Arbeit und Zeitgeschichte
David Dambitsch: Sie arbeiteten schon Mitte der 1990er-Jahre an der Stiftung Neue Synagoge – Centrum Judaicum und verantworteten zusammen mit Hermann Simon
Chana Schütz: Die Nachwendezeit war die Zeit, als ich keinen festen Job hatte. Ich war Kuratorin einer großen Ausstellung – Jüdische Lebenswelten
Als diese Ausstellung beendet war, war ich arbeitslos. Ich hatte einen Sohn, und ich hatte einen Mann, der damals auch keinen Job hatte. Ich musste gucken, wo es hingehen sollte. Und dann schlug mein Vater vor: „Ach, weißt du, was, frag‘ doch einfach bei Heinz Galinski, ob man nicht jemanden wie dich dort brauchen kann.“ Ich hatte großen Respekt vor Heinz Galinski, dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Er war ein sehr enger Freund meines Vaters, weil mein Vater als Regierender Bürgermeister sehr eng mit der Jüdischen Gemeinde verbunden war und ihm ein gutes Verhältnis wichtig war. Beide kannten sich schon seit den 1940er-Jahren. Da habe ich mich einfach mal getraut nachzufragen. Herr Galinski sagte daraufhin: „Das ist ja schön, was Sie alles gemacht haben. Aber was könnten Sie sich vorstellen, jetzt, wo Sie gerne berufstätig sein würden?“ Da habe ich geantwortet: „Eigentlich nur in der Oranienburger Straße (am Standort des Centrum Judaicum in Berlin-Mitte, d. A.). Er sah er mich an und sagte: „Sie haben den Job, da will keiner aus der Westberliner Gemeinde hin. Machen Sie was draus.“
Das war der Beginn einer langen Beziehung mit der Stiftung Neue Synagoge – Centrum Judaicum.
David Dambitsch: Jüdische Einwanderer/innen aus der zusammenbrechenden Sowjetunion kamen ab 1990/91 als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland, zunächst in die DDR. Welche Erinnerungen haben Sie an diese ersten Neuanfänge jüdischen Lebens in Berlin, der Synagogengemeinde Oranienburger Straße?
Chana Schütz: Bei mir war das beruflich konzentriert auf das Centrum Judaicum. Der Standort an der Oranienburger Straße hat sich von Anfang an als ein historischer Ort verstanden. Insofern war das Interesse der Zuwanderer an dem, was wir dort taten, eher gering. Hermann Simon dachte vor allem darüber nach, wie wir Themen finden können, um auch diese neuen Gemeindemitglieder anzusprechen. Denn in der Zwischenzeit stammten ja zwei Drittel der eingeschriebenen Mitglieder der Jüdischen Gemeinde in Berlin aus der ehemaligen Sowjetunion. Deshalb haben wir eine Ausstellung über die Soldaten der Roten Armee, die Berlin 1945 befreit haben, gemacht. Das war natürlich ein heikles Thema, wegen der vielen Vergewaltigungen, die es damals gegeben hat. Die Ausstellung war schließlich ein ungeheurer Erfolg, denn die neuen Gemeindemitglieder waren ja auch Soldaten und Soldatinnen. Sie kamen dorthin tatsächlich mit ihren Orden. Seitdem wurde jedes Jahr in der Oranienburger Straße die Befreiung von den Nationalsozialisten gefeiert. Was außerdem etabliert wurde waren sogenannte Zirkel, die auch in der Sowjetunion üblich waren. So gab es dann zum Beispiel den Zirkel der Patentinhaber, also der Erfinder, einen Schachzirkel, den es bis heute noch gibt, und einen Malzirkel. Meine Zwillinge, die ich 1993 geboren habe, sind als sie so fünf, sechs Jahre alt waren in diesen Zirkel gegangen. Sie hatten eine wunderbare Nanny – Stella – die auch aus der Sowjetunion stammte. Da ist was sehr Komisches passiert: Ich holte die Kinder ab und kam aus dem anderen Teil des Gebäudes an der Oranienburger Straße. Stella war sehr aufgeregt und erzählte: „Stell‘ dir vor, ich wurde hier auf einmal beschimpft von anderen, älteren Frauen, die haben nämlich gesagt, wie ich als Großmutter mit meinen Enkeln nur Deutsch und nicht Russisch sprechen könnte.“
David Dambitsch: Sie haben an der Stiftung Neue Synagoge Centrum Judaicum in 23 Jahren insgesamt 76 Ausstellungen zusammen mit Hermann Simon realisiert. Welche dieser 76 Ausstellungen liegt Ihnen im Rückblick am meisten am Herzen?
