Alexander Fröhlich und Robert Ide: ist so ein Oscar eigentlich schwer?
Ingo Hasselbach: Irre schwer, wir mussten uns beim Tragen abwechseln. Es hatte sich abgezeichnet, dass unser Film „Im Westen nichts Neues“ gewinnen kann, aber wir vom Szenenbild haben nicht damit gerechnet. Als wir ausgerufen wurden, war das wie ein Schock. Bonus einer surrealen Reise.
„Das Leben der Anderen“, „Im Westen nichts Neues“ – wie erklären Sie sich, dass Deutschland immer mit Filmen über seine Geschichte den Oscar gewinnt?
Ich habe in der DDR viel durchgemacht, weiß, wie wichtig Geschichte für unser Leben ist. Wir Deutschen können das vielleicht nicht schlecht: uns mit unserer Vergangenheit beschäftigen. Ich habe „Im Westen nichts Neues“ in der Schule gelesen und zum ersten Mal kapiert, was Krieg ist. Und „Das Leben der Anderen“ war so ein wichtiger Film. Wir müssen früher anfangen, über die DDR nachzudenken.
DDR-Staatsfeind, führender Neonazi, Aussteiger und jetzt ein Oscar für die Teamleistung am Szenenbild von „Im Westen nichts Neues“ – Ihre Lebensgeschichte klingt bereits wie ein Film. Welche Filme haben Sie früher im Osten geguckt?
Ich saß als Jugendlicher im Gefängnis, das war kein Kino. Als Ost-Berliner Junge war ich oft bei meinen Großeltern in Prenzlauer Berg, da liefen Western mit Robert Redford. So wuchs in mir die Sehnsucht nach Amerika.
Ihr Vater war Kommunist – und Sie durften Westfernsehen gucken?
Er war Chef beim DDR-Rundfunk, meine Mutter Journalistin beim staatlichen Nachrichtendienst ADN. Sie waren parteitreu, aber durften beruflich sehen, was der "Feind" macht.
Was fasziniert Sie an Filmen?
Filme können einen retten. Mich hat später Regisseur Winfried Bonengel gerettet, nachdem ich Anfang der 90er-Jahre zu den Hardcore-Neonazis abgedriftet war. Er hat meine Ideologie hinterfragt, sie lächerlich gemacht, mich zum Nachdenken gebracht. Seit 20 Jahren bin ich nun beruflich beim Film. Mich fasziniert das Teamwork, der kreative Prozess, bei dem jeder Input zählt.
In der DDR wuchsen Sie nicht in einer oppositionellen Familie auf. Wie wurden Sie zum Widerständler?
Wir wohnten in Lichtenberg, gleich an der Stasi-Zentrale, dort war keiner oppositionell. Im Klassenbuch waren nur bei zwei Eltern die Berufe eingetragen, bei allen anderen stand nichts – das waren Stasi-Kinder. Ich habe mich den Gruppenzwängen verweigert, wurde beim Schulappell getadelt, weil ich Buttons von Westbands an der Jacke hatte. Ich suchte meinen eigenen Weg und kam zum Punk.
1986 riefen Sie bei einem Fest der deutsch-sowjetischen Freundschaft: „Die Mauer muss weg!“. Als 19-Jähriger waren Sie somit schon Staatsfeind...
Ich habe später in meiner Stasi-Akte gelesen, dass ich schon mit 13 als „potenzielle Gefahr des sozialistischen Lebens“ eingeschätzt wurde. Ich wollte Journalist werden, aber für die Parteifunktionäre war ich längst ein Krimineller. Mir blieb nur die Wahl: Maurer oder Gleisbau? Ich wurde Maurer, wie mein leiblicher Vater.
Jugend in der DDR
Welche Träume hatten Sie als Punk?
Ich wollte mich abgrenzen vom ewigen Grau. Ich hörte die Sex Pistols, die laute Musik war eine Revolution. Wir Punker haben uns in Hinterhöfen in Prenzlauer Berg getroffen oder in Kirchen. Dass wir als Staatsfeinde verfolgt werden würden, hätten wir nie gedacht. Viele von uns mussten in Jugendwerkhöfen schuften, ich landete im Knast.
Sie kamen ins berüchtigte Polizei-Gefängnis Keibelstraße am Alexanderplatz. Die Vernehmer dort waren auf Leute wie Sie geschult und sagten Sätze wie: Denken Sie nach! Wollen Sie Ihr ganzes Leben ruinieren?
