Ist die Deutsche Einheit schon gelungen? Oder eher misslungen? Oder noch im Fluss? Wie vielschichtig die (Zwischen)Bilanz des „Zusammenwachsens“ auch im Jahr 2023 noch ausfällt, macht eine Debatte deutlich, die der Leipziger Germanist Dirk Oschmann provokant neu angestoßen hat. Allerdings wird je nach Milieu, Betroffenheitsgrad und (Erlebnis)Generatioszugehörigkeit sehr unterschiedlich sachlich und emotional diskutiert, wie Osten und Westen heutzutage zueinander stehen. Oschmann bezeichnet beispielsweise "Ostdeutschland" als Erfindung des Westens – und fordert die Abschaffung des Ostbeauftragten der Bundesregierung. Hier streitet genau dieser Ostbeauftragte, Carsten Schneider (SPD), mit ihm darüber. Das Interview führten Anne Hähnig und Martin Machowecz.
Anne Hähnig und Martin Machowecz: Herr Oschmann, Sie haben ein Buch geschrieben namens "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung". Sie wehren sich darin gegen die Zuschreibung, ein "Ostdeutscher" zu sein – und den Ostbeauftragten der Bundesregierung wollen Sie abschaffen. Ihr Buch war so erfolgreich, dass der Ostbeauftragte Ihnen jetzt hier persönlich gegenübersitzt. Fühlt sich das komisch an?
Dirk Oschmann: Nein, komisch finde ich das nicht. Und ich habe ja nur etwas gegen das Amt, nicht gegen Herrn Schneider. Aber mir hat neulich ein Freund, der seit 30 Jahren in den USA lebt, berichtet, dass es dort ein Bureau of Indian Affairs gibt. Also quasi einen, wenn man so sagen darf, "Indianerbeauftragten". Na, und Deutschland hat eben einen Ostbeauftragten.
Carsten Schneider: O weh, das ist sehr zugespitzt. Ich nehme Ihr Buch, Herr Oschmann, als eine wütende Replik auf Ihre Lebenserfahrung wahr. Ich kann mir vorstellen, dass Sie, wie viele, Erfahrungen von Erniedrigung und Ungerechtigkeit gemacht haben. Aber ich würde als Ostdeutscher sagen: So klein mache ich mich nicht, dass ich meine Herkunft als Makel empfinde.
Dirk Oschmann:
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Ich sehe nicht, dass wir uns kleinmachen – ich sehe, dass wir kleingemacht werden.
Was mich persönlich angeht: Ich bin in Thüringen aufgewachsen und Professor geworden. Ich könnte sagen: So what? Was gehen mich die Probleme des sogenannten Ostens an, die schlechteren Aufstiegschancen von Menschen in Thüringen oder Sachsen? Oder die geringe Eigentumsquote? Aber ich empfinde einen unglaublichen Zorn über diese Ungerechtigkeiten. Zorn, der sich über Jahrzehnte aufgestaut hat. Deshalb mein Buch.
Warum ist der Osten in Ihren Augen eine westdeutsche Erfindung?
Dirk Oschmann: Weil er durch die politischen und medialen Eliten immer als das Abwegige, das Abnormale, das Kleine, das Unzureichende konstruiert wird. Letzte Woche habe ich die Meldung gelesen, dass der Osten beim Netzausbau "hinterherhinkt". Da wird er schon in der Wortwahl als krank dargestellt. Das sind Sprachmuster der Herabstufung. Ich sehe einen unglaublichen Widerwillen des Westens, auf uns zuzugehen. Etwa wenn mir Journalisten begegnen, die gar nicht wissen, dass auch im Osten Solidaritätszuschlag bezahlt wird. Oder dass Björn Höcke aus dem Westen kommt.
Carsten Schneider:
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Natürlich kenne ich diesen ablehnenden, herablassenden Blick des Westens, den Sie beschreiben. Aber ich ziehe daraus andere Schlüsse. Ich trete dafür ein, sich nicht als Opfer zu verstehen, nicht als Homo sovieticus. Sondern sich selbst zu ermächtigen.
Dirk Oschmann: Ich bin sehr für Selbstermächtigung. Aber dann sollten wir bei den Begriffen anfangen.
