Die Diskussion ist kein Aprilscherz sondern bitterernst und überfällig: Wieder wird über Ost-West-Identitäten gestritten. Mitunter mit Klischees und Sensationshascherei, im Kern aber mit Erfahrungen und Befindlichkeiten anno 2023. Vier Studierende schildern ihre Sicht und überlegen Lösungswege. Nicht "ostdeutscher", sondern "ostbewusster" Aktivismus sei gefragt. Vier Denkanstöße aus der Berliner Studierendenzeitung "UnAufgefordert".
Die Debatte ist nicht neu, aber neu ausgebrochen, nachdem der Leipziger Germanist Dirk Oschmann Anfang 2023 in zugespitzter Form ein Buch veröffentlicht hat: Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung.
Oschmanns These: die Benachteiligung Ostdeutscher sei auch 33 Jahre nach der Wiedervereinigung noch so groß, "dass der Osten die Gesellschaft in der er lebt, nicht mitgestalten kann". Nach wie vor würden sich "Ostdeutsche in den Eliten des Landes praktisch nicht wiederfinden", was allerdings keine neue Erkenntnis ist.
Unter anderem SPIEGEL, Tagesspiegel, ZEIT, und Berliner Zeitung, gaben Oschmann seitdem Raum für lange Interviews, die ZEIT jüngst auch für ein Externer Link: Streitgespräch mit dem Ostbeauftragten der Bundesregierung, Carsten Schneider aus Erfurt. Der hält als "Ostdeutscher" dagegen, dass er es immer "als bereichernd empfunden" habe, zwei Systeme zu kennen: "Es stimmt: ich habe eine Welt zusammenbrechen sehen - aber auch eine neue mitgestaltet. Wir haben aus eigener Kraft viel geschafft".
Insbesondere in ostdeutschen Zeitungen hat Oschmanns Vorstoß eine neuerliche Diskussionswelle ausgelöst, vor allem über Erfahrungen und Befindlichkeiten, die aus Sicht der Betroffenen noch immer viel zu wenig wahrgenommen würden. .
Auch die unabhängige Berliner Studierendenzeitung der Humboldt-Universität UnAuf, (was sich von "Unaufgefordert" ableitet), hat dem Thema in ihrer Februarausgabe 2023 sogar eine Titelgeschichte gewidmet und Studierende zu dem Themenfeld befragt. Die Beweggründe und Resonanz beschreibt deren Chefredaktion auf Nachfrage des Deutschland Archivs wie folgt:
"Einer der Gründe für die Bearbeitung dieses Themas war natürlich die übliche Problematik der fehlenden gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. Nun sind wir allerdings die Studierendenzeitung der Humboldt-Universität (HU), was einige Aspekte noch hinzufügt. Einerseits die HU als eines der intellektuellen Zentren der DDR-Diktatur. Daraus erwächst in gewisser Weise eine besondere Verantwortung, dass wir uns darum kümmern. Aber eben auch die studentische Perspektive: Geht es um die Fragen der heutigen Einheit Deutschlands, wird meistens über erfolgreiche/erfolglose Unternehmen gesprochen, über Karrieren, über Strukturunterschiede. Studentische Fragen fanden in dieser Hinsicht selten einen Platz. Oder anders: Identitätsfragen "Ostdeutschlands" werden oft diskutiert - aber selten von Student*innen. Das haben wir hier gemacht. Und dann ist da natürlich noch ein gewisses Schuldgefühl - unsere Redaktion besteht zum größten Teil aus "Westdeutschen", auch wenn Sie mit den ausgewählten Artikeln gerade vier unserer "ostdeutschen" Redakteurinnen erwischt haben."
Nachfolgend vier der Texte, jeweils vorangestellt eine kurze Begründung der Autorinnen, was sie bewegt hat, sich dem Thema zu widmen:
Vier Denkanstöße aus studentischer Perspektive
Leoni Gau (21): "Warum Ost und West (noch) immer einen Rolle spielen.
Stephanie Beetz (26): "Ostbewusster Aktivismus" - Ein Interview mit Lisa Trebs und Vanessa Beyer, die für Chemnitz2025 den Film (K)Einheit produzieren".