Chana Schütz: Ich glaube, die wichtigste Ausstellung, die wir gemacht haben, war 2000 über Juden in Berlin 1938 – 1945
Das hätte ich mit meinem Background überhaupt nicht machen können. Aber Hermann Simon, dessen Eltern beide aus Berlin stammten
Am Herzen liegt mir natürlich auch die Ausstellung über das Berliner Jüdische Museum, das sich von Januar 1933 bis 1938 in der Oranienburger Straße befand. Wir gaben ihr den Titel: Auf der Suche nach einer verlorenen Sammlung
David Dambitsch: Sie waren jahrzehntelang ein ausgesprochen beständiges, hoch produktives und erfolgreiches Team an der Stiftung Neue Synagoge – Centrum Judaicum. Was war das „Erfolgsgeheimnis“?
Chana Schütz: Erst einmal hat die Chemie gestimmt zwischen Hermann Simon und mir. Wenn ich so zurückschaue, ist es wohl nach meinem Mann die wichtigste Begegnung zu einem sehr zentralen Zeitpunkt für mein Leben gewesen: Ich habe ihn nämlich kennengelernt, als ich aus Israel kam. Er war der erste Jude, den ich traf, der Deutsch sprach und nicht über 70 oder 80 Jahre alt war. Und er war auch der erste Intellektuelle, aus der DDR, den ich kennenlernte. Wir hatten zwar viele Verwandte in der DDR, aber mit denen konnte man sich eigentlich nie so richtig unterhalten. Ich weiß noch genau, das war um den 4. Oktober 1989 herum, und wir sprachen über die Ausstellung Jüdische Lebenswelten im Martin-Gropius-Bau, die ich gerade vorbereitete. Hermann Simon hatte die erste und einzige große Ausstellung über Juden in der DDR gemacht, 1988 im Ephraim-Palais: Und lehrt sie Gedächtnis. Wir trafen uns in diesen Wendezeiten und da gab es mir gegenüber so viel Offenheit, aber auch viele Zweifel, ob das insgesamt politisch in die richtige Richtung ging.
David Dambitsch: Er stammt aus einer traditionsbewussten jüdischen Familie aus Ostberlin, Sie selbst sind zum Judentum konvertiert. Welche Bedeutung spielte Religiosität, welche jüdische Identität bei Ihrer Arbeit?
Chana Schütz: Sehr früh hatten wir einmal ein Gespräch über die Vergangenheit der Familie. Ich habe erklärt, dass ich nicht diese Vergangenheit der Verfolgung habe. Und er antwortete (1949 geboren, d. A.): „Ja, aber ich auch nicht.“ Das fand ich ungeheuer toll. Das hat die Dinge geregelt oder, sagen wir mal, auf einen Nenner gebracht.
David Dambitsch: Sie haben im Laufe der Jahre auch Ausstellungen begleitet und kuratiert, die Künstlerinnen und Künstlern gewidmet waren. Haben Sie eine Favoritin oder einen Favoriten?
Chana Schütz: Ja, habe ich. Und zwar ist das der Künstler, Heinz Koppel
David Dambitsch: Was schätzen Sie an ihm?
Chana Schütz: Ich schätze an ihm, dass er so unabhängig war, dass er so vollkommen unbeirrt das gemacht hat, was er für richtig hielt und gleichzeitig so viel deutsch-jüdische Tiefe und auch Schmerz in sich trug. Und das ist ein Œuvre, das im Besitz der Familie verblieben ist. Ein Werk ist in der Tate-Gallery in London, sonst ist er eigentlich ein vollkommen vergessener Künstler. Und über den haben wir eine Ausstellung gemacht. Wer mir sehr ans Herz gewachsen ist, das ist Gabriella Rosenthal
David Dambitsch: Lassen Sie uns einen Rücksprung in die Zeit machen als Sie in Deutschland Ihre Promotion geschrieben haben. Der Titel Ihrer Dissertation lautet „Preußen in Jerusalem – Karl Friedrich Schinkels Entwurf der Grabeskirche und die Jerusalem-Pläne Friedrich Wilhelm IV“, wie kam es dazu?
