Zäsur und Zeitenwende. Wo befinden wir uns?
Wie zeitgenössische Erfahrung und nachträgliche Deutung unser Epochenbewusstsein verändern
Martin Sabrow
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Wie angebracht ist gegenwärtig eigentlich der Begriff "Zeitenwende"? Eine Reflexion des Historikers Martin Sabrow, der sagt: "Zäsuren strukturieren unser Leben, aber Zeitenwenden stellen es in Frage". Die Corona-Epidemie ebenso wie der bis zuletzt kaum für möglich gehaltene Angriff Russlands auf die Ukraine oder der Überfall der Hamas auf Israel "verwandelten schlagartig Zeitgewissheit in Zukunftsunsicherheit".
Zeitsprung zurück: Athens Überfall auf Melos
Der Begriff Zäsur
Der Hunger nach dem Epocheneinschnitt
Die Zeitenwende als Fundamentalzäsur
Die biographische Bewältigung von Zeitenwenden
Athens Überfall auf Melos
Zäsuren bezeichnen in der Geschichtswissenschaft Einschnitte innerhalb eines historischen Kontinuums; sie bilden „den markanten Punkt, den sichtbaren Einschnitt in einer geschichtlichen Entwicklung“. Doch so klar und eingängig diese Begriffsbestimmung scheint, so komplex und vieldeutig ist sie in der Handhabung, wie schon Thukydides, der „Homer der Geschichtsschreibung“ (Barthold Georg Niebuhr) und Ahnherr der Zeitgeschichte, in seiner „Geschichte des Peloponnesischen Kriegs“ vorführt:
Als die Athener den zwischenzeitlichen Frieden mit Sparta brachen und 416 vor unserer Zeitrechnung und mit einer gewaltigen Flotte von 38 Kampfschiffen, den sogenannten Trieren, Melos belagerten, um mit dem Recht des Stärkeren die Unterwerfung der kleinen Kykladeninsel zu fordern, spürten die Melier, dass sie vor einer Zäsur standen. Aber sie trachteten sie zu verhindern, so berichtet es jedenfalls Thukydides (454 - 399/396), und beschieden die Athener, dass sie nicht „eine Stadt, die schon siebenhundert Jahre besteht, der Freiheit berauben“ wollten, sondern sie "sowohl nach dem nach dem Willen der Götter waltenden Glück, das sie bis zu diesem Tag beschützt, anvertrauen als auch der von den Menschen kommenden Hilfe und so versuchen, unser Bestehen zu sichern“.
Die Melier setzten also auf politische Kontinuität in der Krise und boten ihren Aggressoren einen Vertrag an, der den status quo ante wiederherstellte und wie bisher gleiche Distanz zu Athen und Sparta wahrte: „Wir verbinden den Vorschlag, Freunde für euch und Feinde für keinen von beiden zu sein, mit der Aufforderung, dass ihr aus unserem Lande abzieht nach Abschluss eines Friedensabkommens, das beiden Parteien angemessen erscheint.“
Retten konnten sich die Melier mit dieser mutigen Abwehr einer Zeitenwende allerdings nicht. Sie mussten sich vielmehr von den Athenern vorhalten lassen, dass ihr Festhalten am Herkommen sich bitter rächen würde und die Unfähigkeit, dem Wechsel der Zeiten Rechnung zu tragen, den Epochenbruch nur schrecklicher machen könnte: „So seid ihr denn (...) die einzigen, die Zukünftiges für gewisser halten als was sie vor Augen haben und Unerkennbares aus Wunschdenken als bereits sich vollziehende Realität betrachten: Und da ihr im Vertrauten auf (...) Glück und Hoffnungen den höchsten Einsatz wagt, wird der tiefste Fall für euch die Folge sein.“
Die ausgehungerte Polis von Melos musste sich noch im Winter ergeben, und für sie kam es in der Tat zu einer fürchterlichen Zäsur; die Stadt wurde auf Antrag durch Beschluss der athenischen Volksversammlung ausgelöscht und seine Bewohner hingerichtet oder versklavt. Für Athen stellte der Untergang von Melos keine Zäsur dar, sondern nur die nächste Stufe auf der Leiter, die zur Weltherrschaft führte.