Nora Rauschenbach (28): "Kinder der Wende"
1. Meine (un)geteilte Heimat
Josephine Machold, 21, Philosophie und Geschichte
"Das Thema begleitet mich in meinem Alltag ständig, weshalb es mir auch nicht wirklich als tatsächliche Artikelidee vorkam. Noch bevor das Thema wirklich feststand, haben wir aufgrund anderer Anhaltspunkte ab und an in der Redaktion darüber gesprochen, weshalb für mich später direkt klar war, dass ich dazu etwas schreiben muss. Ich wollte der Intuition folgen (m)eine Geschichte zu erzählen, da mir durch viele Unterhaltungen mit zahlreichen Menschen klar geworden ist, dass es für Viele kein so präsentes Thema zu sein scheint. Ich wollte das Potenzial meiner Erfahrung nutzen um einen Perspektivwechsel zu ermöglichen und mehr Bewusstsein zu schaffen, da Veränderung meiner Meinung nach genau dort beginnt".
Ein Mädchen, gerade einmal fünf Jahre alt, zieht aus Thüringen zu ihrer Mutter nach Baden-Württemberg. Kurze Zeit nach der Einschulung erwähnt sie einer Mitschülerin gegenüber, woher sie ursprünglich kommt „Iiiih, du kommst aus dem Osten?!“ erwidert sie. Das Mädchen war ich, zu diesem Zeitpunkt etwas über sieben Jahre alt und das erste Mal mit meinem persönlichen Ost-West-Konflikt konfrontiert.
Eine Person, die aus dem „Osten“ kommt, wird heute darüber definiert, in einem der „Neuen Bundesländer“ (Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern) oder in Ost-Berlin geboren zu sein. An einem Ort geboren zu sein und sich mit diesem Ort und seiner Kultur zu identifizieren, sind jedoch grundverschiedene Dinge. Um zu verstehen, wie Ost und West heute, 33 Jahre nach der Wiedervereinigung, für uns noch eine Rolle spielen, werde ich in diesem Artikel einen Teil meiner Geschichte erzählen.
Mein Osten – auf der einen Seite einer unsichtbaren Mauer
Hier bin ich geboren: Rennsteig, Thüringen. Hier lebt meine Familie, hier bin ich in die Kinderkrippe und den Kindergarten gegangen und habe alle Schulferien verbracht. Es sind die kleinen Dinge, die sich mir in diesem Umfeld eingeprägt haben: meine Oma oder Uroma, die den ganzen Tag in Kittelschürze verbringt, wie wir mit der ganzen Familie an Weihnachten zusammensitzen, Rommé oder Skat spielen und es zum Kaffee am Sonntag „kalten Hund” gibt. Wie mir meine Mutter und meine Oma von früher erzählen, wie sie sich auf die Care-Pakete mit Kaffee, Schokolade, oder Spielsachen von Verwandten und Bekannten aus dem Westen gefreut haben. Vor allem jedoch daran, wie die Gemeinschaft sich gegenseitig unterstützt und füreinander da ist. Erinnerungen an letzten Sommer, als mein Vater und ich die Heuernte einholen und es plötzlich anfängt, in Strömen zu regnen. Sofort waren mehrere Nachbar*innen zur Stelle und halfen mit. Wir kennen uns, nehmen Teil am Leben der Menschen um uns herum, helfen uns, wenn jemand etwas braucht.
Mein Westen – die andere Seite einer unsichtbaren Mauer
Hier bin ich aufgewachsen: Hochschwarzwald, Baden-Württemberg. Es fällt mir schwer, diese Umgebung mit meiner Gebürtigen zu vergleichen, da sie sich - abgesehen von dem starken Dialekt vor Ort - in wenigen Punkten ähneln.
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Bis zur Oberstufe war es ein Hindernis, dass meine Familie und ich aus dem Osten kommen, da viele meiner Mitschüler*innen erstmal gar nicht wussten, was mit dieser Information anzufangen sei. Sie stand meistens im Raum, wie ein unsichtbarer Elefant, der die Sicht versperrte.
Dass Menschen aus den neuen Bundesländern 41 Jahre eine ganz andere Kultur unter grundverschiedenen Ausgangssituationen und Entwicklungen heraus erlebt haben, scheint unterbewusst allen klar zu sein.
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Die Unterschiede im Denken und Fühlen sind dabei nicht greifbar, sondern liegen nur als Bauchgefühl vor.