Chana Schütz: Ich hatte in Jerusalem studiert, hatte einen BA (Bachelor of Arts), und es war klar, dass es für mich in Jerusalem nicht weitergeht und ich nach Deutschland zurückgehen sollte, um zu sehen, ob ich ein Thema für eine Dissertation finde. Dann bin ich in Bonn gewesen. Da haben mir alle Leute gesagt: „Ach, du willst etwas machen über die Preußen in Jerusalem und ihr Engagement. So ein komisches Thema zwischen Kunstgeschichte, Religionsgeschichte, Anthropologie und Geschichte – also, wenn es jemand annimmt, dann ist es Tilmann Buddensieg
David Dambitsch: Frau Schütz, wenn Sie zurückblicken auf die Art und Weise, an ein Thema heranzugehen – wie hat sich Ihre Herangehensweise, ein Thema zu kuratieren, im Laufe der Jahre verändert?
Chana Schütz: Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Die Themen waren immer auch davon geprägt, ob wir sie realisieren konnten. Ein Beispiel ist eine Ausstellung, die wir über Heinz Fenchel
David Dambitsch: Welches Thema beschäftigt Sie im Moment? Welche Geschichten verdienen es, einem breiten Publikum erzählt zu werden?
Chana Schütz: Ein Thema, was ich schon während meiner Zeit im Centrum Judaicum verfolgt habe, ist, sich intensiver auf die Zeit zwischen 1871 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs zu konzentrieren, weil das, was man heute als berlinisch-jüdischen, deutsch-jüdischen Geist bezeichnet, in dieser Zeit entstanden ist. Da gibt es interessante Persönlichkeiten. Zum Beispiel ein Paar, aus Russland stammend, das die ersten französischen Impressionisten nach Berlin gebracht hat. Carl und Felicie Bernstein, sie kam aus Sankt Petersburg, er aus Odessa. Felicies Familie war sehr reich, sehr kultiviert und der jüdischen Aufklärung verbunden. Ihr Vater hat den Zionismus sehr gefördert. Er gehörte zu der berühmten Ephrussi-Familie, die nach Wien und nach Paris gegangen ist. Wegen ihrer französischen Beziehungen – und das in der Zeit nach dem deutsch-französischen beziehungsweise preußisch-französischen Krieg – brachte die Familie die ersten Impressionisten hierher. Zehn Jahre später ist die Saat aufgegangen: Das erste impressionistische Bild von Manet wurde von Hugo von Tschudi
Gemeinsam mit der Kunsthistorikerin Emily D. Bilski in Jerusalem arbeitet Chana Schütz an einer Ausstellung über das russisch-jüdische Ehepaar Felicie und Carl Bernstein, die um 1880 nicht nur die ersten französischen impressionistischen Gemälde in ihre Wahlheimat Berlin brachten, sondern im Kreis gleichgesinnter Freunde und Freundinnen die moderne Kunst in Deutschland nachhaltig gestalteten. Sharon Adler/PIXELMEER, 2022 (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Gemeinsam mit der Kunsthistorikerin Emily D. Bilski in Jerusalem arbeitet Chana Schütz an einer Ausstellung über das russisch-jüdische Ehepaar Felicie und Carl Bernstein, die um 1880 nicht nur die ersten französischen impressionistischen Gemälde in ihre Wahlheimat Berlin brachten, sondern im Kreis gleichgesinnter Freunde und Freundinnen die moderne Kunst in Deutschland nachhaltig gestalteten. Sharon Adler/PIXELMEER, 2022 (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Das ist eine sehr interessante Geschichte, die aber schwierig zu fassen ist, denn es gibt sehr wenig Hintergrundinformationen darüber: Wie kann man Gespräche, Zusammenkünfte, Abendessen, Treffen, Empfänge, freundschaftliche Kreise, die sich dort entwickelt haben und dann zu bestimmten Ergebnissen führten, fassen? Wir versuchen das, und zwar zusammen mit Emily Bilski. Sie lebt seit mehr als 25 Jahren in Jerusalem, vorher war sie Kuratorin am Jüdischen Museum in New York. Wir haben tatsächlich eine Institution gefunden, die das Thema aufgreift, die Liebermann-Villa am Wannsee. Das ist aktuell mein größtes Projekt.