Doch im Überschwang des Triumphes rüstete Athen eine Expedition nach Sizilien aus, die im Folgejahr in einer Katastrophe mündete und seinen Niedergang einleitete. 404 v.u.Z endete der Peloponnesische Krieg mit der Athens Kapitulation vor Sparta, das wie zum Hohn die Rückführung der letzten überlebenden Melier auf ihre verwüsteten Inseln veranlasste. Erst im Nachhinein erwies sich so, dass der Untergang von Melos auch für Athen eine Zäsur darstellte; die durch den Sieg genährte Hybris hatte Athen dazu verführt, seine Kräfte zu überspannen, und rückblickend so seinen politischen Abstieg nach sich gezogen.
Der Begriff Zäsur
Am Ende erwies sich also die Zäsur von Melos sogar für Athen in gewisser Weise einschneidender als für Melos, das mit Spartas Hilfe an seine alte Stellung wieder anknüpfen konnte, während Athen seine politische Weltgeltung für immer verspielt hatte.
Was lehrt der Kampf um Melos vor bald zweieinhalbtausend Jahren für die Frage nach dem Charakter historischer Zäsuren? Sie sind zum einen schwer eindeutig zu bestimmen und zum anderen selten umfassend, sondern meist nur sektoral für bestimmte Regionen, Milieus, Gemeinschaften, Gruppen.
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Ereignisgeschichtliche Zäsuren sind scharfe Einschnitte im historischen Kontinuum, wie sie mit den Daten 1789, 1917, 1933 oder 1945 und schließlich 1989 jedem historisch Bewanderten sofort vor Augen stehen. Gesellschaftsgeschichtliche Zäsuren hingegen folgen den Amplituden eines Strukturwandels, der die Zwischenkriegszeit ebenso umfassen kann wie die trente glorieuses des Wirtschaftsbooms nach 1945 in Frankreich und Deutschland oder die neuerlichen trente glorieuses der weltpolitischen Warmzeit zwischen 1990 und 2022, aber auch humangeschichtliche Epochen wie das fossile Zeitalter oder gar das Anthropozän.
In jedem Fall ist von der geschichtstheoretischen Grunderkenntnis auszugehen, dass Epochenbegriffe subjektive Vorstellungen repräsentieren und nicht objektive Tatsachen abbilden; sie sind mit Johann Gustav Droysen immer nur „Betrachtungsformen (...), die der denkende Geist dem empirische Vorhandenen gibt“ , des ordnenden Historikers dar, nicht Eigenschaften der Welt und der Geschichte selbst.
Diese Festlegung wirkt angreifbar – wenn nicht menschliches Handeln, so bewirkten doch zumindest Naturereignisse vom welterschütternden Erdbeben bis zum täglichen Lauf der Sonne unwiderleglich so einschneidende Veränderungen, dass ihr Zäsurcharakter als objektive Tatsache gelten müsse. Doch es scheine nur so, hielt der Philosoph Kurt Flasch in einer Betrachtung über Zeitgrenzen dagegen, „als schaffe die Natur selbst Zeitrhythmen durch den Wechsel von Tag und Nacht. Aber wann beginnt ein Tag? Römisch gedacht, nicht mit dem Sonnenaufgang, sondern mit der Virgil des Vorabends. Augustin notierte erstaunt, wir bezeichneten Tag und Nacht zusammen als einen einzigen Tag. Der Naturanteil von Hell und Dunkel gibt nicht den Ausschlag.“
Historische Zäsuren sind deswegen perspektivenabhängig. Aber sie sind deswegen nicht völlig willkürlich; ungeachtet ihres Konstruktionscharakters greift jede Epochenbildung auf eine außersprachliche Realität durch, aber ihre Bildung orientiert sich an den unterschiedlichen Prägungen von Kulturkreisen und Staatsnationen. Der Zweite Weltkrieg begann nach deutscher Sicht 1939 und nach russischer 1941 und die postkommunistischen Revolutionen aus polnischer Perspektive spätestens im Juni 1989, aus deutschem Blickwinkel im folgenden Oktober und November, im russischen Verständnis aber erst 1991.