Jetzt klingen Sie wirklich wie mein Vernehmer. Im Ernst: Ich sah mich nicht als widerständig. Erst das Leben im Knast hat mich dazu gemacht. Die DDR-Gefängnisse waren Horror, da ging es nicht um Resozialisierung. Für das Wachpersonal waren wir Feinde. Aber mich kann man nicht erziehen. Meine Eltern hatten das aufgegeben. Auch im Knast hielt ich mich an keine Regeln. Das Dagegensein machte mich härter – damit ich das überlebe.
Später saßen Sie nach einer gescheiterten Republikflucht im Gefängnis in Brandenburg und lernten dort viele Altnazis kennen, etwa den früheren Gestapo-Chef von Dresden oder den Befehlshaber eines Massakers in Frankreich. Haben die Sie zum Neonazi gemacht?
Ich war nicht am Dienstag ein Punk und am Mittwoch ein Nazi. Das war ein mehrjähriger Prozess. Freunde von mir wurden Skins, eine Jugendkultur, die politisch nach rechts driftete. Ich habe für mich den größten Widerstandspunkt gegen die gesucht, die mich eingesperrt haben. Die Altnazis wirkten auf mich faszinierend in ihrer Unbeugsamkeit. Ich war jung und verzweifelt, habe ihnen geglaubt.
Nach dem Mauerfall gaben Neonazis vielen ostdeutschen Jugendlichen offenbar Halt im unsicheren Umbruch. Hinzu kamen Westkader mit Sieg-Heil-Gebrüll. Und machten als Schuldige an allem "die Ausländer" aus.
Die rechte Szene im Westen lag 1990 am Boden, aber sie erkannte bei den Unzufriedenen im Osten neues Potenzial. Ich wurde gefördert, bekam Geld und Anerkennung. Die DDR-Volkspolizei traute sich nichts mehr, die West-Berliner Polizei durfte noch nicht. Es herrschte Anarchie, ich hatte damals mit meinen Eltern gebrochen. Also kämpfte ich auf der Straße, wie ich glaubte, für die richtige Sache.
Aufarbeitung einer kriminellen Vergangenheit
Sie wurden Vorsitzender der rechtsextremen Partei „Nationale Alternative“, Medien nannten Sie „Führer von Berlin“. Mit Neonazis besetzten Sie in Lichtenberg Häuser. Nach einer linken Demo gab es Straßenschlachten. Warum hatten Sie diesen Hass in sich?
Nach meiner langen Zeit im Knast war ich eine tickende Zeitbombe. Voller Wut und Hass wurde ich entlassen in eine Welt, die zusammenbrach. Dieses Nazi-Ding wurde eine große Sache, wie ein Sog. Der Antifa ging es ähnlich. Wir waren zwei Gruppen, die sich mit Anschlägen und Überfällen terrorisierten – eine Spirale der Gewalt, nach oben offen. Im Nachhinein ist es fast ein Wunder, dass damals „nur“ Silvio Meier, der 1992 in Berlin von Neonazis getötet wurde, umgekommen ist.
Es gibt einen Fernsehausschnitt von damals, in dem Sie mit Waffen hantieren und sagen: „Wenn ich auf jemanden schieße, wird er auf jeden Fall mein Feind sein. Vielleicht auch irgendwann zur Durchsetzung politischer Ziele.“ Waren Sie wirklich bereit, jemanden zu töten?
Ingo Hasselbach 2002 bei der Premiere des Film "Führer Ex" nach einem Drehbuch von ihm und dem Regisseur Winfried Bonengel. Der Film thematisierte Hasselbachs Erfahrungen in der Neonazi-Szene zur Zeit des politischen Umbruchs in der DDR und nach der Wiedervereinigung, basierend auf dem Buch "Die Abrechnung" von Ingo Hasselbach über seinen Lebensweg. (© picture-alliance, schroewig)
Ingo Hasselbach 2002 bei der Premiere des Film "Führer Ex" nach einem Drehbuch von ihm und dem Regisseur Winfried Bonengel. Der Film thematisierte Hasselbachs Erfahrungen in der Neonazi-Szene zur Zeit des politischen Umbruchs in der DDR und nach der Wiedervereinigung, basierend auf dem Buch "Die Abrechnung" von Ingo Hasselbach über seinen Lebensweg. (© picture-alliance, schroewig)
Irgendwann merkten wir: Politisch erreichen wir nichts, uns wählt keiner. Also zog das RAF-Denken ein: Es geht nur mit Gewalt! Überall bildeten sich Zellen. So entstand auch der NSU. Waffenlager wurden angelegt, Schulungen immer militanter. Ich habe nicht die Waffe auf jemanden gerichtet, aber ich hatte oft eine dabei. Es gab Leute aus meiner Gruppe, die Polizisten getötet haben.