Daneben helfe ich, eine Ausstellung zustande zu bringen, die eigentlich fertig ist. Es ist eine große Sache, und zwar zeigt Yad Vashem – der Erinnerungsort für die Ermordung der Juden in Israel, die zentrale nationale Erinnerungsstätte – zum ersten Mal Objekte aus ihrer Sammlung in Berlin im Deutschen Bundestag. Was ich versuchen werde, weiterzuführen, ist immer noch die Suche nach den Objekten des Berliner Jüdischen Museums und den Spuren nachzugehen, die Hermann Simon und ich in Sankt Petersburg aufgespürt haben. Ich hoffe, dass es nach dem Krieg
David Dambitsch: Sie haben 1995 die damalige Eröffnungsausstellung im Centrum Judaicum mitgestaltet und 23 Jahre später die Neu-Installation der Dauer-Ausstellung
Chana Schütz: Der ist natürlich zu unterschreiben. Allerdings muss man noch einen anderen Aspekt in den Blick nehmen. Eine Dauerausstellung ist etwas anderes als eine temporäre Ausstellung. Eine Dauerausstellung ist konzeptionell eine größere Herausforderung. Aber sie war, meiner Meinung nach, zu meistern, mit einem relativ kleinen Haus, dessen Themen eigentlich vorgegeben sind. Das unterscheidet uns zum Beispiel vom Jüdischen Museum. Wir haben uns tatsächlich auf die Stadt Berlin und die Juden in der Stadt konzentriert.
Chana Schütz im ehemaligen Repräsentantensaal der Berliner Jüdischen Gemeinde in der Dauerausstellung des Centrum Judaicum. Im Hintergrund ein Selbstporträt von Max Liebermann. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Chana Schütz im ehemaligen Repräsentantensaal der Berliner Jüdischen Gemeinde in der Dauerausstellung des Centrum Judaicum. Im Hintergrund ein Selbstporträt von Max Liebermann. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Und es geht um die Fragen: Was ist das Innere und wie hat die Zeit vor allen Dingen nach 1933 sich auf die jüdische Gemeinschaft ausgewirkt? Ich habe ziemlich viel Kritik bekommen, weil es für manche ein bisschen zu abstrakt ist und sie Geschichten und Empathie in der Dauerausstellung vermissen. Ich glaube aber immer noch, dass es ein gutes Gerüst ist. Aber ich denke, dass sich solche Institutionen wie das Centrum Judaicum auch in der nächsten Zeit verändern werden. Das liegt natürlich daran, dass es heute eine ungeheure Konkurrenz der Player gibt; jüdische Themen sind präsent in allen Museen – das Deutsche Historische Museum macht eine Hannah-Arendt-Ausstellung, die Akademie der Künste macht eine Walter-Benjamin-Ausstellung. Das Judentum ist kein Nischenthema mehr.
Beruf und Privat
David Dambitsch: Sie stammen mütterlicherseits aus einer bedeutenden Theologenfamilie. Wie wurden Sie durch Ihre Mutter geprägt, welche Bedeutung hat ihre Mutter für ihren Werdegang gehabt?