Ich erinnere mich an eine Geburtstagsfeier einer guten Freundin in der Grundschule: Die Ideen der Gäste, was wir zusammen machen könnten, schienen allerdings nicht von Bedeutung zu sein. Das Geburtstagskind entschied, was gemacht werden sollte – egal ob die Mehrheit darauf Lust hatte oder nicht. Dieser und viele ähnliche Momente haben mich während meiner Schulzeit oft fremd fühlen lassen, weil ich nie so vorgegangen wäre. Denn mein Gefühl von Gemeinschaft, mit dem ich aufgewachsen bin, wurde von meinen Mitschüler*innen und Lehrer*innen nie wirklich verstanden.
Zum anderen wussten meine Freund*innen mit vielen Dingen, die ich als selbstverständlich annahm, nichts anzufangen, weil ihnen vieles unbekannt war. Mein Lieblingsmärchen “Väterchen Frost - Abenteuer im Zauberwald“, das Lied „Kling Klang“ von Keimzeit, oder die andere Art von Jägerschnitzel bestehend aus paniert gebratener Jagdwurst, Nudeln und Tomatensoße, um ein paar wenige Beispiele zu nennen.
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Wir kommen aus einem Land, wir teilen eine Vergangenheit, doch trotzdem kennen wir uns nicht und haben Schwierigkeiten, uns zu verstehen.
Immer wieder fällt mir auf, wie selbstbezogen die Menschen im Hochschwarzwald an ihren Alltag herangehen. Weder an Geburtstagen, Weihnachten noch an Silvester geht jemand bei seinen Nachbarn vorbei und beglückwünscht sich einfach so; das Miteinander und Füreinander sind Phänomene, die ganz anders gelebt werden.
Des Pudels Kern
Oft habe ich mir gedacht, dass sich an diesem Punkt unsere schleppende Wiedervereinigung herauskristallisiert:
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Anstatt aufeinander zuzugehen, miteinander zu sprechen, sich Geschichten zu erzählen oder als Gesellschaft zusammen zu finden, gab es eine Wiedereingliederung der neuen Bundesländer, ein politisches Ereignis und Gedenktafeln an der Berliner Mauer – aber kein kollektives „Wieder-Zusammenfinden“ der Menschen.
Alleine für sich oder in der Gemeinschaft der lang bekannten Nachbarn sitzen Menschen in ihren Wohnzimmern und wundern sich, warum Menschen östlich oder westlich von ihnen eine andere Mentalität haben, anders bezahlt werden und ein so ganz anderes Leben führen. Ohne es aktiv zu wollen, bestärken wir die Unterschiede, anstatt zueinander zu finden.
Fehlende Sensibilitäten diagnostizierend. Der Beitrag von Leoni Gau (21) im Heft "UnAuf", erschienen an der Berliner Humboldt-Universität (HU).
2. Warum Ost und West (noch) immer eine Rolle spielen
Von Leoni Gau (21), studiert Politik- und Kommunikationswissenschaft
"Mir ist in der Vergangenheit immer wieder aufgefallen, wie unterschiedlich die Thematik Ost-West bei jungen Menschen Gehör findet. Die einen fühlen sich persönlich betroffen, für die anderen ist Ost-West nur ein Teil deutscher Geschichte. Der Artikel soll genau diese verschiedenen Betrachtungsweisen aufzeigen und dazu einladen, sich über die eigenen Erfahrungswerte auszutauschen."
Meine Familie kommt aus dem Osten. Seit meinem Umzug von Berlin nach Greifswald ist meine ostdeutsche Herkunft für mich gegenwärtiger und relevanter geworden. Mittlerweile weiß ich, dass es vielen so geht.
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Ich habe den Eindruck, dass sich ostsozialisierte junge Menschen heute intensiver mit ihrer Herkunft auseinandersetzen als westsozialisierte. Vielleicht wollen sie sich mehr mit ihr beschäftigen. Aber vielleicht müssen sie das auch, weil in den Medien mehr über den Osten berichtet wird. Weil im Osten mehr Menschen rechts wählen. Weil die Menschen im Osten weniger verdienen.
Ich wollte wissen, ob mein Eindruck trügt und habe mit Student*innen aus Greifswald und Berlin darüber gesprochen, welche Rolle Ost-West für sie heute noch spielt.
