierten Grenzen treibt. Zugleich ist er ein von imperialen Obsessionen zutiefst aufgewühlter und von historischen Komplexen getriebener Mensch. Obsessionen und Komplexe ließen ihn zu einer völligen Fehleinschätzung der Ukraine kommen. Im Moment hängt damit nahezu alles von der Widerstandskraft der Ukraine und dem entschlossenen Handeln des Westens ab.
Der Wille der Ukrainer*innen und die Chancen des Landes
Das vergangene Jahr hat die Gestalt und das Auftreten des ukrainischen Präsidenten Selenskyj dramatisch verändert. Aus dem TV-Entertainer, der erst in eine neue Rolle hineinwachsen musste, wurde ein Staatsmann, der schon zu Lebzeiten in die Geschichte seines Landes eingegangen ist. Die Kriegssituation ließ fast alle seine Auftritte virtuell werden, was ihnen mitunter noch mehr Eindringlichkeit verlieh, in Deutschland live zugeschaltet im März 2023 in den Bundestag oder im Februar 2023 vor das Brandenburger Tor. Er appelliert stets an die Widerstandskraft des eigenen Volkes und bittet um dringenden militärischen Beistand aus dem Westen. Mit knappen Sätzen skizziert er immer wieder seinen optimistischen Wunsch-Weg in die Zukunft, wie jüngst am 8. Februar 2023 persönlich vor Ort in der Londoner Westminster Abbey:
„Wir wissen, dass die Freiheit siegen wird. Wir wissen, dass Russland verlieren wird. Wir wissen, dass dieser Sieg die Welt zum Besseren verändern wird. Wir wissen, dass dieser Sieg zum Wichtigsten gehört, das in unsere Lebenszeit fällt.“
Stehende Ovationen und weltweite Zustimmung sind ihm in solchen Momenten gewiss. Geht es aber hierbei nicht um bloße Appelle, mit Pathos und Symbolik geladen, an Orten, die dafür eine Bühne bieten? Oder handelt es sich nicht doch um eine ernstgemeinte Bestimmung von Wegen und Zielen? Mit einem deutlich umrissenen Zeithorizont?
Viele westliche und deutsche Beobachter*innen, die der Ukraine und ihrem Kampf große Sympathie entgegenbringen, neigen weiter der skeptischeren Sicht zu. Gegen die Atommacht Russlands und seine schier unendliche Militärmaschinerie habe die Ukraine, bei aller Tapferkeit und allem Widerstandswillen, keine Chance. Sie werde, wenn es nicht zu schnellen Verhandlungen komme, in einen langandauernden „Abnutzungskrieg“ mit unendlichen Opfern versinken und keine dauerhaft ausreichende Unterstützung erhalten.
Putin und seine engsten Vertrauten, so diese Sichtweise, säßen fest im Sattel, brauchten weder Konkurrenten im Zirkel der Macht, noch eine aufbegehrende Bevölkerung zu fürchten. Die Vorstellung von einem Sieg der Ukraine und einer nachfolgend besseren Welt sei nur ein schöner Traum. Verständlich, wenn die Ukrainer daran festhielten und ihr Präsident ihnen Mut geben wolle, aber ausgeschlossen, dass es dazu käme. In dieser Skepsis sind sich auch viele deutsche Beobachter*innen und Intellektuelle einig.
Diametral unterschiedliche Einschätzungen
Hier gehen die Einschätzungen diametral auseinander, hier stimmt die Einteilung in Idealisten und Realisten nicht (mehr). Erfahrene westliche Militärstrategen und ehemalige Nato-Kommandeure wie Ben Hodges und Wesley Clark halten mittlerweile den militärischen und vor allem den politischen Sieg der Ukraine binnen der kommenden zwei Jahre für möglich. Sie sehen die Chance, Russland zu den Bedingungen der Ukraine und des Westens an den Verhandlungstisch zu bringen.
Politiker*innen, Diplomat*innen und Militärexpert*innen aus Polen, dem Baltikum und Skandinavien sehen das ähnlich, und das nicht nur aus der Situation der eigenen Bedrohung heraus. Sie denken und handeln strategisch und gehen zugleich davon aus, dass dies nicht nur ein Krieg der Ukraine, sondern der gesamten freien Welt ist, die angegriffen werde. Und sie zeigen sich sicher, dass die Ukraine, wenn sie die nötige Unterstützung erhält, gemeinsam mit den Kräften ihrer Verbündeten, den Krieg siegreich beenden kann. Das muss kein Sieg auf dem Schlachtfeld sein. Im Resultat aller Kraftanstrengungen und Konsequenzen der Verbündeten kann die Lage für Russland so instabil und hoffnungslos werden, dass es mit oder ohne Putin an den Verhandlungstisch kommt. Putin und sein Regime sehen dieser Perspektive zufolge einem zeitlich absehbaren Ende entgegen. Um dieses Ende zu beschleunigen, ist eine Gesamtstrategie der westlichen Verbündeten nötig, in der ein eigenes Kriegsziel definiert und die notwendigen Kräfte und Instrumente festgehalten werden, um es zu erreichen.