Chana Schütz: Meine Mutter stammt aus einer bedeutenden protestantischen Theologenfamilie, ihr Onkel, der Bruder meiner Großmutter, Paul Tillich
Meine Mutter war eine außergewöhnliche Frau, sie war Kriegerwitwe, ihr erstes Kind starb 1945, während sie schwanger mit meinem Bruder Michael war. Meine Eltern trafen sich zu Beginn der 1950er-Jahre im Institut für Politische Wissenschaften in Berlin, eine Gründung der Ford Foundation. Meine Mutter arbeitete dort als Fremdsprachensekretärin. Davor war sie für das US-amerikanische Department of Justice in München tätig und begleitete jüdische DPs
Ein Blick in einen der vielen Bücherschränke von Gary Smith und Chana Schütz in ihrer Wohnung in Berlin-Wilmersdorf. Neben Schabbat-Leuchtern und anderen Judaica steht dort auch ein Chanukka-Leuchter, ein Geschenk des Vorstands der WIZO Berlin an ihre Eltern, Klaus und Heidi Schütz, für deren Verdienste um die Berliner Jüdische Gemeinde. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Ein Blick in einen der vielen Bücherschränke von Gary Smith und Chana Schütz in ihrer Wohnung in Berlin-Wilmersdorf. Neben Schabbat-Leuchtern und anderen Judaica steht dort auch ein Chanukka-Leuchter, ein Geschenk des Vorstands der WIZO Berlin an ihre Eltern, Klaus und Heidi Schütz, für deren Verdienste um die Berliner Jüdische Gemeinde. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
David Dambitsch: Als Mutter von drei Kindern und Frau in leitender Position, Ihr Ehemann Gary Smith
Chana Schütz: Im Alltag hatte ich eine lange Zeit meine Eltern als große Unterstützer. Sie wohnten in der Wohnung unter uns und ganz früh, als ich meine Zwillinge bekam, hatte mir meine Kinderärztin gesagt: „Frau Schütz, ich weiß, Sie wollen wieder anfangen zu arbeiten. Aber glauben Sie nicht, dass Sie das allein stemmen. Das schafft keiner. Nehmen Sie Ihr Geld, was Sie verdienen und suchen Sie sich jemanden, der Ihre Kinder betreut.“ Das hat es mir eigentlich ermöglicht. In der ersten Zeit, als die Kinder klein waren, habe ich ja noch nicht im Centrum Judaicum gearbeitet Ich habe in der Jüdischen Gemeinde gearbeitet und war dort sozusagen „Chefin“ von der Oranienburger Straße, das war, bevor die ganze Gemeindeführung dahin gezogen ist.
Ich hatte dort eine ganz wunderbare Sekretärin, die sah mich immer morgens und mit Zwillingen sind natürlich die Nächte oft nicht so lang. Deshalb sagte sie: „Ach, wissen Sie, da gibt es die Couch von Herrn Galinski, legen Sie sich nochmal eine Stunde hin.“ Das habe ich dann auch gemacht. Ich hatte wirklich viel Unterstützung. Mein Mann hat in der Zeit das Einstein-Forum
David Dambitsch: Beruf und Familie gleichermaßen zu leben, ist für Familien nach wie vor nicht so selbstverständlich wie es sein sollte. Inwieweit sind Ihnen in den 1990er-Jahren noch Vorurteile begegnet?
Chana Schütz: Natürlich. Ich muss sagen, leider oft von feministischer Seite. Es war 1993. Selbst, wenn es heute heißt: Es gibt nicht genug Kindergartenplätze, ist es verglichen mit damals ein wunderbares Schlaraffenland. In den Neunzigerjahren war es wesentlich schwieriger und unsere Kinder waren in mehreren Kindergärten und Initiativ-Kinderläden. Ich hatte einen ganz netten hier in der Nähe gefunden und fragte an, ob ich meine Kinder hinbringen kann. Da bekam ich die Antwort: „Nein, wir haben uns gegen dich entschieden“. Es hieß: „Du bringst zu wenig Initiative für den Kinderladen ein, denn du arbeitest ja Vollzeit.“ Okay, das war's dann. Aber es ging doch noch alles gut. Ich habe einen Kindergartenplatz gefunden, und alles war wunderbar. Meine Eltern haben meinen Sohn dann dort abgeholt.