Mit 19 Jahren ist Merle (21) von Schleswig-Holstein für ihr Studium nach Greifswald gezogen. Das sei auch das erste Mal gewesen, dass die gebürtige Kölnerin persönlich mit dem Thema Ost-West in Berührung kam: „Für mich war das nie so ein Ding. Dadurch, dass ich nie da war, habe ich selbst keinen Unterschied gemacht.“
Wenn die Studentin mit Kommiliton*innen spricht, die auch aus Westdeutschland nach Greifswald gezogen sind, merke sie, dass in den Köpfen noch immer ein Unterschied zwischen Ost und West gemacht werde: „Der Osten ist dann auch etwas, worüber manche Witze machen. Ich glaube, das sind Sachen, die man nicht über Westdeutschland sagen würde, weil oftmals die Menschen aus der ehemaligen DDR als ‚die anderen‘ wahrgenommen werden“, so Merle.
Fehlende Sensibilität
Für Sebastian (24) spielt die strukturelle Benachteiligung von Ostdeutschen eine wichtige Rolle: „Viele von uns werden nichts erben. Frauen mit Ostbiografie in Führungspositionen gibt es viel weniger. Arbeitsleistungen und kulturelle Errungenschaften werden in der breiten Westbevölkerung oft belächelt oder nicht anerkannt“, sagt der Ost-Berliner.
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Westsozialisierten jungen Menschen fehle es oft an Sensibilität für das Thema. Dass hinter „dem Osten“ mehrere Generationen mit individuellen, ganz persönlichen, teils sehr emotionalen Biografien stehen, sei den meisten kaum bewusst.
Der Student bekomme manchmal das Gefühl, er müsse sich besonders für Ostdeutschland, gerade weil es seine Heimat ist, behaupten und den Menschen eine andere Sichtweise aufzeigen. Dabei wandere er immer auf einem schmalen Grat. Einerseits verteidige er ostdeutsche Geschichte, andererseits versuche er, keine DDR-Verherrlichung zu betreiben.
Sebastians Ostsozialisierung habe auch einen Einfluss auf seine Beziehung: „Mein Partner wurde vor der Wende geboren und kommt aus Westdeutschland. Für uns ist Ost-West schon ein ständiges Thema. Allerdings habe ich das Gefühl, dass ich immer die Thematik aufbringen muss, insbesondere, wenn ich auf Ungerechtigkeiten aufmerksam mache“, so der Student.
„Westmentalität“ als Status Quo
Solche Unterschiede im Miteinander stellte auch Charlotte (24) fest, als sie 2017 von Oranienburg, wo sie geboren und aufgewachsen ist, für drei Jahre nach Aachen zog. „Als ich in Aachen gewohnt habe, wurde mir bewusst, wie anders die Menschen aufeinander zugehen und wie anders manche Sachen aufgefasst werden“, erinnert sie sich. In ihrer Familie habe sie eine andere Art von Umgang mit ihren Mitmenschen erlebt:
„Ich empfinde das manchmal so, dass ich einen praktischeren Blick auf Situationen habe und dass ich mich schneller mit Entscheidungen abfinden kann, beziehungsweise nicht so viel über Gefühle reden muss, um zu akzeptieren, was gerade passiert. In Aachen war das anders“, so Charlotte. Mittlerweile wohnt die Studentin in Berlin-Pankow. Das Gefühl, dass der Status Quo eher eine gewisse Westmentalität sei und dass „Ossis“ noch immer als Außenseiter angesehen werden, lasse sie dennoch nicht los.
3. "Ostbewusster Aktivismus". Chemnitz und die Kamera
Von Stephanie Beetz (26), studiert Kommunikations- und Politikwissenschaften
"Immer mehr junge Menschen aus den neuen Bundesländern setzen sich mit ihrer Herkunft und Heimat stärker auseinander und möchten ein Bewusstsein für junge ostdeutsche Perspektiven im Wiedervereinigungsdiskurs und in der deutschen Öffentlichkeit schaffen. Da ich selbst in Sachsen aufgewachsen bin, identifiziere ich mich besonders stark mit solchen Projekten und sehe die Lücke, die im deutschen Wiedervereinigungsdiskurs herrscht."
Noch immer spüren junge Menschen aus dem Osten Deutschlands strukturelle Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern. Sie wurden von den Biografien ihrer Eltern aus der DDR-Zeit geprägt – gleichzeitig begegnen ihnen noch immer viele Stereotype über den Osten. Das Dokumentarfilmprojekt (K)Einheit greift genau diese Ambivalenzen der "Generation Z" aus dem Osten auf. Darüber sprach Stephanie Beetz für das Magazin UnAuf mit den beiden Initiatorinnen - Lisa Trebs und Vanessa Beyer.