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Ich würde mich nie als Ostdeutscher bezeichnen, und ich hasse es, wenn ich dazu gemacht werde. Der Osten wird von außen als monolithischer Block wahrgenommen. Und nicht in seiner Heterogenität.
Es wird gesagt: In Sachsen ist was passiert, immer dieser Osten. Thüringen, also Osten. Aus meiner Sicht muss es ein Ankämpfen gegen diese Art von Diskurs geben. Und, da haben Sie recht, dieses Ankämpfen muss vom Osten ausgehen.
Carsten Schneider:
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Ich sage stolz: Ich bin Ostdeutscher. Ich habe es immer als bereichernd empfunden, zwei Systeme zu kennen.
Es stimmt: Ich habe eine Welt zusammenbrechen sehen – aber auch eine neue mitgestaltet. Wir haben aus eigener Kraft viel geschafft. Deshalb will ich einem Hamburger oder Münchner nicht wehklagend gegenübertreten, sondern selbstbewusst.
Ist es denn das größte Problem des Ostens, wie der Westen über ihn spricht, Herr Oschmann?
Dirk Oschmann: Nein.
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Das Problem ist, dass der Osten die Gesellschaft, in der er lebt, nicht mitgestalten kann. Ostdeutsche finden sich in den Eliten des Landes praktisch nicht wieder.
Es gibt zahlreiche Studien darüber. In der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Justiz, nirgendwo sind Ostdeutsche in Führungspositionen angemessen vertreten. Zwischen 2016 und 2022 stagnierte ihr Anteil sogar, oder er sank.
Herr Schneider, Sie haben als Ostbeauftragter selbst auszählen lassen, wie viele Ostdeutsche es in die Führungspositionen der Bundesministerien und Bundesbehörden geschafft haben. Es sind 7,4 Prozent – obwohl die Ostdeutschen 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Was fangen Sie mit Ihrer Erkenntnis an?
Carsten Schneider:
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Ich fördere Ostdeutsche, und ich rufe Verantwortungsträger in der Gesellschaft auf, das auch zu tun.
Im Kabinett haben wir Anfang des Jahres beschlossen, den Anteil von ostdeutschen Führungspersönlichkeiten in der Bundesverwaltung zu steigern. Dass es dieses Problem gibt, wurde bisher viel zu wenig thematisiert.
Dirk Oschmann: Meine Kinder machen bald Abitur. Denen kann ich nicht empfehlen, im Osten zu studieren, die müssen ins Ausland, oder nach Konstanz oder Köln. Denn erst kürzlich hat eine Studie der Uni Leipzig gezeigt, dass man als Ostdeutscher nur Karriere macht, wenn man in den Westen geht – oder wenigstens Stationen im Westen einlegt. Ich finde das nicht in Ordnung. Wäre ich nicht für mehrere Jahre in den USA gewesen, wäre ich sicher nicht auf eine Professur berufen worden.
Carsten Schneider: Das hat aber nicht nur mit Ost und West zu tun. Es ist klar, dass ein Professor mit Auslandserfahrung bessere Chancen hat.
Dirk Oschmann: Vielen meiner germanistischen Professorenkollegen in Leipzig, die aus dem Westen kommen, reichten ein, zwei Stationen im Inland.
Carsten Schneider: Beim Befund sind wir uns doch einig: An den ostdeutschen Universitäten gibt es ein eklatantes Missverhältnis, es gibt zu wenige ostdeutsche Professoren, und kaum eine Universität wird von Ostdeutschen geleitet.
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Wir waren Anfang der Neunziger zu radikal bei der politischen Bewertung der Biografien ostdeutscher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Dafür kamen Westdeutsche in diese Positionen. Doch diese Generation tritt jetzt langsam ab. Das bietet Chancen für Jüngere.
Dirk Oschmann: Glauben Sie wirklich, dass jetzt viele Ostdeutsche auf Professorenstellen nachrücken, obwohl das 30 Jahre lang nicht geschehen ist? Die Berufungskommissionen sind westdeutsch dominiert, und es ist breit erforscht, dass man eher Leute aus dem eigenen Stall befördert. Ich saß selbst in solchen Kommissionen und war dann der Einzige, der für den ostdeutschen Kandidaten gestimmt hat. Das will ich durchaus skandalisieren.