Der Hunger nach dem Epocheneinschnitt
Die Unzuverlässigkeit des Zäsurenbegriffs tut seiner Beliebtheit keinen Abtrag, seitdem, mit dem Historiker Reinhart Koselleck zu sprechen, Erfahrung und Erwartung in der Frühneuzeit auseinanderzuklaffen begonnen haben und die vielen Geschichten zu einer Geschichte zusammenfließen.
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Die Suche nach Zäsuren entspringt dem Wunsch nach Gliederung des Zeitflusses in sinnvolle Zeiteinheiten, wie sie sich in der griechischen Unterscheidung zwischen der metrisch-quantitativen und der qualitativen Zeitmessung spiegelt: Chronos ist der Gott der gleichmäßig verfließenden Zeit, Kairos hingegen der Gott des rechten Zeitpunkts einer Entscheidung, um die günstige Gelegenheit beim Schopfe oder besser bei der Stirnlocke zu packen – oder die epochale Wende zu verpassen und am kahlen Hinterkopf des flüchtigen Gottes abzugleiten.
Dass Zeitgrenzen für die menschliche Orientierung eine immer wichtigere Rolle spielen, ist eine seit langem vertraute Erkenntnis. So hat etwa der Philosoph Odo Marquard aus der Annahme, dass der menschliche Grenzbedarf infolge der Globalisierung immer weniger räumlich gedeckt werden kann, auf den wachsenden Bedeutungsgewinn der Zeitgrenzen in den Gegenwartskulturen geschlussfolgert.
In der Tat: Wie rasch Zäsuren in unserer Zeit erst ausgerufen und dann schnell wieder vergessen werden können, zeigt etwa die Jahrhundert- und Jahrtausendzäsur des „Milleniums“, die von einem starken Bewusstsein der Zeitenwende begleitet wurde und rückblickend ihren Zäsurencharakter rasch wieder eingebüßt hat. Ebenso erging es in der jüngeren deutschen Zeitgeschichte etwa den Notstandsgesetzen, deren drohende Verabschiedung die Studentenbewegung mobilisierte und eine fast hysterische Furcht vor der drohenden Faschisierung der Gesellschaft auslöste, der Einführung des Euro am 1. Januar 2002 oder der EU-Osterweiterung vom Mai 2004 – allesamt als historisch bezeichnete Daten, deren Historizität rasch nivelliert worden ist.
In der neuzeitlichen Geschichtsschreibung allerdings stellen Periodisierung und Epochenbildung seit jeher ein unabdingbares Instrument dar, um den Lauf der Zeit über die bloße Chronik hinaus der historischen Erklärung zu öffnen: Das Interesse an historischer Zäsurenbildung, resümierte der Geschichtswissenschaftler Martin Broszat in einem zeithistorischen Rückblick 1990, gehe „davon aus, daß nicht jedes Jahr der Geschichte gleich zu Gott ist, sondern daß es dicht beschriebene, aber auch ziemlich leere Blätter der Geschichte gibt.“
Jede Vergangenheitsvergegenwärtigung ist daher auf epochale „Sehepunkte“ angewiesen, wie der Theologe Johann Martin Chladni (oder latinisiert Chladenius) schon im 18. Jahrhundert lehrte.
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Die Zeitgeschichte als die gegenwartsnächste Subdisziplin der Geschichtswissenschaft ist besonders zäsurenempfindlich, denn sie braucht den Fluchtpunkt des eigenen Vergangenheitsentwurfs so sehr wie jede Historiographie älterer Zeiten. Aber sie kennt ihn eben oft genug nicht und muss sich dann mit unerwarteten Epochenbrüchen arrangieren, die bisherige Verlaufsmuster und Meistererzählungen über den Haufen werfen.
Um dieser ausfransenden Unbestimmtheit Herr zu werden, ist die Unterscheidung zwischen zeitgenössischer Erfahrungszäsur und nachträglicher Deutungszäsur nützlich. Deutungszäsuren ergeben sich aus der retrospektiven Festlegung von Zeitgrenzen durch die Nachlebenden. Sie können ereignisgeschichtlich begründet sein wie die Französische Revolution 1789 und die „Stunde Null“ 1945, aber genauso auch strukturgeschichtlich hergeleitet werden wie die mit „1968“ verbundene „Umgründung“ der Bundesrepublik oder der Umbruch im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hin zu einer Zeit „nach dem Boom“.