Stephanie Beetz: Im Mittelpunkt eures Serien-Dokumentarfilms K(Einheit) [der als Mikroprojekt für das Kulturhauptstadtjahr Externer Link: "Chemnitz2025" ausgewählt worden ist], steht unter anderem die Ostdeutsche Identität – warum ist diese Thematisierung nach bald 33 Jahren Deutscher Einheit immer noch so wichtig?
Lisa & Vanessa: Auch wenn wir beide Deutschland nur als Einheit kennen, prägen uns die Erfahrungen und Erzählungen unserer Eltern und Großeltern. Im Austausch mit Gleichaltrigen aus den alten Bundesländern wird deutlich, dass es immer noch ein vorherrschendes Bild von Menschen, die im Osten aufgewachsen sind, gibt.
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Es existieren Unterschiede – im Kopf, aber auch reell. Wir wollen einerseits mit diesen Stereotypen über den Osten brechen, andererseits wollen wir jungen Menschen die Möglichkeit geben, sich mit ihrer Identität auseinanderzusetzen. Tatsächlich haben wir das Gefühl, mit diesem Thema einen Nerv in unserer Generation getroffen zu haben.
Wann und in welchem Kontext habt ihr euch zum ersten Mal mit eurer eigenen ostdeutschen Identität auseinandergesetzt? Was bedeutet sie?
Vanessa: Ich denke, für mich war ein wichtiger Schlüsselmoment, als es zu den rechtsextremen Ausschreitungen im Jahr 2018 in Chemnitz gekommen ist. In dieser Zeit habe ich in Berlin gelebt und mir wurde bewusst, wie der Osten in anderen Teilen von Deutschland wahrgenommen wird – da fiel sehr oft das Wort „Dunkeldeutschland”. Rechte Tendenzen sind ein reales Problem, aber besonders in Chemnitz habe ich auch engagierte Menschen getroffen, die sich für demokratische Werte und das Kulturleben der Stadt einsetzen. Diesen Drive habe ich zuvor in keiner anderen Stadt erlebt. Ab diesem Zeitpunkt habe ich mich aktiv dafür eingesetzt, ein anderes Bild von Sachsen zu prägen. Mein Bewusstsein über den Osten und seine vielfältigen Facetten sind damit erwacht.
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Ich erlebe einen stetigen Aushandlungsprozess zwischen familiären Erzählungen der Vergangenheit und meinen eigenen Erfahrungen mit der Einheit. Aber auch zwischen Geschichte und Gegenwart, zwischen demokratischem Engagement und rechter Realität, zwischen ostdeutscher Sozialisation und westdeutscher Gesellschaft.
Lisa: Aufgewachsen in einer Kleinstadt in Sachsen, wollte ich nach dem Abi einfach nur weg. Bis ich 18 Jahre alt war, ging mein Horizont nie viel weiter als die „Neuen Bundesländer“. Selbst im Sommerurlaub sind wir jedes Jahr, wie meine Eltern schon zu DDR-Zeiten, an die Ostsee gefahren. Also ging es für mich als AuPair nach Irland und für das Studium nach Dänemark.
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Immer wenn ich auf andere Deutsche getroffen bin, kamen sie aus München, Hamburg, Frankfurt am Main – nie aus Ostdeutschland. Das machte mich stutzig. Auch im Austausch mit ihnen und durch Freundschaften hinweg, wurde deutlich, dass meine Kindheit anders geprägt war, und dass ich andere Werte vermittelt bekommen habe. Aber eben auch, dass strukturelle Unterschiede und andere Perspektiven für junge Menschen aus dem Osten vorherrschen.
Sonst gäbe es mehr junge Ostdeutsche, die eine ähnliche Biografie einschlagen würden wie ich. Gleichaltrige Westdeutsche treten oft selbstbewusster auf und sind sich häufig mehr über ihre Karrierechancen bewusst. Das ist natürlich intersektionell bedingt. Auch Arbeiterkinder aus dem Westen können diese „Wissensgap“ haben, allerdings sind ostdeutsche Haushalte überproportional davon betroffen, da unsere Elterngeneration ein neues politisches, aber auch wirtschaftliches System „erlernen“ musste. Mir ist es wichtig zu zeigen: Nicht nur meine Eltern sind von diesem Systemwandel betroffen, sondern auch meine Generation. Für mich ist es eine transgenerationale Weitergabe von Erfahrungen und teilweise auch Traumata.