Warum wollten Sie plötzlich raus aus der Neonazi-Szene?
Mein Umdenken kam im November 1992 mit dem Brandanschlag auf ein von Türken bewohntes Haus in Mölln, bei dem drei Menschen starben. Da dachte ich: Was richte ich mit meinen Worten an? Als ich sah, dass unsere Bewegung Frauen und Kinder tötete, löste ich mich abrupt. Aber es hat Jahre gedauert, neuen Halt zu finden.
Sie tauchten unter, lebten in den USA. Ihre Mutter bekam eine Bombe per Post zugestellt, die nur aus Zufall nicht zündete.
Die Bombe war so groß, sie hätte das ganze Haus zerstört. Ich dachte zuerst: Ich steige aus und halte die Klappe. Plötzlich hatte ich Angst um mein Leben, extreme Panik. Einen Weg zurück gab es nicht mehr. Also trat ich die Flucht nach vorn an und packte bei der Polizei über die Netzwerke aus, schrieb ein Buch über die Szene. Die Polizei bot mir Zeugenschutz an, aber ich wollte nicht in eine andere Abhängigkeit kommen. Also ging ich weg.
In den USA haben Sie als Journalist gearbeitet.
Ich habe fürs Stadtmagazin „Tip“ geschrieben, im Todestrakt eines US-Gefängnisses Debbie Milke interviewt …
…die unschuldig wegen des vermeintlichen Mordes an ihrem Sohn zum Tode verurteilt war…
…ich habe sogar angeboten, sie zu heiraten, damit deutsche Behörden eine bessere Handhabe haben, Ihr Urteil zu verhindern. Der Plan wurde jedoch von US-Behörden vereitelt, einige Medien schrieben: Kindermörderin heiratet Neonazi. Das half ihr nicht, also haben wir es gelassen.
Stattdessen kamen Sie mit der schwedischen Regisseurin Maria von Heland zusammen, gründeten eine Familie, haben drei Kinder. Wann haben Sie denen alles über sich erzählt?
Als meine Mutter starb, fuhren wir zur Beerdigung nach Lichtenberg. Ich fürchtete Anschläge von Neonazis, meine Kinder fragten mich: „Papa, warum fahren wir unter Polizeischutz zur Beerdigung“? Da habe ich den Älteren erzählt, wer ich bin, dass ich mich mit einer Aussteigerorganisation für ehemalige Neonazis engagiere. Sie sind stolz darauf, wie ich zu meiner Geschichte stehe und gegen sie anarbeite. Sie haben in ihrer Pubertät gar nichts Extremistisches an sich, rauchen höchstens mal einen Joint.
Rekrutiert die Nazi-Szene heute noch viele junge Leute?
Die Szene ist heute anders gestärkt. Die AfD ist der legale Arm der Rechtsextremisten im Bundestag. Holocaustleugner wie Nikolai Nerling empfehlen sie zur Wahl. Björn Höcke, den man Faschist nennen darf, prägt die Partei. Sie sind nicht mehr im Untergrund, wie wir damals. Doch sie teilen das gleiche Gedankengut wie die früheren Neonazis. Durch rechtsextremistische Gewalt sind seit der Wiedervereinigung weit über 100 Menschen ums Leben gekommen.
Auch Sie tragen eine Mitverantwortung.
Ja, ich bekenne mich dazu, bin für einen Brandanschlag auf einen linken Club auch auf Bewährung verurteilt worden. Wir haben das Gewaltpotenzial aufgebaut. Was haben die Nazis gejubelt, als die CDU das Asylrecht verschärfte, nachdem im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen das Asylbewerberheim angezündet wurde. Es war eine Verschiebung nach rechts. Das ist immer gefährlich.