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Deutungszäsuren benennen historiographisch anerkannte Einschnitte in den Gang der Geschichte, die keine zeitgenössische Geltungsmacht erlangt haben müssen. Sie bestätigen Erfahrungszäsuren oder verwerfen sie und setzen andere an ihre Stelle.
Auf diese Weise spielen sie die Macht der Gegenwart über die Vergangenheit aus, und darin liegen Stärke und Schwäche von Deutungszäsuren zugleich: Sie ordnen den Lauf des vergangenen Geschehens aus dem Blickwinkel der Gegenwart, aber sie relativieren zugleich die Wirkungsmacht der zeitgenössischen Zäsurerfahrung.
Zur Geschichte der Novemberrevolution passt nicht recht, dass der Umsturz in den östlichen Teilen des Deutschen Reichs kaum wahrgenommen wurde oder Berliner Beobachter das Ende der Monarchie gänzlich alltäglich als Spaziergänger im Grunewald oder zeitungslesend im Café erlebten; und ebenso steht gänzlich quer zur zeitgenössischen Mehrheitserfahrung in der zertrümmerten Kriegsgesellschaft, dass wir die deutsche Kapitulation 1945 heute als befreienden Sieg deuten.
Die Zeitenwende als Fundamentalzäsur
Nicht weniger erkenntnisfördernd ist allerdings eine andere Unterscheidung von Zäsurformen: Die einen ereignen sich entweder innerhalb einer bestehenden politisch-kulturellen Verfassung, die anderen sprengen sie.
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Binnenzäsuren wie der Mauerbau 1961 oder die Kubakrise im Jahr darauf, das Ende der Ära Kohl 1998 oder der Brexit 2020 ereigneten sich innerhalb einer gegebenen Ordnung und stärkten sie womöglich noch; Umbrüche wie 1918, 1933, 1945 und wieder 1989 lassen sie zusammenbrechen. Der zuletzt so abgedroschene Terminus „Zeitenwende“ ist geeignet, den besonderen Charakter dieser Epocheneinschnitte zu fassen.
Zeitenwenden in diesem Sinne lenken den Lauf der Geschichte in eine unerwartete, nicht vorhersehbare Richtung; sie erschüttern gewohnte Ordnungen und Sichtweisen, indem sie einen neuen Normalzustand an der Stelle eines alten etablieren. Eine scheiternde Revolution kann eine historische Zäsur bilden, aber zu einer Zeitenwende wird nur die siegreiche Umwälzung, die eine neue politische und kulturelle Ordnung mit eigenen Maßstäben von Gut und Böse erzeugt.
Sie erst macht den Kampf gegen die alte Macht zur Legitimationsgrundlage der neuen und im November 1918 den eben noch blutig unterdrückten Hochverrat der meuternden Matrosen von Wilhelmshaven und Kiel zur republikanischen Tugend.
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Zäsuren strukturieren unser Leben, aber Zeitenwenden stellen es in Frage.
Sie verwandelten 1989 endgültig den Jahrhunderttraum der kommunistischen Menschheitsbefreiung in den überwundenen Albtraum der Unterdrückung der Menschlichkeit und die eifrig oder widerwillig erfüllte Berichtspflicht eines Inoffiziellen Stasi-Mitarbeiters in den perfiden Verrat am Nächsten.
Die weltgeschichtliche Wende von 1989/91 in Deutschland und Europas markiert anders als die Anschläge vom 9. September 2001 eine Zeitenwende, weil sie die Gültigkeit der bisherigen Ordnung der Dinge aufhob. Sie setzte neue normative Maßstäbe des Handelns und Denkens, die sich aus den alten Verhältnissen nicht hätten ergeben können, und bildet einen unhintergehbaren Sehepunkt, der die zunächst empfundene Unerhörtheit rasch zur selbstverständlichen Normalität werden ließ.