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Durch dieses Gefühl des irgendwie Anders-Seins in der Ferne fühle ich mich heute zwar verbundener mit meiner Herkunft, gleichzeitig habe ich durch die rechten Tendenzen und Rassismus im Osten ein ambivalentes Verhältnis zu meiner Heimat.
Welchen Diskurs über Ostdeutschland und den Wiedervereinigungsprozess würdet ihr euch in der deutschen Öffentlichkeit wünschen?
Lisa & Vanessa: Wir würden uns wünschen, dass der Osten in all seiner Vielfalt betrachtet wird. Im Laufe unseres Projektes haben wir Menschen mit wundervollen Biografien kennengelernt, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Gleichzeitig war es uns ein wichtiges Anliegen, jungen Menschen mit Migrationserfahrung einen Raum zu geben, deren Eltern bereits seit der DDR in Deutschland leben und die ein wichtiger Teil der ostdeutschen Realität sind. Ebenso wünschen wir uns, dass Pauschalisierungen über den Osten keinen Platz mehr im Diskurs haben und besonders Rassismus und rechte Tendenzen als gesamtgesellschaftliches Problem begriffen werden. Ostdeutsche Perspektiven sollen nicht mehr am Rand der Gesellschaft stattfinden. Diskurs muss auf Augenhöhe stattfinden.
Glaubt ihr, es braucht dafür einen „ostdeutschen Aktivismus“?Lisa & Vanessa:
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Der Begriff des ostdeutschen Aktivismus könnte schnell polarisiert werden, weshalb wir glauben, dass es für uns sinnbildlicher ist, von einem ostbewussten Aktivismus zu sprechen.
Für ein Verständnis der Geschichte der „Neuen Bundesländer”, für das Bewusstsein über Probleme, wie Rassismus und Rechtspopulismus, aber auch Chancen, wie den Unternehmergeist und den Aktivismus vieler junger Menschen.
Was war der Anstoß für euer Projekt (K)Einheit?
Lisa & Vanessa: Wenn wir uns an etwas stoßen, möchten wir es verändern. Über strukturelle Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland herrscht zwar schon seit der Wiedervereinigung ein gewisser Diskurs, dieser bleibt aber häufig oberflächlich. Bücher und Artikel, die das Leben junger Menschen im Osten thematisieren und aus deren Perspektive berichtet werden, haben uns zum Projekt motiviert.
Was sind eure Visionen für (K)Einheit? Wie soll es mit und nach dem Film weitergehen?
Lisa & Vanessa: Schon jetzt ergeben sich viele Synergien mit Projekten von Künstler*innen und Vereinen, die sich mit ähnlichen Themen beschäftigen. Diese wollen wir im kommenden Jahr nutzen und schauen, wo die Reise mit (K)Einheit hingeht. Wir fühlen uns bestätigt, dass das Projekt so viel Zuspruch erhält. Am meisten freuen wir uns jetzt aber auf die Ausstrahlung des Dokumentarfilms Mitte nächsten Jahres in Chemnitz. Es lohnt sich auf jeden Fall, unseren Insta-Channel @k.Einheit zu abonnieren, um auf dem Laufenden zu bleiben!
Von Nora Rauschenbach (28), studiert Europäische Literaturen
"Familienplanung ist ein Thema, dass viele Studierende früher oder später betreffen wird; manche bereits während des Studiums, andere erst danach. Ich fand es spannend, die heute noch bestehenden Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland herauszuarbeiten".
Auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es immer noch Unterschiede zwischen Westdeutschland und den „Neuen Bundesländern“. Einer davon ist die Familienplanung. Über erschwerte Arbeitsbedingungen mit Kind im Westen und die Folgen der vielen Betreuungsangebote im Osten.
Julia ist 26 Jahre alt, hat ein Kind und ist momentan schwanger mit dem zweiten. Ursprünglich kommt sie aus Calbe, einer kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt, seit einigen Jahren lebt sie jedoch gemeinsam mit ihrem Mann in Mainz. Sie hatte schon immer einen stark ausgeprägten Kinderwunsch, der sich zu Beginn ihres Studiums in Mainz derart verstärkte, dass sie psychisch unter dessen anfänglicher Unerfüllbarkeit litt. Zudem sei es gesellschaftlich nicht akzeptiert gewesen, so frisch zu studieren und gleichzeitig Mutter zu werden: „Meine Freunde haben gesagt: ‚Julia, du hast doch gerade angefangen, zu studieren, du kannst doch jetzt kein Kind kriegen‘“.