Carsten Schneider: Sicher. Mir reicht es nur nicht, anzuklagen. Ich verstehe Ihre Zuspitzung. Je größer die Zuspitzung, desto größer ist die Welle, die Sie erzeugen. Nur muss meine Frage sein, wie ich das Thema politisch lösen kann. Ein Grund übrigens, warum es einen Ostbeauftragten braucht. Diese Position bedeutet ja eine Bevorzugung Ostdeutschlands. Bei jeder großen Investition fragen wir: Können wir das im Osten machen? Ich sitze im Kabinett, um jedes Gesetz und jede Ansiedlung darauf zu prüfen, ob die Interessen des Ostens gewahrt sind.
Herr Oschmann, was würden Sie denn politisch ändern, wenn man Sie zum Ostbeauftragten küren würde? Sich sofort abschaffen?
Dirk Oschmann:
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Nein, ich würde das Amt hochstufen, zum Ministerium für Chancengleichheit. Selbstermächtigung durch Selbstaufstufung!
Lange Zeit hielt sich die Hoffnung, dass sich Ost-West-Unterschiede auswachsen im Laufe der Generationen. Wird das passieren?
Dirk Oschmann: Das ist eine ganz beliebte Frage. Allerdings ist es ganz klar so – und ich sehe das auch bei meinen Studierenden –, dass sich überhaupt nichts verwächst.
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Sobald ein junger Mensch aus Ostdeutschland in den Westen geht, macht er bestimmte Fremdheitserfahrungen. Und andersherum ist es auch so. Die jungen Leute tragen das Problem weiter.
Carsten Schneider: Man darf nicht darauf warten, dass sich Unterschiede einfach auswachsen. Sonst wartet man im Zweifel Jahrzehnte oder vergeblich. Die neue Ost-Identität in der Literatur stimmt mich hoffnungsvoll. Es entsteht daraus aber leider kein Dialog mit dem Westen, weil die Antwort oder auch schlicht das Interesse fehlt. Trotzdem gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von jungen Schriftstellern, die sich mit ihrer Herkunft auseinandersetzen – allerdings nicht so defätistisch, wie Sie das tun, Herr Oschmann.
Dirk Oschmann: Ich beobachte andere Phänomene. Ich beobachte unter den Studierenden zum Beispiel, dass sich viel zu wenige Ostdeutsche um Stipendien bewerben. Weil sie glauben: Das ist gar nicht für uns gedacht, wir sind damit nicht gemeint. Eine Katastrophe.
Carsten Schneider:
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Aber auch dagegen hilft doch ein neuer Geist, der sagt: Wir stehen zu unserer Herkunft, unserer Identität, und wir fordern ein, was uns zusteht. Dazu gehört übrigens, sich den Problemen im Osten zu stellen. Sich auch zu fragen: Wie kommt es, dass so viele Thüringer den rechtsextremen Westdeutschen Björn Höcke wählen?
Dirk Oschmann: Meine These wäre, dass der Zuspruch für die AfD teilweise auch zu tun hat mit dem Gefühl, nicht gehört zu werden.
Herr Schneider, Sie haben von jungen Autoren gesprochen, die Stolz und Selbstbewusstsein ausstrahlen wollen. Aber ändern konnten diese Autoren bislang wenig, oder?
Carsten Schneider: Sie tragen erst einmal dazu bei, dass sich das Bewusstsein ändert. Sie stellen sich hin und sagen: Hallo, Westdeutsche, der Osten ist großartig, und ich finde mich gut so, wie ich bin. Wenn ihr das nicht seht, dann seid ihr ganz schön arm.
Zu behaupten, die eigene Herkunft sei eigentlich ein Vorteil, obwohl sie ausweislich aller Statistiken eher ein Nachteil ist: Ist das nicht magisches Denken?
Carsten Schneider: Man kann Zuschreibungen verändern. Das passiert ständig. In der DDR habe ich mich nie als Thüringer empfunden, weil es Bundesländer damals gar nicht gab. Wir hatten nur Bezirke. In den Neunzigern bildete sich dann eine Thüringer Identität. Auch ein echtes Ostbewusstsein entstand bei meiner Generation eher erst in den 2010er-Jahren. Heute haben wir sogar in der Bundestagsfraktion eine Landesgruppe Ost.