Wie sehr auch die Zeithistoriker und Zeithistorikerinnen unter den Zeitgenossen und Zeitgenossinnen weltgeschichtlicher Umbrüche sich der historisch erzwungenen Verschiebung ihres Sinnhorizontes beugen müssen, lehrt der Vergleich ihrer Auffassungen und Äußerungen vor und nach 1989 zur deutschen Nation und der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz.
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Das prominenteste Beispiel dieser zeitgeschichtlichen Neuausrichtung bildet die bis 1989 als eigene Subdisziplin betriebene DDR-Forschung, soweit sie mit Hilfe eines systemimmanenten Deutungsansatzes die allmähliche Konvergenz der beiden konkurrierenden Gesellschaftssysteme zu erfassen hoffte.
Nach der Zeitenwende von 1989 wurde die Frage, warum zeitgenössische Analysen das nahende Ende der DDR nicht kommen sahen, bevorzugt mit bedauerlicher moralischer Indifferenz oder fachlicher Blindheit erklärt, statt anzuerkennen, dass die Zeitenwende einen neuen Denkhorizont geschaffen hat, der wissenschaftlich nicht seriös zu antizipieren war.
Die biographische Bewältigung von Zeitenwenden
Mit dem Ausbruch des Krieges um die Ukraine 2022 und bereits vorher mit der Covid-Pandemie wurde die Zäsur von 1989/90 nun durch eine neuerliche Zeitenwende überlagert, die ebenso wie die vorausgegangenen Zäsuren, wie nach 1918 oder 1945, die Frage aufwirft, wie die Zeitgenossen auf einen Umbruch reagieren, der die Maßstäbe des eigenen Lebens angreift und die eigene Ich-Identität in Frage stellt.
Wohl gab es auch im Februar 2022 wie schon zwei Jahre zuvor beim Ausbruch der Covid-Epidemie für einen kurzen Moment das Empfinden einer historischen Zäsur, die die Welt umstürzen könnte: In der Nacht der gestapelten Särge von Bergamo im März 2020 schien für einen Moment die lebensgeschichtliche Zeitgewissheit zu zerbrechen, die sich der erfolgreich verarbeiteten Vergangenheit ebenso sicher war wie einer beherrschbaren Zukunft.
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Die Corona-Epidemie ebenso wie der bis zuletzt kaum für möglich gehaltene Angriff Russlands auf die Ukraine verwandelten schlagartig Zeitgewissheit in Zukunftsunsicherheit.
Sie bedeuteten mit Hartmut Rosa den Einbruch des „Unverfügbaren“ in einen Lebensstil der Moderne, für den das immer ausgreifende „Verfügbarmachen der Welt“ eine selbstverständliche Grunderfahrung darstellte.
Doch beide Herausforderungen existenzieller Verunsicherung wurden rasch eingehegt. Im Fall der Covid-Seuche leistete dies eine Flut mit dem Pathos der Wissenschaft vorgetragener Handlungsanweisungen des Staates, der sogar den Primat der politischen Entscheidung zugunsten des „evidenzbasierten“ Handelns opferte und mit dem Mediziner und Gesundheitsökonomen Karl Lauterbach das Expertenwissen mit Ministerrang ausstattete; in Bezug auf den Ukrainekrieg tat es der Bundeskanzler mit seiner immer wieder erneuerten Versicherung, dass er keine unkontrollierte Eskalation zulassen werde und in bei aller militärischen Unterstützung für Kiew immer auch den Weg zum Frieden im Blick behalte.
In der Folge ließen sich die bekannten Muster der biographischen Einhegung historischer Zäsuren durch Kontinuität oder Konversion erkennen. Rarer waren wie gewöhnlich die Stimmen, die den Weg der Distanzierung von der eigenen Vergangenheit wählten und etwa ihre eigene frühere Kriegsdienstverweigerung öffentlich revozierten.
Weit mehr öffentlichen Anklang fand und findet die entgegengesetzte Strategie zur Identitätswahrung, die nicht die eigene Biographie den neuen Verhältnissen anpasst, sondern die Vergangenheit an die Maßstäbe der Gegenwart. „Wenn es um die frühere Russland-Politik der SPD geht, hat auch Klingbeil einiges aufzuarbeiten“, rief die Frankfurter Allgemeine Zeitung dem SPD-Parteivorsitzenden im März 2023 auf dessen Kiew-Reise nach; denn er sei ja bekanntlich früher „Teil der Schröder-Connection“ gewesen und habe in „prorussischen Lobbyorganisationen“ mitgewirkt.