Selenskyjs Reden und Appelle werden gelegentlich begleitet von einem detaillierten Zwölf-Punkte-Rückeroberungsplan der Krim aus Kiew
Den Krieg gewinnen, aber den Frieden verlieren?
Darin erläutern die Verfasser*innen die Erwartungen und Forderungen der Ukrainer*innen in Bezug auf einen möglichen Waffenstillstand, Friedensschluss und die Zukunft ihres Landes. Sie beschreiben die eigenen Anstrengungen und Aufgaben, die notwendige Unterstützung durch die europäischen, internationalen und transatlantischen Verbündeten. Sie stellen sich auch der Frage nach den eigenen Reformaufgaben und dem künftigen Verhältnis zu einem russischen Nachbarn, der sich der eigenen schuldbeladenen Vergangenheit stellt.
Sie sprechen auch die Gefahr an, dass die Ukraine den Krieg gewinnen und dennoch den Frieden verlieren kann. Der eigene Reformprozess wird voller Konflikte sein und den Kräften der Erneuerung das Äußerste abverlangen. Demokratische Wahlen auf allen Ebenen stehen ins Haus. Innere Erschütterungen sind zu erwarten, wenn es um Rechtsstaatlichkeit, den weiteren Kampf gegen die Korruption und die Beschneidung der Einflüsse der Oligarchen geht.
Massive westliche Aufbauhilfe wird unerlässlich sein, aber die wichtigsten innenpolitischen Herausforderungen muss die Ukraine selbst meistern. Nur dann wird das Ziel einer Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union und der Nato nicht in jahrzehntelange Ferne rücken, wie das westliche Skeptiker apostrophieren. Die Leistung Deutschlands als wichtigstem Partner der Europäischen Union wird sich dabei nicht auf die militärische Unterstützung beschränken können, so wichtig diese aktuell auch ist. Die Hilfe bei der Instandsetzung kriegszerstörter Infrastruktur, aber auch bei der Stabilisierung des Demokratieprozesses und der Stärkung der demokratischen Zivilgesellschaft in der Ukraine sind gleichermaßen wichtig.
Die bislang fehlende deutsche Strategie
Viele Kritiker des zunehmenden militärischen Engagements der Bundesrepublik sprechen von einer gefährlichen Spirale, in der es nur noch um immer gefährlichere Waffensysteme gehe und eine unkalkulierbare Eskalation drohe. Einer Situation, in der die Diplomatie und die Verhandlungsbereitschaft keine Rolle mehr spielten. Sie hätten sich auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz vom Gegenteil überzeugen können. Die vom 17. bis zum 19. Februar 2023 abgehaltene Konferenz versammelt traditionell die weltweite sicherheitspolitische und diplomatische Elite.
In der Vergangenheit wurde die Sicherheitskonferenz häufig als reine Honoratiorenveranstaltung gesehen. Eine veränderte Einladungspraxis sorgt jetzt für eine stärkere Öffnung und mehr Außenwirkung. Allerdings wurden offizielle Vertreter Russlands nicht eingeladen, um der zu erwartenden Kremlpropaganda kein unnötiges Forum zu bieten. Stattdessen waren zahlreiche Vertreter*innen der russischen demokratischen Opposition und russische zivilgesellschaftliche Akteur*innen zu Gast. Sie konnten sich mit ihren ukrainischen und osteuropäischen, aber auch mit westeuropäischen Partner*innen über Visionen einer gemeinsamen europäischen Zukunft austauschen. Um welche Dimension es aktuell tatsächlich geht, weit über die Ukraine und Russland hinaus, wurde durch die gespannt erwarteten Auftritte der chinesischen Seite deutlich, die allerdings weitgehend ernüchterten: Wer noch immer am Willen Xi Jinpings gezweifelt hatte, China bis zum Jahre 2047 zur entscheidenden Weltmacht zu formen, konnte sich hier vom Gegenteil überzeugen. Seine außenpolitischen Abgesandten, Vertreter der als „Wolfskrieger“ bekannten neuen Schule, ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Der Hauptfeind sind aus ihrer Sicht die Vereinigten Staaten, die als Führungsmacht abgelöst werden sollen.
Die Europäer könnten sich nach diesem Weltbild dem chinesischen Führungsanspruch unterordnen, und Russland würde zum „Bundesgenossen“ im Gefolge des großen Bruders. Xi sieht sich offenbar als Mann der Geschichte, wie Wladimir Putin, nur mit viel größerer Wirtschaftskraft und militärischer Macht im Rücken. Der Corona-Einbruch und dessen wirtschaftlichen Folgen hindern China nicht daran, den Verteidigungshaushalt in astronomischen Höhen zu halten.