Nach vier bis fünf Semestern konnte sie sich auf nichts anderes mehr konzentrieren, hatte vom Kinderwunsch gesteuerte psychosomatische Beckenbodenschmerzen. Also beschlossen sie und ihr Partner, es einfach zu versuchen. Julia wurde sofort schwanger und stand nun vor der Herausforderung, als Jung-Mutter ihr Studium zu beenden. Das würde sie so nicht nochmal machen, berichtet die gelernte Erziehungswissenschaftlerin. Die Zeit, die ihr Kind gerade nicht bei ihr war, habe sie damit verbracht, ihre Bachelorarbeit zu schreiben. Unterstützung durch die Uni? Fehlanzeige. Julia erzählt, sie wisse nicht, ob sie Anspruch auf einen Krippenplatz gehabt hätte. Schließlich hat sie ihn im Kindergarten ab dem ersten Lebensjahr angemeldet, da ihr klar wurde, dass sie nach dem Studium arbeiten müsse
Familienplanung: eine Frage der Sozialisation?
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Doch gibt es nach wie vor regionsbezogene Unterschiede? Die Wende liegt bereits über dreißig Jahre zurück. Ja, sagt Julia, auch heute sei noch eine Trennung spürbar. Familienplanung etwa sei im Osten von viel größerer Bedeutung: „In Ostdeutschland war es so, dass die Mütter gleich wieder arbeiten gingen. Es gab ja auch diese Wochenkrippen, wo die Kinder als Babys schon eine ganze Woche am Stück in die Fremdbetreuung gegeben wurden. Das gab’s nur in der DDR und nicht im Westen.“ Dort habe hingegen eher das „Hausfrauenmodell“ dominiert.
Diese Strukturen würden sich bis heute durchziehen, so Julia: „Als ich angefangen habe, als Pädagogin zu arbeiten, konnten meine Kollegen und die Eltern gar nicht glauben, dass ich einen einjährigen Sohn habe und schon wieder arbeite. Hätte ich aber im Osten angefangen, in Sachsen-Anhalt zum Beispiel, wäre das kein Problem. Auch wenn das Kind krank ist: Klar, das ist immer blöd für den Arbeitgeber. Aber dort wird das nicht so verpönt, wie das hier der Fall ist. Im Endeffekt wurde mir nach sechs Monaten gekündigt, weil mein Kind öfter mal krank war.“
Die Forschung stützt Julias Beobachtungen. Eine Erhebung des Statistischen Bundesamtes 2022 zeigt, dass in den „Neuen Bundesländern“ die Besuchsquote von unter Dreijährigen in Kindertageseinrichtungen bei 53,3 Prozent liegt. In Rheinland-Pfalz, wo sich Julias derzeitiger Wohnort befindet, liegt diese Quote bei 30,6 Prozent. Außerdem bestehen nach wie vor große Unterschiede in der Verbreitung von Kinderlosigkeit: Laut dem Statistischen Bundesamt lag der Anteil der Frauen* ohne eigene Kinder bei den 45- bis 49-Jährigen in Westdeutschland 2018 bei 22 Prozent und war somit um einiges höher als in Ostdeutschland, wo er nur bei 15 Prozent lag.>
Die Kehrseite
Obwohl in den „Neuen Bundesländern“ nach wie vor mehr Kleinkinder fremdbetreut werden als in den westlichen, obwohl im Osten mehr Verständnis seitens der Arbeitgeber*innen gezeigt wird, wenn das Kind krank ist, sieht Julia doch nicht alles positiv: Vor vierzig Jahren habe man in Westdeutschland keine Krippenplätze gebraucht, denn die Frau habe sich um die Kinder gekümmert. Doch hinterfragt, wie gut das für Mutter und Kind ist, habe keine*r: „Man hatte von morgens bis abends Dienst, danach war der Haushalt dran. Wenn das Kind geschrien hat, war das eben so. Heute ist man da viel empathischer.“
Zitierweise: Studierendenzeitung UnAufgefordert, "Neuer Ost-West-Konflikt?“, in: Deutschland Archiv, 01.04.2023, Link: www.bpb.de/519694. Alle Beiträge sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen AutorInnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
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