Erkennbar projizieren solche Einlassungen ein heutiges Russlandbild auf frühere Zeiten, ohne die unterschiedlichen Handlungskontexte und den zwischenzeitliche Paradigmenwechsel von einer interessenbasierten zu einer wertebasierten Außenpolitik in Rechnung zu stellen. In dieser teleologischen Neuformatierung der Vergangenheit wird der heutige Ukrainekrieg zum Maßstab des Urteils über die Entspannungspolitik vor vierzig Jahren der Ära Schmidt und Breschnew und zieht die SPD den Vorwurf auf sich, dass sie „in den Achtzigerjahren (...) im Namen der Entspannung den Ausgleich mit den Unterdrückern gepflegt hat.“
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Hier greift ein Modus der Vergangenheitsvergegenwärtigung, der sich mit dem französischen Historiker François Hartog als historischer Präsentismus fassen lässt. Er verschluckt die Andersartigkeit der Vergangenheit und unterlegt sie den Denk- und Handlungsnormen der Gegenwart.
Er übergeht, dass die Entspannungspolitik in den 1980er Jahren ein parteiübergreifendes Prinzip europäischer Außenpolitik gewesen war und nach fachwissenschaftlichem Urteil entscheidend zum friedlichen Ende des Kalten Krieges beigetragen hat. Er verdeckt, dass bis zum Moskauer Stabwechsel von Jelzin zu Putin und noch bis zu dessen Bundestagsrede 2001 die Hoffnung auf eine politische Demokratisierung und kulturelle Verwestlichung Russlands als historische Chance gelten konnte, die auszuschlagen ein politisches Versagen vor der Geschichte bedeutet hätte.
Der historische Präsentismus blendet ebenso aus, dass bis 1991 auch die Ukraine zur Sowjetunion zählte und sogar mit Nikita Chruschtschow und Leonid Breschnew die beiden einflussreichsten Sowjetführer nach Stalin stellte. Er ignoriert schließlich, dass im Horizont der Zeitgenossen die Ukraine noch vor wenigen Jahren als ein infolge der polnischen Teilungen gespaltenes und teils zu Russland, teils zu Österreich-Ungarn gehöriges Land galt, dessen westlicher Teil nach dem Ersten Weltkrieg an Polen, Rumänien und die Tschechoslowakei gefallen war, während der Osten als ukrainische Sowjetrepublik Teil der UdSSR wurde.
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Über die ausgerufene Zeitenwende von 2022 lässt sich noch kein zeithistorisches Urteil fällen. Aber die Vermutung liegt doch nahe, dass auch sie nicht als der fundamentale Epocheneinschnitt in die Geschichte eingehen wird, als der sie angesichts ihrer unablässigen Berufung gegenwärtig erscheinen mag.
Begünstigt durch die anders als in den Epochenzäsuren des 20. Jahrhunderts weitgehend unveränderten äußeren Verhältnisse, vollzieht sich die kulturelle und biographische Anpassung an die Zäsur von 2022 wohl eher unbemerkt durch eine schleichende Verschiebung des öffentlichen Diskursfeldes. Eine Zeitenwende wird die Zäsur von 2022 höchstens darin bilden, dass sie die Vergangenheit umschreibt, nicht aber das kulturelle Selbstverständnis der Gegenwart in Frage stellt.
Zitierweise: Martin Sabrow, "Zäsur und Zeitenwende – zeitgenössische Erfahrung und nachträgliche Deutung". Deutschland Archiv vom 22.4.2023, www.bpb.de/519981. Der Text basiert auf einem Vortrag Martin Sabrows bei einem "Zeitenwende-Kolloquium" in der Bundeszentrale für politische Bildung am 15. März 2023. Er erscheint zeitgleich in einer gekürzten Fassung im Berliner Tagesspiegel. Weitere Beiträge werden folgen.
Prof. Dr. Martin Sabrow (geb. 1954) ist ein deutscher Historiker. Er war Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam und Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. E-Mail Link: sabrow@zzf-potsdam.de
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