Für Frauen in Führungspositionen war das früher schwieriger. Heute, mit der Besetzung der Leitung des Jüdischen Museums oder der des Centrum Judaicum, kann sich eigentlich keiner mehr etwas anderes vorstellen, als dass es eine Frau wird. Vor 20 Jahren war das überhaupt nicht so. Ich denke mir, wäre ich damals die Leiterin eines Jüdischen Museums gewesen, wäre es für mich sehr viel schwieriger geworden, ein einigermaßen harmonisches Familienleben zu haben, ohne Stress. Denn diese Aufgabe, die
Persönliche jüdische Wurzeln und Herkunft
David Dambitsch: Ihre persönlichen jüdischen Wurzeln begannen 1977 zu wachsen. Sie waren damals 21 Jahre alt und entschlossen sich, bei Ihrer Familie in Jerusalem zu sein und dort ein Studium der Kunstgeschichte aufzunehmen. Ihr Vater war im August 1977 zum Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Israel berufen worden. Wären Sie Ihrer Familie auch nach Japan oder Kanada gefolgt?
Chana Schütz: Ich glaube, mein Vater hätte es auch geschafft, mich nach Kanada oder nach Japan zu lotsen, weil, er schon sehr erfolgreich war mit meinem kleinen Bruder, der vier Jahre jünger ist. Da hat er nämlich einfach gesagt: „Was heißt hier, du sollst ins Internat gehen. Du kommst mit nach Israel.“ Er hatte damals einen sehr guten Freund, der war Bürgermeister von Tel Aviv, Shlomo Lahat, ein Berliner Junge, 1938 mit seiner Familie ausgewandert und ein großer General in Israel. Mit dem hat er gesprochen. Dazu muss man wissen, mein Vater ist ohne Geschwister und auch ohne Vater aufgewachsen, und für ihn war das sehr wichtig, seine Familie um sich zu haben. Und er sagte: „Okay –das Wort protectia ist ja ein weltweites Wort“ und hat seinen Freund „Tschitsch“ Shlomo Lahat gefragt, ob es eine Möglichkeit gebe für seinen Sohn. Das Schulsystem
Wenn Sie sagen, dass mein jüdisches Interesse 1977 begann, ist das nicht ganz richtig. Denn meine Eltern fühlten sich sehr wohl in Israel. Mein Vater war 1977 nach zehn Jahren von seinem Amt als Regierender Bürgermeister von Berlin zurückgetreten. Und das war eigentlich eine Befreiung für ihn. Er hatte Freunde in Israel, besonders in der Arbeitspartei. Die Verbindungen zwischen der SPD, die ja auch in der Sozialistischen Internationale Mitglied war
Konversion und amerikanisch-deutsch-jüdische Erfahrungen
David Dambitsch: Ein Lebensweg spannt sich immer auf zwischen den privaten Beziehungen und den intellektuellen, beruflichen Ambitionen. Sie haben sich in einen texanisch-jüdischen Walter-Benjamin
Chana Schütz: Die gibt’s und die gab es natürlich. Eine Lebenswelt, die mir vollkommen fremd war, war die amerikanisch-jüdische Lebenswelt. Ich habe ihn in Jerusalem kennengelernt, bei Scholems
Chana Schütz vor der Erinnerungswand für die ermordeten Berliner Jüdinnen und Juden auf der ehemaligen Frauenempore der Neue Synagoge in der Oranienburger Straße. Die Installation mit den Namen von über 54.000 Ermordeten und der wenigen Überlebenden der Shoa war im Jahr 2000 zentraler Bestandteil der Ausstellung Juden in Berlin 1938-1945 der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Chana Schütz vor der Erinnerungswand für die ermordeten Berliner Jüdinnen und Juden auf der ehemaligen Frauenempore der Neue Synagoge in der Oranienburger Straße. Die Installation mit den Namen von über 54.000 Ermordeten und der wenigen Überlebenden der Shoa war im Jahr 2000 zentraler Bestandteil der Ausstellung Juden in Berlin 1938-1945 der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
für die ist das Amerikanische an sich schon das Jüdische. Also sie hat dieser Beziehung keine große Zukunft vorausgesagt.