Dirk Oschmann: Dieses Ostbewusstsein, das Gründen einer Landesgruppe: All das sind Effekte in der Wirklichkeit, die die sprachliche Ausgrenzung des Ostens erzeugt hat. Ich weiß nicht, ob sie wirklich Grund für Stolz sind.
Carsten Schneider: Ich sehe das anders: Das ist kluges politisches Handeln, um die eigenen Interessen durchzusetzen.
Vielleicht bin ich zu einfallslos, aber ich sehe nicht, wie ein bisschen Selbstbewusstsein plötzlich alles ändern soll. Es ist wichtig, dass man sich die Diskriminierung nicht mehr bieten lässt, natürlich. Aber wir haben eine lange Strecke vor uns.
Ich bekomme unheimlich viel Post. Auch aus dem Westen. Mir hat ein gleichaltriger Westdeutscher geschrieben, dass seine Söhne vom Osten vielleicht ein paar Quadratmeter in Berlin kennen. Die kennen keinen Film, kein Buch, nichts vom Osten! Das interessiert die auch nicht! Ich finde, diese Zustände sind im Jahre 2023 nicht mehr hinnehmbar. Viele Ostdeutsche sehen das ähnlich.
Sie unterstellen, der mediale Diskurs sei komplett westdeutsch geprägt. Aber die Journalisten, die Ihr Buch besprochen haben, waren in der Mehrzahl Ostdeutsche.
Dirk Oschmann: Das ist eine sehr interessante Tatsache.
Was meinen Sie damit?
Dirk Oschmann: Dass das Thema für Westdeutsche vielleicht ein zu heißes Eisen ist oder dass es sie schlicht nicht kümmert.
Carsten Schneider: Es könnte auch sein, dass in den Redaktionen inzwischen ein paar Ostdeutsche sitzen – und das Thema einfach wichtig fanden.
Dirk Oschmann: Schauen Sie sich an, was die Süddeutsche Zeitung zu meinem Buch geschrieben hat. Schon mit der Überschrift wurde genau jenes herabwürdigende Sprachmuster bedient, das ich in meinem Buch anprangere. Sie lautete: "Los Wochos in Lostdeutschland".
Ist das nicht einfach ein Witz, der Ihr Buch aufs Korn nimmt?
Dirk Oschmann: Das kann man lustig finden. Aber vielleicht nicht angesichts einer Redeweise, die seit 1945 existiert.
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Einer Redeweise, mittels derer der Osten, wie gesagt, als das Defizitäre, Abwegige, Kuriose, Unnormale dargestellt wird.
Ihre Kinder, Herr Oschmann, dürfen nicht sächseln, schreiben Sie. Stimmt das?
Dirk Oschmann: Ich habe ihnen angedroht, das Taschengeld zu entziehen, wenn sie damit anfangen.
Im Ernst?
Dirk Oschmann: Das ist natürlich ein Witz, aber mit todernstem Hintergrund. Ich kenne mehrere Leute, die unter wirklichen Schmerzen Schulungen belegt haben, um den sächsischen Dialekt loszuwerden, um nicht mehr diskriminiert zu werden im öffentlichen Raum.
Carsten Schneider: Das gibt es allerdings auch zwischen Ostdeutschen. Fragen Sie mal, wie Sachsen das Berlinern empfinden und umgekehrt.
Vielleicht ist der Dialekt gar nicht so schön, wie die Sachsen glauben.
Carsten Schneider: Wir Thüringer glauben ja, wir sprächen hochdeutsch. Dem ist dann doch nicht ganz so. Dialekte sind Ausdruck der regionalen Kultur, die ganz Deutschland so vielfältig macht. Vielleicht sollten wir uns die Schwaben zum Vorbild nehmen und uns nicht einreden lassen, dass unsere Herkunft ein Makel ist.
Zitierweise: Dirk Oschmann und Carsten Schneider, interviewt von Anne Hähnig und Martin Machowecz, "Wird der Osten unterdrückt?", in: Deutschland Archiv, 7.4.2023, www.bpb.de/519878. Die Erstveröffentlichung des Gesprächs erfolgte am 3.4.2023 in ZEIT-Online unter dem Link https://www.zeit.de/2023/14/der-osten-dirk-oschmann-carsten-schneider?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F. Die Reihe wird fortgesetzt. Alle Beiträge sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen AutorInnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
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