Wir haben ja in der Schweiz geheiratet, weil die Familie meines Mannes eben nicht nach Deutschland kam. Aber sie haben mich wahnsinnig freundlich aufgenommen. Ein großes Problem war natürlich mein Vorname: Christiane. Zur Hochzeit von Garys Bruder war ich zum ersten Mal in Texas. Sie waren wirklich sehr herzlich. Sie wussten ja auch von meiner Zeit in Israel. Und ich sprach besser Hebräisch als die ganze Smith-Familie zusammen. Ich sagte zu Garys Mutter: „I have to tell you, my Nick-Name in the family is Chana.” „Oh, thank you!“, sagte sie. Und seitdem bin ich dort Chana. Und ich heiße wirklich Chana, das ist mein Spitzname. Insofern hat sich das alles wunderbar entwickelt. Sie sind ganz wunderbare Menschen und haben mich vollkommen akzeptiert. Aber als ich dann in der Schweiz konvertiert bin, wollte ich nur orthodox übertreten, damit wir die Möglichkeit – wir wollten eine Familie gründen – haben, wenn es hier mal wirklich ernst wird, nach Israel auswandern zu können. Das ist erst vor kurzem akzeptiert worden, dass liberale Übertritte auch akzeptiert werden. Das wird wahrscheinlich unter der aktuellen israelischen Regierung alles wieder rückgängig gemacht werden. Aber im Augenblick ist es noch so.
David Dambitsch: Walter Benjamin und Gershom Scholem wurden im Haushalt Schütz/Smith sozusagen die „Hausheiligen“
Chana Schütz: Gary und ich haben uns nun mal im Haus von Scholems kennengelernt. Das sind diese Koinzidenzen. Mein Vater hatte schon vorher eine große, auch intellektuelle Affinität zu diesen Themen. Ich habe gar nicht so furchtbar viel gelesen von Walter Benjamin, also, ganz bestimmte Dinge wie über den Engel. Ich habe den Engel, Angelus Novus
David Dambitsch: Die emotionale Bindung zu Israel ist Ihnen selbst wiederum geblieben, wie auch das Zuhause-Fühlen in dem jüdischen Konzept von Familie. Was gehört für Sie dazu?
Chana Schütz: Erst einmal ist das die ständige Verbindung. Ich danke WhatsApp und Facetime und ich bin mit allen meinen Kindern in Kontakt. Das ist sehr wichtig. Die Feiertage spielen für uns eine große Rolle, und wir feiern sie auch online, wenn wir nicht zusammen sind, wie Pessach und auch manchmal Schabbat. Es ist doch letztlich dieses unbedingte Vertrauen und dieses Teilhaben an schönen Dingen, aber es auch zu teilen, wenn etwas Schreckliches passiert. Das haben wir in diesem Jahr erlebt. Unsere eine Tochter hat ihren Freund verloren, ganz dramatisch und wir haben das sehr intensiv miteinander geteilt. Das ist Sharing. Sie leben natürlich nicht mehr hier. Aber sie haben doch ihren Platz hier, und meine beiden Töchter, die ja nun doch vermutlich in Amerika ihren Lebensmittelpunkt finden werden, sagen: „Du darfst nie unsere Wohnung in Berlin aufgeben.“
David Dambitsch: Wenn Sie zurückschauen, gab beziehungsweise gibt es für Sie eine Art Schlüsselsituation in Ihrem jüdischen Leben?
Chana Schütz: Meine Lieblingserinnerung, was mein jüdisches Leben betrifft – da könnte ich natürlich unsere Hochzeit benennen. Aber es war wohl die Bar Mitzwa unseres Sohnes in der Rykestraße in Prenzlauer Berg – die Synagoge, die mir persönlich natürlich auch sehr nahe ist, weil sie die Synagoge von Hermann Simon ist. Es war das erste Mal, dass meine Schwiegermutter nach Deutschland kam. Ich saß dort, natürlich links, und die Männer saßen rechts, und Rabbiner Chaim Rozwaski sprach, das habe ich gar nicht erwartet, dann eigentlich nur über mich, was ich irgendwie ziemlich cool fand. Ich guckte dann so und hatte das „Eine-jüdische-Mutter-sein-Gefühl“: Er erzählte nämlich: „Ja, hier ist die Chana. Als ich zum ersten Mal in Berlin war kam auch der Rabbiner Chaskel Besser (ein großer Rabbiner, er war der Hausrabbiner von Ronald Lauder
Zitierweise: „Chana Schütz: ‚Seitdem bin ich Chana‘“, in: Deutschland Archiv, 22.3.2023, Link: www.bpb.de/519347